Moderne Götzen

In den letzten Jahren konnte ich feststellen, dass in Politik und Wirtschaft eine zunehmende Irrationalität um sich greift: Sachen, die augenfällig schieflaufen (zum Beispiel die den südeuropäischen Ländern aufoktroyierte Austeritätspolitik), werden weiter betrieben und als alternativlos bezeichnet – wobei es ja in einer Demokratie immer auch diskussionswürdige Alternativen geben sollte -, Politik löst sich immer mehr von Inhalten, sodass Menschen Parteien wählen, die genau gegen ihre eigenen Interessen handeln, und der Neoliberalismus ist ein unumstößliches Dogma geworden, auch wenn sein Scheitern überall zu beobachten ist (schrumpfendes Wachstum, steigende Arbeitslosenzahlen, stetig wachsende Ungleichheit, fortschreitende Zerstörung der Umwelt). Ein solches Beharren auf Standpunkten gegen jede Logik hat schon fast etwas Religiöses, und wenn man es genauer betrachtet, haben auch einige Dinge unseres Alltags quasi eine Götzenfunktion angenommen, die sie über ihre eigentliche Funktion hinaus erhöht – was einiges an Problemen schafft! Exemplarisch habe ich hierfür mal vier Bereiche etwas unter die Lupe genommen.

1. Geld

Geld ist ein praktisches Tauschmittel, da man so eine universelle Größe hat, mit der man Gegenstände und Dienstleistungen erwerben kann, die sonst nicht tauschbar wären. So weit, so gut, nur hat Geld diese reine Hilfsmittelfunktion schon lange verloren und darüber hinaus einen Eigenwert erhalten.

Bis zu einem bestimmten Grad ist die Gier nach Geld ja noch nachvollziehbar: Es ist eben angenehm, Dinge, die kaputt gehen, einfach so ersetzen zu können, ohne sich großen Einschränkungen oder schlaflosen Nächten hingeben zu müssen. Auch ist es angenehm, Dinge von guter Qualität erwerben zu können, auch um beispielsweise darauf zu achten, wie etwas produziert wurde, um so keine Umweltzerstörung oder Ausbeutung zu unterstützen. Und es gibt natürlich auch Menschen, die auf Luxus abfahren, wobei wir hier mitunter schon in groteske Sphären kommen, da dieser Luxus oft nicht mehr dem Befriedigen eines eigenen Bedürfnisses dient, sondern der Zurschaustellung des eigenen Reichtums. Das fängt an mit dem Kaufen von Kleidung einer bestimmten Marke, die zwar im Verhältnis zur Qualität gnadenlos überteuert, aber dafür auch gerade extrem angesagt ist, und endet bei Autos für mehrere 100.000 Euro. Und wenn hier nichts mehr geht und kein Geld mehr ausgegeben werden kann, dann muss eben in Finanzprodukte, Aktien, Fonds usw. investiert werden – mit dem Ziel, noch mehr Geld zu bekommen, obwohl ja schon das bereits vorhandene seiner Hilfsmittelfunktion für den Tausch zu einem Großteil längst enthoben ist, da es eben kaum noch etwas Sinnvolles zu kaufen gibt.

Diese Menschen werden dann in Listen geführt, beispielsweise von Forbes, und da wird dann bewundernd draufgeschaut, wer denn nun wie viele Milliarden besitzt und wer nun wie viel mehr als noch im vergangenen Jahr hat. Dabei sind die Zahlen nur noch abstrakte Größen, deren Höhe mit religiöser Ehrfurcht betrachtet wird. Wenn man sich mal überlegt, was eine Milliarde Euro eigentlich bedeutet, wird das schnell klar: Wenn man 50 Jahre lang jedes Jahr 20 Millionen Euro ausgibt, also 1.666.666 Euro jeden Monat, was etwa 55.555 Euro jeden Tag entspricht, dann gibt man eine Milliarde Euro aus. Das Problem eines Milliardärs sollte also vielmehr nicht sein, wie er noch mehr Geld bekommt (und das ist absurderweise in der Regel die Hauptsorge dieser Menschen), sondern wie er seine ganze Kohle überhaupt jemals ausgeben will.

