Zeitgeistphänomen Rücksichtslosigkeit

Klar, Rücksichtslosigkeit gab es irgendwie schon immer, aber mir kommt es zumindest so vor, dass rücksichtsloses Verhalten in den letzten Jahren doch deutlich zugenommen hat, und das im Kleinen wie im Großen. Und das passt ja auch sehr gut zu unserem auf Konkurrenzdenken und Wettbewerb gepolten Zeitgeist.

Ein kleines, alltägliches Phänomen, dessen Auftreten ich in den letzten Jahren zunehmend beobachte und das ich recht bezeichnend finde: Ein Gruppe von Personen geht auf einem Bürgersteig, allerdings so, dass die gesamte Breite des Weges in Anspruch genommen wird und jemand, der schneller gehen möchte, nicht mehr ohne Weiteres vorbeikommt. Im wahrsten Sinne des Wortes fehlt hier die Rück-Sicht, also der Blick nach hinten. Warum Gruppen von Personen derart nebeneinander gehen müssen und nicht einfach in Zweierreihen hintereinander, erschließt sich mir nicht, in jedem Fall fehlt aber dann der Gedanke, dass dieses Verhalten andere Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit schon einschränken kann.

Noch drastischer kann man dies beobachten bei den in unserem Stadtteil Hamburg-St. Pauli beliebten Stadtteilführungen von unterschiedlichsten Anbietern. Allen gemein ist allerdings, dass in der Regel die Gruppen, die gern mal aus 20 bis 40 Leuten bestehen, sich ohne jede Rücksicht bewegen: Einer geht vorweg, der Rest läuft hinterher, egal, ob man sich dann bei Rot mitten auf der Straße befindet und so Autos am Weiterfahren hindert oder ob man in einer großen Gruppe eine Stelle auf dem Bürgersteig komplett für sich beansprucht, sodass niemand mehr vorbeikommt. Gerade Rollstuhlfahrer oder Eltern mit Kinderwagen sind dann aufgeschmissen und dürfen dann entweder warten oder aber müssen über die Straße ausweichen.

Und so finden sich noch zahlreiche andere Beispiele im ganz normalen Straßenverkehr: Fußgänger, die mitten auf dem Radweg laufen, anstatt den Fußweg daneben zu benutzen, Passanten, die mitten in Türen, am Ende von Rolltreppen oder in verengten Passagen stehen bleiben, Radfahrer, die in Fußgängergruppen reinfahren ohne Rücksicht auf Verluste, gern auch im Dunkeln ohne Licht, Autofahrer, die bei stockendem Verkehr mitten auf eine Kreuzung fahren, damit diese dann auch schön für den Querverkehr blockiert ist, oder sich beharrlich weigern, mal den Blinker zu benutzen – alles nichts Neues, wie einleitend schon gesagt, allerdings habe ich zuweilen den Eindruck, dass derartiges Verhalten schon eher die Regel als die Ausnahme ist, und diese Quantität nimmt in den letzten Jahren eben stetig zu.

Eine andere Art der Rücksichtslosigkeit kann ich im öffentlichen Raum bei kulturellen Veranstaltungen beobachten, zum Beispiel im Kino oder bei Konzerten: Es wird geredet ohne Unterlass, auch wenn dies alle anderen Zuschauer und Zuhörer deutlich beim Kulturgenuss stört. Ich bin damit groß geworden, dass es im Kino hieß: Werbung vorbei – Film ab – Klappe zu. Mittlerweile wird sich einfach während des Films über alles Mögliche unterhalten, und das in einem Maße, dass es mir den Besuch von Kinos komplett verleidet hat, da ich doch ein wenig Wert auf gutes Sprachverständnis des Leinwandgeschehens lege. Auch bei Konzerten passiert es immer öfter, dass im Publikum nonstop geredet wird. Das ist nicht nur extrem unhöflich dem Künstler gegenüber, der dann bei ruhigen Passagen gegen einen Sabbelpegel anspielen darf, sondern nimmt auch wenig Rücksicht auf andere Konzertbesucher, die vielleicht lieber die Musik hören möchten und nicht so daran interessiert sind, wo Claudia gestern shoppen war oder wie Phillips Fußballmannschaft am Wochenende gespielt hat. Nicht nur hierbei gibt es übrigens Überschneidungen mit dem Zeitgeistphänomen der Angeberei, das in der Regel eben auch nicht von besondere Rücksichtnahme geprägt ist.

