Deutschland geht’s gut!

So lautet zumindest der Tenor, der uns immer wieder und überall um die Ohren gehauen wird und sich mittlerweile in den Köpfen der Menschen verfestigt hat. Klar, im Vergleich zu den armen Teufeln, die beispielsweise aus Syrien flüchten und dabei Kopf und Kragen riskieren, um übers Mittelmeer nach Europa zu kommen, geht es uns in Deutschland natürlich ausgesprochen gut, und auch im Vergleich mit anderen industrialisierten Ländern sieht es hier noch recht manierlich aus, was den Lebensstandard und die soziale Absicherung betrifft, aber sind solche Vergleiche nicht eher Augenwischerei, um tatsächliche Mängel und Risse im deutschen Wohlstand zu kaschieren? Mir fallen zumindest genügend Aspekte ein, die hier zurzeit überhaupt nicht gut laufen und aufgrund derer es vielen Menschen in unserem Land zunehmend schlechter geht, und die Betrachtung der eigenen Entwicklung sollte doch Priorität haben vor dem beschwichtigenden Herabschauen auf die, denen es schlechter geht.

Immer mehr Menschen (zurzeit 12,5 Mio., s. dazu hierhier, hier und hier) in Deutschland gelten als arm, was bedeutet, dass sie von einem Einkommen, was weniger als 60 % des Durchschnittseinkommens beträgt, leben müssen. Die Tafeln boomen, da viele Menschen sich keine regelmäßigen warmen Mahlzeiten mehr leisten können, immer mehr Kinder wachsen in Armut auf, was sich wiederum schlecht auf ihre Bildungschancen auswirkt. Auch die Gesundheit leidet unter der Armut, die Teilhabe am sozialen Leben sowieso (s. dazu hier, hier und hier), und auch Stromsperren sind mittlerweile ein viel zu häufiges Phänomen (s. dazu hier und hier) . Es gibt circa 6,8 Millionen Menschen in Deutschland, die Transferleistungen empfangen, teilweise sogar, obwohl sie in Vollzeit arbeiten, dazu kommen noch geschätzte 3,1 bis 4,9 Millionen Menschen, die zwar einen Anspruch auf Transferleistungen hätten, diesen aber aus Scham oder Unwissenheit nicht wahrnehmen würden (s. dazu hier). Der Mindestlohn soll hier zwar ein wenig Abhilfe schaffen, allerdings wurde er auch schon mit etlichen Schlupflöchern und Ausnahmen konstruiert (Zeitungszusteller, Minderjährige und Langzeitarbeitslose sind beispielsweise davon ausgenommen). Und notfalls lässt man den 8,50-Euro-Stundenlohn-Empfänger dann halt zwei Stunden mehr am Tag arbeiten – natürlich unbezahlt! Wenn ihm das nicht passen sollte, kann er ja gehen und sich einen neuen Job suchen – dann vielleicht sogar als Leih-/Zeitarbeiter, mit einem Werkvertrag oder nur noch in Teilzeit, was nicht gerade eine bessere finanzielle Situation verspricht. Armut und die damit verbundenen Unsicherheiten und krank machenden Lebensumstände sind also keine Randerscheinung, sondern ein Massenphänomen in Deutschland geworden, das dank Agenda 2010 immerhin den größten Niedriglohnsektor der Eurozone vorweisen kann (s. dazu hier).

