Terror oder Amok?

Gleich zwei verheerende Anschläge haben in den letzten Tagen in Frankreich und Deutschland stattgefunden: Am Donnerstag, den 14. Juli., für ein Mann in Nizza während der Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag mit einem Lkw mitten in eine Menschenmenge und tötete mehr als 80 Personen, am Montag, den 18. Juli., attackiert ein 17-Jähriger in einem Regionalzug in der Nähe von Würzburg mehrere Menschen mit einer Axt und einem Messer und verletzt diese schwer, auf der Flucht geht er dann auf zwei SEK-Polisiten los und wird erschossen. Da der Lkw-Mörder von Nizza Franzose mit tunesischer Abstammung und (nicht praktizierender) Moslem war und es sich bei dem 17-Jährigen um einen Flüchtling aus Afghanistan handelt, wird in beiden Fällen nicht von Amokläufen gesprochen, sondern sofort von islamistischem Terrorismus. Doch ist das wirklich angebracht?

Zumindest für Frankreichs Präsident François Hollande war die Sachen schnell klar, sodass er augenblicklich den nationalen Ausnahmezustand, der nach den Anschlägen von Paris vom 13. November letzten Jahres verhängt war und am 26. Juli ausgelaufen wäre, um drei Monate verlängerte. In seinem Eifer wirkte Hollande dabei auf mich fast ein bisschen erleichtert, denn in Frankreich gibt es nach wie vor enorme Proteste gegen die geplante Arbeitsmarktreform, und da kann so ein Ausnahmezustand schon hilfreich sein, um die Demonstranten ein wenig in die Schranken zu verweisen. Daneben wurde dann auch gleich verlautbart, dass man weiterhin mit militärischer Härte gegen den IS vorgehen will – als ob das bisher nun was gebracht hätte.

Denn der IS legt solche Reaktionen ja auch nahe, denn wie schon bei dem Massenmord in einer Homsexuellenbar in Orlando, Florida (USA) vor einigen Wochen, der wohl eher als Tat eines Mannes gesehen werden sollte, der mit seiner eigenen Homosexualität ein solch großes Problem hatte, dass er seiner Wut auf andere Homosexuelle auf derart bestialisch Weise freien Lauf ließ, bekannte sich der IS auch gleich zu dem Anschlag in Nizza, indem der Täter als einer der eigenen Kämpfer bezeichnet wurde. Dies hat jedoch durchaus System, wie ein Artikel, der vor Kurzem in den Blättern für deutsche und internationale Politik erschien, aufzeigt: Für den IS sind solche Bekenntnisse ein gefundenes PR-Fressen, da mit wenig Aufwand Angst und Schrecken in der westlichen Welt gesät werden kann.

Und es ist ja auch kein Wunder, dass dem IS nichts zu schäbig oder abstoßend ist, um sich das selbst auf die Fahne zu schreiben, zumal wenn der Attentäter selbst tot ist und sich nicht mehr entsprechend gegenteilig äußern kann. Der IS buhlt nicht um Sympathien in der westlichen Welt, diese stellt für diese radikalen Islamisten den Feind dar, den es zu vernichten gilt. Da ist man dann eben nicht zimperlich.

Dass der Mörder von Nizza zwar Muslim war, allerdings mit dem IS nicht in Verbindung zu bringen ist (außer dem Bekenntnis des IS) und zudem auch als nicht als streng gläubig oder seine Religion in irgendeiner Weise praktizierend beschrieben wurde, stört da nicht, denn die Assoziationskette ist ja auch so schön einfach und praktisch. Wie schon oben beschrieben: Hollande dürfte den größeren Nutzen aus diesem bestialischen Massenmord ziehen als der IS …

Und da gibt es dann auch einige Parallelen zu dem Vorfall in Würzburg: Auch dieser Täter, seit etwa einem Jahr in Deutschland, galt als gut integriert, ist zuvor nie polizeilich auffällig gewesen und konnte somit auch nicht mit dem IS in Verbindung gebracht werden. Und auch hier gab es sofort ein Bekenntnis des IS zu der Gewalttat, wie beispielsweise auf Spiegel online berichtet wird. Und auch hier ist der Täter bereits tot, sodass eine Befragung, die eventuell andere Ansichten oder Beweggründe zutage gebracht hätte, nicht mehr möglich ist.