Auch wenn nur die wenigsten sich in solchen Sphären aufhalten, so schlägt diese Denkweise doch in alle Gesellschaftsschichten durch. Man braucht dafür nur in die Werbung zu schauen: Der Preis ist hier zumeist das entscheidende Kriterium und schlägt andere Produkteigenschaften wie Qualität und Nachhaltigkeit immer noch um Längen. Auch wird die Mystifizierung des Geldes wie selbstverständlich übernommen: Über Geld spricht man nicht, so eine Redewendung, die allerdings auch wie selbstverständlich angewendet wird, genauso wie: Beim Geld hört die Freundschaft auf. Ich persönlich finde ja, dass eine richtige gute Freundschaft bestimmt nicht durch Geld aufgewogen werden kann. Und auch das Ansehen von Personen oder Dingen wird an ihrem Geldwert festgemacht: Wer viel Geld hat, muss auch ein toller Hecht sein, selbst wenn er dieses nur geerbt und nie was in seinem Leben geleistet hat (so zum Beispiel der ehemalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, der ja nach wie vor eine große Fangemeinde besitzt, die allerdings nie etwas über seine Leistungen aussagen kann, sondern sich nur auf inhaltsleere Allgemeinplätze wie „Der hat wenigstens Format“ oder „Der ist ein guter Typ“ beruft), Leistungen, für die nichts bezahlt wird, können auch nichts wert sein, genauso wie Dinge, die umsonst sind (als Blogger erlebt man das ständig, dass die eigenen unentgeltlich erbrachten Recherchen weniger geschätzt werden als ein schnell hingeklatschter Artikel in einem Hochglanzleitmedium). Auch das oft standardisiert angewandte Totschlagargument „Du bist ja nur neidisch“ (hierzu verfasste ich schon mal einen Artikel hier auf unterströmt) zielt in diese Richtung, weil der Neid ja nun mal sehr stark materiell und damit monetär geprägt ist. Die negative Seite dessen, dass Geld nämlich durchaus den Charakter verdirbt (siehe diesen unterströmt-Artikel zu dem Thema), bleibt dabei leider meistens auf der Strecke …

Insofern ist es ausgesprochen sinnvoll, Geld als das zu sehen, was es ist: ein Hilfsmittel. In der Praxis stellt man allerdings auch recht schnell fest, wie man an Grenzen stößt, wenn man diesen Götzen derart zu entmystifizieren versucht.

2. Die Märkte

„Die Märkte müssen beruhigt werden!“ „Das Vertrauen der Märkte muss wiedergewonnen werden!“ Solche und ähnliche Sätze hört man immer wieder von Politikern und sogenannten Wirtschaftsexperten, zumal seit der Finanzkrise von 2008. Ehrfurcht, Angst und Demut schwingen in diesen Aussagen mit, und man könnte sich wirklich vorstellen, dass vor irgendwelchen Opfergaben in archaischen Kulturen etwas in dieser Richtung gesagt wurde, nur dann eben bezogen auf den Gott, dem gerade geopfert werden soll.

Stellt sich die Frage, wer oder was denn da diese Märkte überhaupt sind. Mit dem alle bekannten Marktplatz, auf dem Waren angeboten werden, hat das nämlich nur noch wenig zu tun, sondern vielmehr ist hiermit die Finanzindustrie gemeint bzw. deren Tummelplatz. Immer kompliziertere Finanzprodukte werden sich ausgedacht, es wird gewettet und gegengewettet auf Teufel komm raus, und der Hochfrequenzhandel, bei dem es darum geht, den schnellsten Rechner an der schnellsten Leitung zu haben, um sich in Geschäfte anderer reinhängen zu können und so einen Gewinn abzustauben, bildet dann noch die Spitze dieses grotesken Spielcasinos.

Das Problem dabei: Das Geld, was dort an Gewinnen durch ein paar Mouseclicks eingestrichen wird, muss irgendwie und von irgendjemandem erarbeitet werden, und auf diese Weise schlägt dann die Casinowelt auf die reale Wirtschaft durch, indem dieser Geld entzogen wird und Menschen nicht nur für ihr eigenes Einkommen, sondern eben auch für die Kapriolen der Finanzindustrie arbeiten. Nüchtern betrachtet, ist das ein ziemlich absurder Mechanismus, der sich keiner allzu großen Zustimmung erfreuen dürfte, also muss hier ein Popanz aufgebaut werden, der das Ganze verschleiert: „die Märkte“!