Dabei hat die Altersarmut (s. dazu hier und hier) noch nicht mal die Dimensionen angenommen, die in den nächsten Jahrzehnten zu erwarten sind, da das Niveau der gesetzlichen Rente deutlich abgesenkt wird (Absenkung des Prozentsatzes vom letzten Lohn, Erhöhung der Abgabenzahlungen auf die Rente, späteres Renteneintrittsalter). Diese Entscheidungen fielen im Zuge der Privatisierung der Altersabsicherung, die Teil des Agenda-2010-Konzepts von Rot-Grün war (und die auch Gerhard Schröders Intimus Carsten Maschmeyer bzw. dessen AWD einen ordentlichen Batzen Geld eingebracht haben). Als Ausgleich hierfür war die private Altersvorsorge gedacht, beispielsweise die nach ihrem „Erfinder“ benannte Riester-Rente (s. dazu hier und hier). Das Problem dabei ist nur, dass die Privatrente die in sie gesetzten Hoffnungen nicht ansatzweise erfüllen kann (wovor umsichtige Kritiker schon bei deren Einführung gewarnt hatten): Zu viel Geld bleibt bei den Versicherungen hängen für Provision und Verwaltung, zudem sind die derzeitigen niedrigen Zinsen ein Problem für die kapitalgedeckte Altersvorsorge, da eben die Anlagen nicht mehr die Renditen abwerfen, mit denen noch vor zehn Jahren gerechnet wurde (s. dazu hier). Hinzu kommt außerdem eine große Unsicherheit: Wenn es wieder einen Finanzcrash wie im Jahr 2008 gibt (und davon ist ja beim unveränderten Spekulationsverhalten der Finanzindustrie schon zu rechnen), wer weiß, welcher Anbieter von Privatrente danach überhaupt noch existiert? Wer also heute circa 2500 Euro brutto verdient (und das ist ja nun nicht ganz wenig, da gibt es etliche Berufe, in denen es deutlich weniger gibt), der kann sich schon mal darauf einstellen, als Rentner nicht mehr als den Hartz-IV-Regelsatz zu bekommen – es sei denn, er schafft es noch, sich von seinem Gehalt irgendeine private nennenswerte Vorsorge abzuzwacken. Tolle Aussichten …

Doch nicht nur für die Rentner, Niedriglöhner, Leiharbeiter (s. dazu hier), Zeitarbeiter, Minijobber (oft noch neben dem regulären Arbeitsplatz als Zweiteinkommen, s. dazu hier), Scheinselbstständige, Arbeitslose (s. dazu hier und hier) und Hartz-IV-Empfänger (s. dazu hier; zum sogenannten versteckten Hunger bei vielen Hartz-IV-Empfängern s. hier und hier) und natürlich auch deren Familien (s. dazu hier) sieht das Leben alles andere als gut aus. Immer mehr Menschen in regulären Beschäftigungsverhältnissen klagen über zunehmende Arbeitsverdichtung, steigenden Druck und zunehmende vor allem psychische Erkrankungen aufgrund von Stress (Burn-out und Depression beispielsweise) (s. dazu hier, hier). Stagnierende Löhne, gerade im unteren Einkommensbereich, seit den 90er-Jahren bieten zudem für viele Arbeitnehmer keinen hinreichenden finanziellen Ausgleich für die Mehrbelastungen (s. dazu hier, hier und hier). Hinzu kommt die Unsicherheit, den Arbeitsplatz zu verlieren, sollte der eigene Arbeitgeber beispielsweise gegen globale größere Konkurrenz nicht bestehen können oder seine Jobs aus Kostengründen ins Ausland verlagern. Gerade ältere Arbeitnehmer haben kaum noch Chancen, einen neuen Job zu finden, und dann droht sehr schnell Hartz IV, was nicht nur zu sehr niedrigem Einkommen führt, sondern auch bedeutet, dass alle bisherigen Ersparnisse (beispielsweise fürs Alter oder für die Ausbildung der Kinder) zunächst mal aufgebraucht werden müssen (s. dazu hier und hier). Von dem oftmals menschenunwürdigen Umgang vonseiten der Behörden mit den Hartz-IV-Empfängern (s. dazu hier) mal ganz zu schweigen …

Verschärfend kommt in so einer Situation, in der breite Teile der Bevölkerung immer weniger Geld zur Verfügung haben, hinzu, dass gerade in größeren Städten die Mieten in den letzten Jahren teilweise explosionsartig gestiegen sind. Und das sind ja nun keine Kosten, an denen man mal eben so sparen kann, denn wohnen muss man ja schließlich irgendwie, und der Wunsch, nicht in einem engen Loch im heruntergekommensten Quartier der Stadt leben zu müssen, ist ja nun auch nichts besonders Ansprüchiges, finde ich. Die Folgen: Die Zahl der Obdachlosen in Deutschland steigt und immer mehr Menschen leben in zu beengten Wohnverhältnissen (s. dazu hier). Und die steigenden Mieten sind hier in mehrerlei Hinsicht eine Art Brandbeschleuniger: Zum einen wird das Geld von denen, die mieten müssen und daher in der Regel nicht zu den Vermögenden gehören, nun stärker zu denen, die vermögend sind, Immobilienbesitz haben und daher auch Wohnraum vermieten können, umverteilt, zum anderen bleibt so für diese Menschen nun auch weniger Geld über, das sie für andere Konsumgüter ausgeben können, was sich wiederum negativ auf den Binnenkonsum auswirkt und den Einzelhandel belastet (s. dazu hier). Vermögende Menschen geben nämlich weit weniger von ihrem Geld tatsächlich für Konsumgüter aus, sondern investieren dies zunehmend in Finanzprodukten, sodass es aus der realen Wirtschaft abgezogen wird.

