Das verrohte Bürgertum

Vor einigen Monaten schrieb ich ja hier auf unterströmt schon mal einen Artikel Verrohung als Prinzip, in dem ich Abnahme von Ethik und Moral in unserer Gesellschaft aufgrund des unserem Wirtschaftssystem immanenten Konkurrenz- und Aggressionsdenkens darstellte. Dieser Prozess ist leider noch lange nicht zu Ende, in der letzten Zeit mehren sich vielmehr die Anzeichen dafür, dass es eher immer noch schlimmer wird. Wo führt eine derart verrohte und entsolidarisierte Gesellschaft hin?

Akif Pirincci ist eher ein Mann fürs Grobe und teilt in seinem Buch „Deutschland von Sinnen“ ordentlich aus, ohne dabei auf Gossensprache und Fäkalfloskeln zu verzichten. Und das kommt an, der Mann hat mit seinen kruden Hetzparolen gegen alles, was ihm nicht strammdeutsch genug ist (Ausländer, Moslems, Frauen, Schwule/Lesben, Linke, Grüne …), eine ansehnliche Fangemeinde zusammenbekommen, die nun ihrerseits auch in diversen sozialen Medien ihrem Idol nacheifern und aufs Derbste Pöbeln, Hetzen und Niedermachen. Dass darunter eine zivilisierte Diskussionskultur leidet, ist leider immer wieder zu beobachten und auch nicht wirklich verwunderlich. Nun kam zusammen, was zusammengehört: Pirincci las bei der Hamburger Burschenschaft Germania, und dort fanden sich nicht nur rechte Burschenschaftler, sondern auch AfDler, ehemalige Schill-Anhänger und anderes rechtes Volk ein, wie aus einem Artikel von Publikative.org (leider nicht mehr aufrufbar) hervorgeht, in dem das Publikum treffend als „Hamburgs akademischer Pöbel“ bezeichnet wird.

Auch eine andere Meldung der Local Tribune weist in die gleiche Richtung: Hierin geht es um eine Untersuchung, die zwischen 1989 und 2012 mit Fragebögen für 3133 Jurastudierende durchgeführt wurde. Das Ergebnis ist recht ernüchternd: Befürworteten 1977 noch 11,5 % der Studenten die Todesstrafe, so waren dies 2012 bereits 31,9 Prozent der zukünftigen Anwälte, Staatsanwälte und Richter. Generell war eine deutliche Tendenz zu erkennen, dass vonseiten der Jurastudierenden heute härtere Strafen gefordert wurden als noch vor einigen Jahren.

Nun handelt es sich bei den Befragten ja nicht um Stammtischbrüder, denen gerade ein mieser BILD-Artikel quer im Magen liegt, sondern um gebildete junge Menschen aus überwiegend gutbürgerlichem Haus, also eigentlich eher eine Klientel, von der man progressives Denken erwarten würde und keine derart rückschrittlichen Ansichten. Allerdings muss man eben auch berücksichtigen, wie diese jungen Menschen mittlerweile aufwachsen, nämlich in einer Zeitgeistatmosphäre der Konkurrenz, der Aggressivität und vor allem auch der Angst: Angst vor dem eigenen sozialen Abstieg, Angst vor Fremdem, Versagensangst in einer auf Leistung getrimmten Gesellschaft. Und Angst ist eben selten ein guter Berater, wenn es um das Entwickeln von fortschrittlichen Positionen geht, Angst führt eher dazu, sich auf das zu besinnen, was einem sicher erscheint, und das ist nun mal in der Regel das, was früher irgendwie mal gut war.

In diese Atmosphäre der Angst (die sich auch darin manifestiert, dass die Zahl der Erkrankten an Depression, Burn-out usw. stetig zunimmt) platzen nun Gestalten wie Pirincci, aber auch Sarrazin oder die AfD hinein und liefern das, was jemandem, der an sich selbst zweifelt und mit sich selbst sowie seinem Leben eher unzufrieden ist, als willkommenen Anker ergreift: Sündenböcke! Anstatt seinen eigenen Anteil an der Situation, die durch Unzufriedenheit, Unsicherheit und Furcht geprägt ist, zu suchen (und sei es nur, sich mal zu überlegen, wo man eigentlich bei den letzten Wahlen sein Kreuz gemacht hat und ob das eventuell kontraproduktiv für die eigenen Interessen gewesen sein könnte), hat man nun jemanden, auf den man nicht nur herabschauen, sondern auch noch (zumindest verbal) eindreschen kann.

