Verantwortung

Verantwortung ist ein Begriff, der sehr unterschiedlich interpretiert wird, und zwar abhängig von dem Kontext, in dem er gerade verwendet wird: Mal wird verantwortungsvolles oder eigenverantwortliches Handeln eingefordert, mal wird es negiert (über einen dementsprechenden Mechanismus habe ich ja gerade letzte Woche einen Artikel hier auf unterströmt geschrieben). Bei einer so unterschiedlichen Verwendung eines Begriffs sollte es sich lohnen, mal ein bisschen genauer hinzuschauen, was es denn mit dem Verständnis von Verantwortung in unserer heutigen Gesellschaft so auf sich hat.

Ein Beispiel: Verbraucherschutzorganisationen wie foodwatch fordern regelmäßig gesetzliche Regelungen bei der Kennzeichnung und Beschreibung von Lebensmitteln, also dass korrekt angegeben wird, was darin enthalten sei, und keine irreführenden Angaben oder Abbildungen verwendet werden dürfen. Darauf reagieren dann viele Menschen mit dem Argument, dass ja schließlich der Verbraucher sich selbst informieren könnte, was er da so in seinen Einkaufswagen packt, und dass die Schuld bei Eltern läge, wenn sie ihren Kindern beispielsweise überzuckerten Rotz verabreichen würden. Hier wird also das Bild des mündigen und autonom entscheidenden Konsumenten vorausgesetzt.

Doch wird dabei dann außer Acht gelassen, dass das Verhältnis von (teilweise sehr großen) Unternehmen und einzelnen Kunden nicht gerade ein sehr ausgeglichenes ist, da die Verkäufer über deutlich größere Ressourcen verfügen als die Käufer. So wird mittels Werbung die Meinung beeinflusst, und das in einer Weise, die deutlich über reine Produktinformation hinausgeht. Wenn das nicht so gut funktionieren würde (denn jeder hält sich selbst ja für weitestgehend immun gegen die Einflüsterungen der PR-Profis), würde wohl kaum so viel Geld für Werbung ausgegeben werden. Zudem geht es in unserer marktradikalisierten Wirtschaft immer weniger um einen fairen Tausch von Ware gegen Geld, sondern darum, möglichst großen Profit zu generieren, und dabei ist dann Aufrichtigkeit doch eher hinderlich. Der Konsument soll also von Profis bewusst hinters Licht geführt werden, um so die Unternehmensgewinne möglichst üppig ausfallen zu lassen.

Wie groß dieses Gefälle ist und wie massiv dabei unsere Autonomie als Verbraucher eingeschränkt wird, wird deutlich, wenn man sich die neusten Entwicklungen zur Personalisierung im Internet anschaut (s. dazu diese beiden Artikel von Harald Welzer und Daniel Leisegang in den Blättern für deutsche und internationale Politik): Mittlerweile gibt es Bots, die aus der Datensammelwut von Konzernen ein so umfassendes Profil des Nutzers erstellen, dass sie ihm Entscheidungen abnehmen, z. B. was er wo kaufen möchte oder welche Musik er gerade hören sollte, und mitunter sogar schon eigenständig sich in Kommunikation einmischen oder diese gleich selbst übernehmen. Für den Verbraucher erscheint das zunächst einmal bequem zu sein, allerdings übernehmen so profitorientierte Unternehmen eine Gatekeeper-Funktion, indem sie eben nur bestimmte Inhalte zulassen und andere ausfiltern. Das Ganze geht mittlerweile so weit, dass jeder Einzelne, wenn er einen Begriff in seiner Suchmaschine (zumeist ja Google) eingibt, unterschiedliche Ergebnisse bekommt. Da wird es dann schon schwer, sich ein „objektives“ Bild zu machen – obwohl uns suggeriert wird, dass genau dies der Fall sei.

Und wenn man sich dann in diesem Artikel auf der Webseite des Ökostromanbieters Lichtblick durchliest, wie bei der Kennzeichnung von Strom vonseiten der Stromkonzerne getrickst wird, dann stellt sich doch berechtigt die Frage: Wer soll denn da als Laie überhaupt noch durchsteigen? Zumal wenn man berücksichtigt, dass große Konzerne nicht nur die Macht haben, politische Entscheidungen zu ihren Gunsten und zulasten der Verbraucher zu beeinflussen, sondern eben auch über zahlreiche Möglichkeiten verfügen, gezielt Falschinformationen zu verbreiten (die Tabakindustrie leugnete ja beispielsweise sehr lange und wirkungsvoll die schädlichen Folgen des Rauchens, und Nestlé hat afrikanischen Müttern mit einer groß angelegten Kampagne erfolgreich suggeriert, dass Muttermilch schädlich und in Wasser gelöstes Milchpulver super sei – woraufhin viele Babys aufgrund der Verunreinigungen im so verwendeten Trinkwasser erkrankten und starben).