Und damit sind wir auch schon bei einem weiteren Indikator, warum es Deutschland – oder vielmehr einem Großteil der dort lebenden Menschen – alles andere als gut geht: Die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen nimmt stetig zu, immer weniger Menschen besitzen einen immer größeren Anteil des Vermögens (s. dazu hier, hier, hier und hier). Das schwächt, wie eben geschildert, nicht nur die Binnenwirtschaft (s. dazu hier), sondern führt auch zu sozialen Verwerfungen und zu Unzufriedenheit, vor allem, da die Produktivität der deutschen Wirtschaft nach wie vor von Jahr zu Jahr steigt – nur kommt der Produktivitätszuwachs nicht bei denen an, die ihn auch tatsächlich erwirtschaften. Da aufgrund der schwachen Binnennachfrage Investitionen in Betriebe, Produktionsstätten und Ähnliches, die also wieder Arbeit und damit zusätzliche Einkommen schaffen würden, nicht so hohe Renditen versprechen wie internationale Finanzprodukte (und wenn es damit schiefgeht, dann kommt ja der Staat und hilft großzügig mit Steuergeldern aus), der Staat hingegen als Investor aufgrund der sogenannten Schuldenbremse immer häufiger ausfallen wird, sind durch die zunehmende Vermögensakkumulation in den Händen einiger weniger (s. dazu hier) auch kaum die Wirtschaft belebende Impulse zu erwarten (s. dazu hier). Die zunehmende Ungleichheit wird die beschriebene Entwicklung der Verarmung immer größerer Teile der deutschen Bevölkerung also noch weiter beschleunigen.

Nun sind es nicht nur monetäre Gesichtspunkte, sondern, wie oben bei der Beschreibung der abnehmenden Qualität vieler Arbeitsplätze schon angedeutet, auch andere Aspekte der Lebensqualität, die zunehmend abnehmen und die Aussage, dass es Deutschland ja so gut gehe, konterkarieren. Hier sei das Bildungswesen genannt: Immer mehr Schüler klagen, vor allem aufgrund der G8-Verkürzung, über Leistungsverdichtung und dass sie kaum noch Zeit hätten für Freizeitaktivitäten neben der Schule. PISA und Bologna sei Dank, geht zudem die Schulausbildung immer weniger in Richtung, dass kritisch und weltoffen denkende junge Menschen herangebildet werden sollen, sondern vielmehr wirtschaftlich gut verwertbare Humanressourcen. Besonders deutlich wird dies dann bei den mittlerweile überwiegend verschulten Bachelor- und Master-Studiengängen, die keine Kapazitäten mehr lassen für ein freies und interessengeleitetes Studieren, sondern nur noch bestimmte zielführende Inhalte vermitteln.

Unter Berücksichtigung des Geschilderten davon zu sprechen, dass es Deutschland gut ginge, ist entweder mit grenzenloser Unwissenheit oder bodenlosem Zynismus zu erklären. Da ich Ersteres bei Merkel und Co. ausschließe und Letzteres nicht als alleinige Motivation annehme, kann man wohl davon ausgehen, dass hier dem Volk ganz bewusst Sand in die Augen gestreut werden soll. Dafür ist es natürlich auch wichtig, immer wieder auf andere verweisen zu können, denen es nicht so gut geht wie uns, und dabei die national-indentitäre Karte auszuspielen: „Wir Deutschen sind halt fleißig, darum geht’s uns gut, und alle anderen wollen uns was wegnehmen.“ Die Resultate daraus sind dann nicht nur zunehmend mangelnde Empathie, sondern auch PEGIDA und Co. Eine nüchterne Betrachtung, wem es denn bei uns im Land überhaupt gut und wem nicht gut geht, führt dann eher zu der Erkenntnis, dass der deutsche Niedriglöhner, Rentner oder Arbeitslose doch eher etwas mit den verarmten Bevölkerungsgruppen anderer Länder gemeinsam hat als mit der sogenannten „Elite“ im eigenen Land. Aber diese Erkenntnis soll natürlich tunlichst vermieden werden …

Eine kurze Anmerkung noch zum Schluss: Ich habe mich hier nun auf inländische und vor allem wirtschaftliche Aspekte bezogen. Wenn man darüber hinaus noch die enormen globalen Probleme mitberücksichtigt, wie den Klimawandel oder die zunehmende Kriegsgefahr, dann wird es noch absurder, ernsthaft zu sagen, es wäre doch alles klasse im Land. Ist ja nicht so, dass solche Dinge an Ländergrenzen haltmachen würden, auch wenn wir zurzeit noch nicht unmittelbar in so starkem Maße wie die Menschen in anderen Ländern davon betroffen sind. Aber irgendwann müssen Komplexität und Umfang eines Blog-Artikels eben auch mal beschränkt werden.