Auch die Angewohnheit von immer mehr Menschen, ihren Müll einfach in die Gegend zu schmeißen, muss man hier unter dem Phänomen Rücksichtslosigkeit mit aufführen. Da können Mülleimer nur ein paar Meter weiter stehen, das Eispapier, die Burger-Verpackung oder die leere Cola-Dose wird einfach dort fallen gelassen, wo man steht, wenn sie nicht mehr benötigt werden. Besonders drastisch kann man das beobachten im Sommer an schönen Plätzen, wo sich Menschen zum Grillen treffen (hier in Hamburg zum Beispiel am Elbstrand, im Stadtpark oder im Schanzenpark): Irgendwann sind die Sand- und Grünflächen mit Abfällen übersät, sodass man schon kaum noch einen sauberen Platz findet, wenn man sich dort hinsetzen möchte.

Und dann kommt noch eine Sache mit eher technische Ursachen hinzu: die hemmungslose Benutzung von Smartphones, auch wenn dies gerade nicht angebracht wäre, wie beispielsweise in Kinos während des Films (es wurde mir glaubhaft mehrfach berichtet, dass dies nicht unüblich sei), beim Autofahren (müssen Fußgänger halt aufpassen, wenn dann eine rote Ampel nicht gesehen wird vom Fahrer – ist mir selbst schon mehrfach passiert) oder beim gemeinsamen Essen im Restaurant. Die Grenzen zwischen Unhöflichkeit und Rücksichtslosigkeit sind hier fließend …

Es geht allerdings mit der Rücksichtslosigkeit noch über dieses unmittelbare Verhalten hinaus, und zwar beim Konsum:
Fleisch von geschundenen Tieren? Egal, Hauptsache billig!
Amazon zahlt keine Steuern und behandelt seine Mitarbeiter schlecht? Egal, ist ja so bequem und einfach!
Ein SUV schluckt Sprit wie nichts Gutes? Egal, ich sehe dann aber so schön, wenn ich hoch sitze!
Fairtrade-Produkte kaufen? Och nö, die sind so teuer, ist doch egal, wie diejenigen behandelt werden, die das herstellen!
Nestlé-Produkte meiden, weil das ein richtig fieser Konzern ist? Egal, ich will aber meinen Schokoriegel und bin zu faul, um nach Alternativen zu suchen!

Anhand von diesen Beispielen beim Konsumverhalten und auch den zuvor geschilderten Verhaltensweise sieht man, was das Grundprinzip der Rücksichtslosigkeit ist: Ich zuerst, alle anderen sind mir wurscht. Man stellt die eigenen Bedürfnisse konsequent über die von anderen Menschen, auch wenn die negativen Konsequenzen für diese deutlich gravierender sind als der momentane eigene Vorteil. Und damit passt das eben auch treffend zum momentanen Zeitgeist, der von Wettbewerbs- und Konkurrenzdenken geprägt ist, denn auch dabei sucht sich ja jeder zunächst mal seinen eigenen Vorteil. Wer das nicht macht, wird dann schnell als „Gutmensch“ abgekanzelt. Die zunehmende Rücksichtslosigkeit ist also ein Produkt unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Das Absurde: Obwohl rücksichtsloses Verhalten den meisten total auf die Nerven geht (denn schließlich hat ja jeder in zunehmendem Maße darunter zu leiden), nimmt es immer mehr zu. Dabei kann man so einfach was dagegen machen, nämlich mit ein bisschen mehr Rück- und Umsicht durch die Welt gehen. Und so was kann sogar ansteckend wirken …

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Karl

Jahrgang 1969, ist nach einem Lehramtsstudium und diversen beruflichen Tätigkeiten seit 2002 freiberuflicher Lektor (Auf den Punkt). Nach vielen Jahren in Hamburg, lebt er nun seit November 2019 in Rendsburg. Neben dem Interesse für politische Themen ist er ein absoluter Musikfreak und hört den ganzen Tag Tonträger. An den Wochenenden ist er bevorzugt in Norgaardholz an der Ostsee und genießt dort die Natur.

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