Vorverurteilung: Gemeinsamkeit von Gutmensch und Rassist

Noch immer regen sich genug „gebildete Leute“ über die vermeintliche „Dummheit“ anderer auf, was gerade in der Debatte um den ECHO über die beiden Deutschrapper zu sehen ist. Aber wie viel können denn die ungebildeten, weniger intellektuellen oder narzisstisch (anempathischen) Personen für ihre Prägung (sofern sie sich als Mangel im Sozialverhalten auswirkt)?

Ich werde (völlig ohne mein Zutun) in eine Familie hineingeboren, deren genetische Ausstattung eher reizgesteuerter als intellektueller Natur ist. Dann folgt im schlechtesten Fall eine Erziehung, die anstatt auf Aufmerksamkeit und sozialer Interaktion auf Ruhigstellung mit Süßigkeiten und Medienkonsum beruht (Fernsehen, Telespiele, YouTube …). So verkümmern mein Sozialverhalten, meine körperliche Grundausstattung (Fettleibigkeit, Diabetes, Hyperaktivität …) und meine kognitiven Fähigkeiten und Konzentrationsfähigkeit. Mit dieser Grundausstattung geht es in die Schule, wo ich durch meine soziale Herkunft und meine geringen intellektuellen und sozialen Fähigkeiten in die unterste Schublade komme. Die Wahrscheinlichkeit für eine entsprechende Karriere (Hartz IV, Beschäftigungslosigkeit, soziale und kulturelle Abschottung …) ist hoch, und das Internet bietet mit seinen (un)sozialen Medien dann einen Kanal, der unserer bisherigen Prägung entspricht: Ich kann (auch) auf anderen herumhacken und bekomme keine direkte (soziale) Resonanz.

Aus meiner Sicht trägt ein Mensch mit solche einer Biografie ähnlich viel „Schuld“ an seiner Situation wie ein Deutscher (in Deutschland geboren und von Geburt mit deutschen Papieren) mit dunkler Haut, schwarzen Haaren oder einem arabischen oder türkischen Nachnamen. Sich jetzt hinzustellen und eine ganze Bevölkerungsschicht als „dumm“ oder „verzichtbar“ zu diffamieren hilf wenig bis gar nichts und ist ähnlich unreflektiert wie offener Rassismus. An dieser Stelle könnten die Menschen, die sich für intellektuell und empathisch halten (ich habe den wenig glücklichen Namen „Gutmensch“ im Beitragstitel gewählt), mal ihre Haltung überdenken und ihr Handeln differenzieren (denn aus ihrer Sicht haben sie diese Möglichkeiten ja, oder etwa doch nicht?).

Allerdings sind die gesellschaftlichen Auswirkungen einer solchen Prägung meistens destruktiver für die Gesellschaft als eine dunkle Haut oder ein ausländisch klingender Name: offener Hass und Anfeindung, mangelndes Interesse am sozialen und ökologischen Umfeld, Aufrechterhaltung dieser Prägung durch eine ähnliche Erziehungsmethode. Ich selbst erwische mich ständig, dass ich die gesamte Menschheit als „zu dumm“ diffamiere (weil Geld und Macht über das Leben von Mensch und Tier gestellt wird), während ich das Individuum als solches eher versuche, gegen solch eine Verallgemeinerung zu schützen … wie z. B. mit diesem Beitrag.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass eine aufgeklärte und gerechte Gesellschaft beidem Einhalt gebieten würde: die vermeintliche Schuld bei den Verursachern dieser Schieflage zu suchen und zu identifizieren. Dann würde auch schnell klar, dass es an Bildung und gerechter Verteilung mangelt und dies zu einem Großteil den vergangenen Entscheidungen unserer politischen Führung zuzuschreiben ist … und den unreflektierten Wählern, die weiter diese feudalistische, neoliberale und machtgeile Elite wählen.