 

 

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Karl

Jahrgang 1969, ist nach einem Lehramtsstudium und diversen beruflichen Tätigkeiten seit 2002 freiberuflicher Lektor (Auf den Punkt). Nach vielen Jahren in Hamburg, lebt er nun seit November 2019 in Rendsburg. Neben dem Interesse für politische Themen ist er ein absoluter Musikfreak und hört den ganzen Tag Tonträger. An den Wochenenden ist er bevorzugt in Norgaardholz an der Ostsee und genießt dort die Natur.

3 Gedanken zu „Deutschland geht’s gut!“

  1. Vielleicht ist es gar nicht mal so schlecht, dass es einem immer größer werdenden Teil der Bevölkerung nicht gut geht. Denn dieses „Gutgehen“ fußt von jeher auf Raubbau. Dafür, dass es den westlichen Industriestaaten so gut geht, geht es nicht nur dem Rest der Menschheit weniger bis überhaupt nicht gut, sondern der Welt, der Erde als Ganzes. Der Raubbau wird ja ebenso an den Ressoucen der Erde betrieben!

    Das kapitalistische System muss ja wegen seiner heiligen Kuh – Wachstum – Gewinn erwirtschaften, und Gewinn kann nur generiert werden, wenn die andere Seite Verlust erleidet. Da die Gewinne aus dem Rest der Welt langsam magerer werden, wird der Raubbau im eigenen Land intensiviert – da werden dann eben Fracking und das Auskratzen der allerletzen Kohleflötze angeleiert, und aus der Bevölkerung wird das letzte Quäntchen Arbeitskraft für immer geringeren Lohn herausgequetscht.

    Das, was in den sogenannten Entwicklungsländern Alltag ist – Armut, Hunger, Elend -, kehrt auch bei den Verursachern wieder ein, wird vor der eigenen Haustür sichbar. Hoffentlich wird dies rechtzeitig die Wohlstandshypnose aufheben, die mit „Deutschland geht es gut“ aufrechterhalten werden soll. Vielleicht begreifen wir dann auch, dass es uns nicht wieder besser gehen wird, wenn einfach die Kaufkraft wieder angekurbelt wird (also u. a. mehr Lohn), weil damit nur der Raubbau anderswo intensiviert werden muss (sofern dies noch möglich ist). Es wird erst wirklich besser, wenn wir uns von diesen Wahnideen Gewinn, Wachstum, Wettbewerb, Konsum usw. lösen!

    Von daher wäre die Idee der Allmende bzw. des Gemeinwohls schon mal ein Schritt in die richtige Richtung. (Zum Stichwort „Gemeinwohl“ gab es auf Unterstromt schon Hinweise – einfach mal in die Suche eingeben.) Entweder es geht allen gut (Mensch und Erde) oder keinem. Anders geht es, logischerweise, nicht!

  2. Es ist so schön mit Statistiken: Schieße ich einmal rechts und einmal links am Hasen vorbei, dann ist er statistisch tot. Es geht Deutschland besser denn je, zumindest den oberen 3 %. Da findet sich doch aktuell gerade ein kurzer Beitrag von extra3, der dieses „religiöse“ Phänomen beleuchtet. Außerdem: Wenn die Erde erst einmal durchgerockert ist, dann können die Superreichen auf den Mars umsiedeln, und das Proletariat bleibt hier zum Schuften. Ja, uns geht es besser denn je …

  3. Von Max Uthoff kann man sich auf YouTube einen neunminütigen Beitrag anhören, in dem er sich mit Hartz-IV-Empfängern auseinandersetzt und beschreibt, wie es die sogenannten Eliten geschafft haben, diese Bevölkerungsgruppe als Feindbild für die Mittelschicht aufzubauen. Klare Worte, die man wieder mal nur in einem kabarettistisch-satirischen Zusammenhang so zu hören bekommt.

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