Und so haben wir auch hier eine Umkehrung der Funktion einer Sache: Märkte waren früher mal Plätze, die den Menschen zum Austausch von Waren dienten, Banken waren früher mal Dienstleister, die das Geld von Menschen und Betrieben verwalteten und diesen bei Bedarf Kredite zur Verfügung stellten. Mittlerweile dient die gesamte Realwirtschaft der Finanzindustrie, also „den Märkten“, und dies wird auch gar nicht mehr infrage gestellt. Am deutlichsten wurde dies bei der Bankenrettung nach dem Finanzcrash von 2008, als augenblicklich weltweit Hunderte von Milliarden an Steuergeldern, also Gelder der Allgemeinheit, ausgegeben wurden, um Finanzkonzerne, die sich verspekuliert hatten, vor dem Bankrott zu bewahren. Und wie selbstverständlich müssen die Haushaltsdefizite, die dadurch bei vielen Staaten extrem anstiegen, dann von der realen Wirtschaft und den Menschen in diesen Staaten ausgeglichen werden. Das Ganze funktioniert natürlich nur durch eine Überhöhung die oben schon angesprochene Verschleierung durch den ominösen Begriff „die Märkte“, der ja zumindest ein bisschen so klingt, als hätte der mit uns allen was zu tun.

Wer sich ein bisschen weitergehend über die Macht, die der Götze „die Märkte“ mittlerweile über die Politik hat, informieren möchte, dem sei an dieser Stelle noch einmal die 43-minütige ARD-Dokumentation Geld regiert die Welt – Die Macht der Finanzkonzerne empfohlen.

3. Technologie

Technologische Entwicklungen waren eigentlich meistens eine tolle Sache, da sie das Leben der meisten Menschen verbesserten oder erleichterten. Wer beispielsweise in ferner Vorzeit einen Pflug zur Verfügung hatte, der konnte sein Feld schneller bestellen, als nur mit der Hacke, und hatte so mehr Zeit für andere Dinge, zudem war die Arbeit nicht so beschwerlich. So konnte die Produktivität von Beginn der Industrialisierung an zunehmend gesteigert werden, und gleichzeitig verbesserten sich die Arbeitsbedingungen und der Wohlstand der arbeitenden Bevölkerung. Technologie war also ein angenehmes und effektives Hilfsmittel.

Seit 30, 40 Jahren sieht das nun anders aus: Der neoliberale Marktradikalismus, der in dieser Zeit zur dominanten Ideologie der meisten Industriestaaten wurde, bewirkte auch hier eine Umkehr der Sichtweise, da technologische Entwicklung mittlerweile in erster Linie zur Gewinnmaximierung einiger weniger genutzt wird und sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen der meisten Arbeitnehmer zusehends verschlechtern: Von der 35-Stunden-Woche, die in den 80er-Jahren noch ein Thema war (und teilweise auch schon umgesetzt wurde) sind wir weit entfernt, Weihnachts- und Urlaubsgeld wurde in viele Betrieben gestrichen, befristete Arbeitsverträge sowie Zeit- und Leiharbeit sind Massenphänomene geworden, immer mehr Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze und die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Technologische Entwicklung dient also nicht mehr einem Großteil der Menschen, sondern hat sich quasi verselbstständigt.

Trotzdem wird Technologie als eine Art Allheilmittel angesehen, und hier offenbart sich dann auch deren Götzencharakter: Gerade neulich durfte ich in einer Facebook-Diskussion erleben, wie von jemandem fabuliert wurde, was demnächst alles automatisiert ablaufen könnte, sodass man dafür keine Menschen mehr braucht. Das wäre ja auch alles gut und schön, wenn diese Entwicklung denn mit entsprechenden gesellschaftlichen Veränderungen einherginge. Diese werden allerdings nicht mitgedacht, sondern die Bevölkerungsteile, die so ihre Arbeit verlieren würden, werden von den herrschenden Eliten nur als überflüssig angesehen, als Gruppe, die höchstens noch als Konsumenten von Billigwaren interessant sein könnte. Die Ansprüche der Menschen werden auf diese Weise also der Technologie untergeordnet, technologische Entwicklungen werden forciert, ohne dass infrage gestellt wird, ob diese denn überhaupt gesellschaftskonform sind und der Allgemeinheit tatsächlich einen Nutzen bringen.