Es ist ja auch interessant: In bestimmten Bereichen delegieren wir die Verantwortung vollkommen selbstverständlich an Experten (zum Beispiel bei gesundheitlichen Problemen an Ärzte oder in Rechtsfragen an Juristen – was ja auch durchaus sinnvoll ist), in anderen Bereichen hingegen sollte jeder selbst mit umfassender Expertise ausgestattet sein. Um mal beim Thema Lebensmittel zu bleiben: Auch Ernährung ist ein hochkomplexes Wissensgebiet, für das es auch Ernährungswissenschaftler gibt – wieso sollte nun jeder Konsument also genauestens in diesem weiten Feld Bescheid wissen?

Wenn man nun den oben bereits beschriebenen Autonomieverlust, der in den letzten Jahren vor allem durch digitale Medien forciert wurde, und dazu noch die durch Werbung (die ja auch dank Internet eine immer größere Präsenz in unserem Alltagsleben innehat – mit Smartphones quasi auf Schritt und Tritt den Nutzer begleitet) permanent vermittelten Stereotype berücksichtigt (besonders eklatant sichtbar am Beispiel des Geschlechterbildes, das sich von der Werbung ausgehend mittlerweile in gesellschaftliche Realität gewandelt hat, wie dieser [leider nur gegen Bezahlung lesbare] Artikel von Almut Schnerring in den Blättern für deutsche und internationale Politik deutlich aufzeigt), dann wird deutlich, wie schwer es ist, die vom Konsumenten mitunter eingeforderte Verantwortung auch wahrnehmen zu können. Wie soll man also von Kindern, die selbst als Dauerkonsumenten vor Displays aufwachsen und die Smartphone-Junkies als Eltern haben, erwarten, dass sie zu mündigen Bürgern werden? Harald Welzer gibt auf diese Frage in seinem oben bereits erwähnten Artikel eine nicht sehr optimistische Antwort:

Personalisierung fängt heute bereits bei der kindgerechten Ausstattung an, verläuft über die altersgemäßen Sport- und Musikunterrichte und hört bei den mit Bedacht ausgewählten Medienangeboten noch nicht auf. Schon der kleine Benedikt und die kleine Laetitia sind heute bereits in den Fängen von Apple und Google. Bevor sie selbst denken können, wischen sie schon souverän über die Displays von iPad und iPhone und lassen sich ihre Informationen von der interaktiven Barbie und dem interaktiven Dino geben, die auch deswegen praktisch sind, weil sie a) die Erziehungsberechtigten von der zeitintensiven Betreuungsarbeit entlasten und b), da sie ja interaktiv sind, alles aufzeichnen, was Laetitia so fragt, weshalb Papa und Mama sich das abends schön anhören und besorgte Schlüsse daraus ziehen können.

Sozial sind Benedikt und Laetitia in ihrem Universum schon ziemlich reduziert, und als Erwachsene werden sie es noch mehr sein, sorgen doch die smarten Netzangebote auf totalitäre Art und Weise dafür, dass sie auf keinen Fall Erfahrungen machen, mit denen sie nicht gerechnet haben. Denn das zirkuläre Angebot an Waren, Freizeitmöglichkeiten, Informationen und politischen Deutungen, mit denen sie rund um die Uhr versorgt werden, verhindert ja zuverlässig, dass ihnen irgendwas ins Bewusstsein kommen kann, was sie nicht kennen und von dem sie nicht wissen, was sie davon zu halten haben.

Was bedeutet: Die Erfahrungswelt, die sich unter dem Vorzeichen der Personalisierung ausbreitet, ist eindimensional, in sie tritt nach Möglichkeit nichts, was ungewohnt und neu sein könnte, das es zu deuten und mit dem umzugehen es zu lernen hätte. Das, was Ernst Bloch die „Beule der Erkenntnis“ nennt, die man sich holt, wenn man mit etwas Unbekanntem zusammenstößt, kommt hier nicht vor.

Doch nun ist es nicht so, dass eine Entmündigung ausschließlich auf die Digitalisierung zurückzuführen ist, denn auch über konventionelle Medien und das Bildungssystem wird dafür gesorgt, dass sich Menschen möglichst nicht zu mündigen und kritischen Bürgern, sondern zu gut verwertbaren Humanressourcen und weitgehend unkritischen fleißigen Konsumenten entwickeln (Stichworte G8 und Bologna), wie es der Kabarettist Georg Schramm in diesem Videoausschnitt aus einem Auftritt schon vor acht Jahren treffend auf den Punkt brachte.