Also werden die Sündenbockerschaffer gefeiert, denn sie bieten einem das gute Gefühl, nicht allein mit seinen Ängsten zu sein, und ein einfaches Erklärungsmodell, warum etwas schiefläuft, das vor allem auch noch die eigene Verantwortlichkeit außen vor lässt. Von den meisten Medien werden zeitgleich die Ängste in jeglicher Form befeuert, indem alles Mögliche als Bedrohung aufgebauscht wird und schlechte Nachrichten (Verbrechen, Krieg, Unfälle, Elend, Krankheiten) über Gebühr prominent verbreitet werden. Auf der einen Seite werden also die Menschen mit viel mehr Ängsten konfrontiert, immer mehr Menschen geht es ja auch real zusehends schlechter in unserem Land, und auf der anderen Seite kommen dann die „Heilsbringer“ mit ihren einfachen Parolen, die komplexen Sachverhalten natürlich nicht gerecht werden (und die dies auch gar nicht sollen), sondern Fermdenhass, Ausländerfeindlichkeit und Rassismus als Surrogat anbieten. Das Schlimme daran: Bildung scheint hier nicht mehr wirklich gut als Gegenmittel zu funktionieren, denn schließlich ist es nicht mehr nur der schlichte und wenig gebildete Stammtischler, der sich dafür empfänglich zeigt, sondern zunehmend (wie oben gesehen) auch der Akademiker aus gutem Hause. Hier wird das Dilemma ersichtlich, dass sich durch die Dekonstruktion unseres Bildungswesens (Stichworte G8, Bachelor-/Master-Studiengänge, größere Klassen, schlechtere materielle und personelle Ausstattung der Schulen, Ökonomisierung der Universitäten) ergibt: Zwar verlassen möglichst gut verwertbare Humanressourcen die Schulen und Universitäten, allerdings fehlt es diesen an einer breiten Bildung und an der Fähigkeit zum kritischen Denken, um eben solchen Gestalten wie Pirincci nicht auf den Leim zu gehen.

Das Resultat: Jeder ist sich zunehmend selbst der Nächste, der andere wird erst mal als Konkurrent empfunden, und je fremder mir der auch noch ist, desto mehr muss ich ihn ablehnen. Solidarität mit anderen, gar Schwächeren? Fehlanzeige! Ellbogen raus und durch, koste es, was es wolle. Und je schlechter andere dastehen, desto besser ist das für mich – zumindest fühle ich mich dann besser. Empathie und Altruismus sind eh nur noch was für Gutmenschen, die ja auch bei jeder Gelegenheit ihr Fett wegbekommen, sodass man da in jedem Fall auch nicht dazugehören will. Und das ist nun keine unschöne Utopie, sondern leider bereits Realität. Dafür braucht man nur mal ein wenig in sozialen Netzwerken oder in den Kommentarspalten der Internetpräsenzen von Tageszeitungen unterwegs sein, um zu sehen, wie weit verbreitet menschenverachtendes rechtes Gedankengut mittlerweile wieder in Deutschland ist – und wie hemmungslos dies auch noch öffentlich geäußert wird.

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Karl

Jahrgang 1969, ist nach einem Lehramtsstudium und diversen beruflichen Tätigkeiten seit 2002 freiberuflicher Lektor (Auf den Punkt). Nach vielen Jahren in Hamburg, lebt er nun seit November 2019 in Rendsburg. Neben dem Interesse für politische Themen ist er ein absoluter Musikfreak und hört den ganzen Tag Tonträger. An den Wochenenden ist er bevorzugt in Norgaardholz an der Ostsee und genießt dort die Natur.

3 Gedanken zu „Das verrohte Bürgertum“

  1. Passend dazu: Im Unispiegel auf Spiegel online findet sich ein Artikel, der sich mit einer neuen Studie der Bundesregierung beschäftigt. Deren Ergebnisse: Studenten sind heute deutlich unpolitischer, materialistischer und egoistischer als noch vor knapp 20 Jahren. Zitat aus dem Artikel:

    Walter Grünzweig, Professor für amerikanische Literatur und Kultur an der Technischen Universität Dortmund und Träger des Ars-Legendi-Preises für exzellente Lehre, macht für die Entwicklungen auch die Politik verantwortlich. Der einzige Zweck, den Hochschulen seit der Bologna-Reform noch zu erfüllen hätten, sei es, „Schmalspur-Absolventen“ für den Arbeitsmarkt zu produzieren. „Wir erziehen eine unpolitische, antiintellektuelle Generation“, warnt Grünzweig, der bei den aktuellen Studenten von einer Generation „unter extremem Druck“ spricht.

  2. In seinem ausgesprochen lesenswerten Artikel Der neoliberale Charakter auf Der Freitag liefert Paul Verhaeghe eine gute Schilderung, wie das derzeitige Wirtschaftssystem die Ethik verändert. Sein Fazit:

    Permanent wird über den Verlust von Normen und Werten lamentiert. Doch unsere Normen und Werte machen einen bedeutenden Teil unserer Identität aus. Sie können also nicht verloren gehen, sie können sich lediglich ändern. Und genau das ist passiert: Eine veränderte Wirtschaftsweise spiegelt sich in veränderten ethischen Vorstellungen wider und führt zu veränderten Identitäten. Das gegenwärtige Wirtschaftssystem bringt das Schlechteste in uns zum Vorschein.

    Und diejenigen, die dieses Schlechte besonders gut verkörpern, werden dann zu Vorbildern, denen nachgeeifert wird – mit den oben geschilderten Resultaten.

  3. Gerade gibt es mit dem Fall Edathy ein gutes Beispiel, was genau hierher passt: Da kocht die Volksseele hoch, in sozialen Netzwerken wird schon zur Lynchjustiz aufgerufen, selbst Promis wie Til Schweiger beteiligen sich daran, die Einstellung des Prozesses gegen Edathy aufzubauschen und daraus Gewaltfantasien gegen den SPD-Politker abzuleiten. Zwei wohltuend sachliche Artikel zu dem Thema gibt es von Rüdiger Scheidges im Handelsblatt und von Jörg Wellbrock auf Blastingnews, doch bilden diese eher die Ausnahme, denn der Mob tobt trotzdem weiter – dabei dachte ich eigentlich, dass wir diese Zeiten schon hinter uns gelassen haben …

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