Als Resultat haben wir Technologie, die viele Menschen überfordert, die selbst nicht genutzt wird, sondern das Nutzerverhalten bestimmt (Smartphones und Fernsehen als Beispiele), und die Menschen schlichtweg überflüssig macht. Würde die Technologie dem Menschen dienen und nicht der Mensch dem Götzen Technologie, dann hätten wir heute Vollbeschäftigung bei deutlich geringen Arbeitszeiten (mit vollem Lohnausgleich), da so die technologisch bedingte Produktivitätssteigerung dann tatsächlich den  arbeitenden Menschen zugutekäme. Da dies allerdings von den sogenannten Eliten nicht gewünscht ist (denn es würde ja ihre Gewinne schmälern), wird Technologie als Selbstzweck deklariert, bei dem zuweilen noch ein paar Bröckchen abfallen, die dann kultische Verehrung erfahren bei der breiten Masse („Das neue iPhone ist da!“).

4. Kultur

Auch im kulturellen Bereich haben wir es mittlerweile mit einer götzengleichen Verehrung zu tun, die abgekoppelt ist von der eigentlichen Bedeutung von Kultur. Das eklatanteste Beispiel dafür sind Castingshows, in denen Teilnehmer von Beginn an als „Superstars“ o. Ä. tituliert werden – ohne überhaupt irgendeine herausragende Leistung erbracht zu haben.

Der „normale“ Weg hin zum Star ist ja eigentlich genau andersrum: Jemand erbringt eine außerordentliche Leistung, und das auch über einen längeren Zeitraum hinweg, sodass seine Anhängerschaft stetig größer wird und schließlich die Bezeichnung „Star“ angemessen erscheint, um dies zu würdigen. Heutzutage erleben wir eine inflationäre Vergabe dieser Bezeichnung, die dann ja auch mit einer entsprechenden Verehrung einhergeht. Diese Stars werden eben nicht mehr von den Menschen als solche erkoren, sondern ihnen quasi „von oben“ präsentiert (und meistens genauso schnell wieder fallen gelassen, wie sie aufgebaut wurden). Es geht also bei Castingshows gar nicht mehr um die Musik, sondern nur noch um die Person, die dann verehrt werden soll, wenn sie sich als guter Reproduzent vorgegebener Hits erweist und ein entsprechendes Image vertritt. Klar, Götzen brauchen ja auch eher ein Gesicht bzw. eine Gestalt und keine nachweisbaren Eigenschaften, die sich in der Realität auswirken.

Auch die sogenannten It-Girls sind ein Beispiel für diese personifizierte Götzenkultur, denn diese haben häufig überhaupt nichts an besonderer Leistung vorzuweisen und werden trotzdem verehrt (als krasses Beispiel Paris Hilton, die trotz abstoßender Charakterzüge eben sehr reich geboren wurde und insofern Glamour repräsentiert, der für viele Menschen anziehend wirkt). Immer wieder versuchen sich solche Gestalten dann ja auch an kultureller Produktion, sei es als Schauspielerin oder als Sängerin, wobei das Resultat in der Regel ausgesprochen dürftig ausfällt – was aber dem Personenkult oft noch nicht einmal abträglich ist.

 

Wie man an diesen vier Beispielen sehen kann, wird die Rationalität zunehmend aus dem Alltagsleben der Menschen verdrängt, was ja aber auch ein zentraler Aspekt von Religion ist: Bete etwas an, Du musst auch gar nicht verstehen, warum das so ist! Dies steht natürlich dem Bild des aufgeklärten-mündigen Bürgers komplett entgegen, der Dinge, Ideen und Kultur eigentlich nutzen sollte, um sich sein eigenes Leben selbstbestimmt angenehmer zu gestalten. Blöderweise wird dieser mündige Bürger immer noch vonseiten der neoliberalen Agitatoren als gegeben postuliert, wenn es darum geht, dass die Menschen geschützt werden müssen, beispielsweise vor irreführender Werbung, falschen Produktangaben oder ungesunden Nahrungsmitteln. Doch wer es gewohnt ist, ständig Götzen zu verehren, dem muss man nur Dinge mit einer götzenhaften Aura präsentieren, und schon wird auch das kritische und logische Denken eingestellt. Und das ist schließlich genau das, was den herrschenden Eliten vortrefflich nutzt.

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Karl

Jahrgang 1969, ist nach einem Lehramtsstudium und diversen beruflichen Tätigkeiten seit 2002 freiberuflicher Lektor (Auf den Punkt). Nach vielen Jahren in Hamburg, lebt er nun seit November 2019 in Rendsburg. Neben dem Interesse für politische Themen ist er ein absoluter Musikfreak und hört den ganzen Tag Tonträger. An den Wochenenden ist er bevorzugt in Norgaardholz an der Ostsee und genießt dort die Natur.

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