Und diese Entmündigung ist auch in der Tat ausgesprochen wichtig, um unser Wirtschaftssystem weiterhin am Laufen zu halten, denn genauso wie Verantwortung eingefordert wird von Verbrauchern in Bereichen, in denen sich Unternehmen aus der Verantwortung stehlen wollen, ist es wichtig, dass viele Menschen die Verantwortung nicht wahrnehmen, die ihr Lebensstil ihnen eigentlich aufbürdet (hierzu habe ich ja vor einiger Zeit schon mal einen Artikel geschrieben). Die daraus resultierende kognitive Dissonanz lässt sich auf diese Weise ja auch hervorragend negieren: Ich weiß, dass das nicht gut ist, was ich mache, aber es liegt ja nicht in meiner Verantwortung …

Auf diese Weise wird natürlich die Ignoranz vieler Menschen bestärkt, und das teilweise mit der Folge, dass sie sich auch um ihre eigenen Belange nicht mehr kümmern, da sie auch dafür gewohnheitsmäßig die Verantwortung von sich schieben. Und dies führt dann wieder zu einer weiteren Entmündigung und Abgabe von Autonomie – ein ziemlich übler Kreislauf, wie ich finde. Irgendwann wird dann die Eigenverantwortung überhaupt nicht mehr wahrgenommen, sondern es werden nur Symptome beklagt: Das Wetter ist so mies, es regnet dauernd – ein eigener Anteil am Klimawandel aufgrund unseres hohen CO2-Fußabdrucks wird nicht gesehen. Unsere Lebensweise basiert auf der Ausbeutung der Ressourcen (vor allem) des afrikanischen Kontinents und fördert somit Fluchtursachen – aber für die dann hier ankommenden Flüchtlinge fühlen sich viele nicht im Geringsten verantwortlich. Das Ganze gipfelt dann mal wieder bei der AfD, die ernsthaft den Klimawandel leugnet und somit die Verantwortungslosigkeit in ihrer politischen Agenda verankert. Passend dazu ist diese Partei ja auch immer ganz vorn mit dabei, wenn es darum geht, Eigenverantwortung auf Sündenböcke abzuwälzen.

Verantwortung ist also eine hochkomplexe Sache: Man sollte sie dort delegieren, wo man sie wirklich nicht selbst wahrnehmen kann, und sich ihr dort stellen, wo man selbst Einflussmöglichkeiten hat. Zudem ist sie auch keine Einbahnstraße, denn es gibt auch eine Verantwortlichkeit zur Ehrlichkeit: Wenn ich bewusst und mit Wissensvorsprung andere anlüge für meinen eigenen Vorteil, dann komme ich dieser nicht nach und untergrabe so einen wichtigen Pfeiler des menschlichen Zusammenlebens. Denn unsere Gesellschaft basiert darauf, dass wir nicht nur für unsere eigenen Handlungen, sondern auch für andere Menschen Verantwortung übernehmen – der Straßenverkehr und das Familienleben sind da gute Beispiele, wo das weitgehend allgemein akzeptiert ist (und auch – gerade im Straßenverkehr – entsprechend reglementiert wird). Um da wieder zum Eingangsbeispiel zurückzukommen: Warum werden nun ausgerechnet von so vielen Menschen Unternehmen, die ihre Kunden belügen, aus dieser Verantwortung herausgenommen?

Die Antwort dürfte recht banal sein: Wir postulieren Eigenverantwortung genauso wie Nichtverantwortung vor allem im Sinne von wirtschaftlichen Interessen, und vieles davon ist medial vermittelt. Dass dies nicht unbedingt immer unseren eigenen Interessen entspricht, wird mittlerweile oftmals einfach so hingenommen. So kommt es dann zu den beschriebenen unterschiedlichen Auffassungen von Verantwortung, eben immer schön in Abhängigkeit davon, ob es gerade der Wachstumsideologie nützt oder eben nicht. Die Ökonomisierung unserer Welt ist schon so weit fortgeschritten, dass selbst Werte wie Verantwortung schon in ein entsprechendes Raster gepresst werden – das sollte uns schon zu denken geben, finde ich.

Um das Ganze nun aber dennoch ein bisschen hoffnungsvoll zu beenden, möchte ich abschließend noch auf ein Videointerview mit dem Hirnforscher Gerald Hüther hinweisen. Auf die Frage, wie er sich die Welt in 100 Jahren vorstellt, zeigt er auf, dass sich Werte durchaus ändern können und dies auch schon bei einigen gerade jüngeren Menschen zu beobachten ist, und zwar hin zu mehr Verantwortlichkeit für das eigene Tun. Wäre schön, wenn er damit recht behalten würde …

 

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Karl

Jahrgang 1969, ist nach einem Lehramtsstudium und diversen beruflichen Tätigkeiten seit 2002 freiberuflicher Lektor (Auf den Punkt). Nach vielen Jahren in Hamburg, lebt er nun seit November 2019 in Rendsburg. Neben dem Interesse für politische Themen ist er ein absoluter Musikfreak und hört den ganzen Tag Tonträger. An den Wochenenden ist er bevorzugt in Norgaardholz an der Ostsee und genießt dort die Natur.

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