Die gute Nachricht: Einen Teil kann jeder in seinem sozialen Umfeld direkt beeinflussen, und auch mit Geldspenden ist einiges möglich, wenn man nicht über die zeitlichen Ressourcen verfügt. Spenden ändert allerdings eher etwas an den Symptomen (Armut, Hunger, fehlende Bildung …), nicht aber an den Ursachen. Daran kann man nur mit seiner Stimme (akustisch und auch bei der Abgabe einer Wählerstimme) und seinem Handeln etwas ändern … denn Anfeindung und Vorverurteilung sind sicher in keiner Beziehung zu anderen Menschen hilfreich. Nicht einmal zu den politischen Eliten … leider, es wäre so schön einfach. ;)

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Dirk

Jahrgang 1974, in erster Linie Teil dieser Welt und bewusst nicht fragmentiert und kategorisiert in Hamburger, Deutscher, Mann oder gar Mensch. Als selbstständiger IT-Dienstleister (Rechen-Leistung) immer an dem Inhalt und der Struktur von Informationen interessiert und leidenschaftlich gerne Spiegel für sich selbst und andere (als Vater von drei Kindern kommt dies auch familiär häufig zum Einsatz). Seit vielen Jahren überzeugter Vegetarier und trotzdem der Meinung: „Alles hat zwei Seiten, auch die Wurst hat zwei!“

3 Gedanken zu „Vorverurteilung: Gemeinsamkeit von Gutmensch und Rassist“

  1. Da ist schon was dran, denn viele Menschen werden in der Tat durch ihre Sozialisation zu denen, die sie sind.

    Allerdings gibt es doch einen entscheidenden Unterschied: Ein dunkelhäutiger Mensch wird für einen Rassisten immer minderwertig sein, der kann daran nichts ändern, sodass diese rassistische Sichtweise auf alle dunkelhäutigen Menschen zutrifft. Der so Diskriminierte kann diesem Umstand auch nicht durch sein Verhalten beikommen.

    Wer hingegen die im Artikel beschriebenen ungünstigen „Startvoraussetzungen“ hat, muss nicht zwangsläufig auch ein ungebildeter Menschenverächter werden. Die Wahrscheinlichkeit ist zwar größer, aber die Kausalität ist nicht so direkt gegeben. Es gibt viele Menschen, die sich aus einer solchen Ausgangssituation zu sehr gebildeten und/oder charakterlich feinen Menschen entwickelt haben.

    Insofern kann man da immer auch noch zumindest ein bisschen auf die Verantwortung des Individuums abstellen.

  2. Anhand eines Monitor-Berichts von letzter Woche ist mir noch ein Aspekt aufgefallen, den man bei diesem Thema berücksichtigen sollte: Diejenigen, die Rassismus schüren, sind nämlich nicht die unterprivilegierten Menschen mit schlechten Startbedingungen, sondern durchaus Leute, die ganz genau wissen, was sie machen – vor allem, wie sie eben diejenigen, die in den letzten Jahren zunehmend benachteiligt wurden, mit einfachen Sündenbockmodellen auf ihre Seite bekommen können.

    Das Resultat ist dann derartig offener Rassismus mit einer erschreckenden Nähe zum Nationalsozialismus, wie in dem oben verlinkten Beitrag gezeigt.

  3. Da kann ich beiden Kommentaren (fast) nur zustimmen: Die „bösartigen“ Menschen sind die vermeintlich intellektuellen (zumindest was Schulbildung angeht) aus Politik und Medien. Die sind hier aber nicht Gegenstand des Beitrags.

    Es ist auch möglich (wenn auch selten) trotz schlechter Startbedingungen eine gesunde Eingliederung in die Gesellschaft zu erreichen (daher auch die Klammer am Ende des ersten Absatzes). Allerdings glaube ich eben nur mit Hilfe einfühlsamer und offener Menschen, die als Vorbild oder Leitfigur angesehen werden (wo ich die Leute im sogenannten „Elfenbeinturm“ am Ende des dritten Absatzes anspreche … inklusive mir).

    Und noch ein „Fun Fact“ am Rande: Michael Jackson hatte schon einen brauchbaren Ansatz, um nicht mehr als dunkelhäutiger Mensch diskriminiert zu werden: Mit heutigen Mitteln geht das (siehe hier), aber auch nicht ohne Verlust seiner Wurzeln …

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