Dass der Lkw-Mörder von Nizza von der Polizei getötet wurde, ist dabei für mich auch nachvollziehbar, da es hier galt, weitere Gefahr für Menschen abzuwenden: Wer in einem Laster sitzt, diesen als Waffe benutzt und auch schon viele Menschen ermordet hat, dem ist wohl nicht anders beizukommen als mit tödlichen Schüssen. Bei dem jungen Afghanen sieht das m. E. jedoch ein bisschen anders aus: Dieser stand letztlich wohl (so die Angaben der Polizei) mit einem Messer und einer Axt zwei Beamten eines Sondereinsatzkommandos gegenüber, die mit Schusswaffen ausgerüstet waren, andere Passanten waren zu dem Zeitpunkt wohl nicht in der Nähe. Selbst wenn der Junge die Polizisten attackiert haben soll, so frage ich mich, ob es nicht für die Profis eine andere Möglichkeit gegeben hätte, ihn mit ihren Pistolen kampfunfähig zu machen, als ihn gleich zu erschießen.

Diese Frage wagte es auch, Renate Künast von den Grünen via Twitter zu stellen (zugegebenermaßen nicht gerade das bestgeeignete Medium für so etwas) – und fing sich dafür einen ordentlichen Shitstorm ein, wie Jakob Augstein in einem Kommentar auf der Freitag beschreibt. Und entgegen zahlreichen Äußerungen in Medien, Politik und vonseiten der Polizei, in denen die tödlichen Schüsse als gerechtfertigt bezeichnet werden, sieht Augstein das Ganze etwas kritischer und verweist zu Recht auf die brutalisierten Polizeimaßnahmen in den USA, die regelmäßig Todesopfer schon bei Bagatelldelikten fordern und die er hier nicht unbedingt auch in Deutschland haben möchte. Zudem verweist er, ebenfalls zu Recht, darauf, dass ein Tatverdächtiger zunächst mal noch kein Täter ist, sondern normalerweise Gerichte über dessen Schuld zu entscheiden haben – und nicht Polizisten mit ihren Waffen.

Wäre der Junge (immerhin noch minderjährig) vernehmungsfähig gewesen, wer weiß, was dann als Motiv für seine Bluttat herausgekommen wäre? Vielleicht hätte man einen hochgradig verwirrten und psychisch labilen, wenn nicht sogar kranken Heranwachsenden erkannt – nur wäre dann das Narrativ des Terroristen nicht mehr haltbar gewesen, sondern man hätte vielmehr von einem Amoklauf sprechen müssen.

Und genau um einen solchen scheint es sich für mich auch schon in Orlando und in Nizza gehandelt zu haben. Wären die Täter weiße Männer mit christlichem Elternhaus gewesen, ihre Massaker wären genau so interpretiert worden: Die Amokläufe von verwirrten Einzeltätern. Doch derartige psychische Störungen mit den entsprechenden abscheulichen Überreaktionen werden Muslimen schon gar nicht mehr zugestanden.

Dabei produziert unsere Gesellschaft bzw. unser Wirtschaftssystem immer mehr Abgehängte, Verlierer, Frustrierte und psychisch Kranke, worauf auch Albrecht Müller in einem Artikel auf den NachDenkSeiten zu dem Thema zu Recht hinweist. Darüber hinaus geht er noch, genau wie sehr treffend Heiner Flassbeck in einem Artikel auf Makroskop, darauf ein, wie verzerrt und selektiv die Wahrnehmung solcher Geschehnisse mittlerweile in weiter Verbreitung ist, was gerade am Nizza-Amoklauf deutlich wird: Es wurde vielfach betont, dass die Werte, die an diesem Tag in Frankreich gefeiert werden – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – das Ziel dieses Anschlags waren, wobei der Fokus immer nur auf die Freiheit gerichtet wurde. Von Gleichheit und Brüderlichkeit mögen die Apologeten des Neoliberalismus dann eben doch lieber nicht sprechen, da es ja genau diese beiden Werte sind, die in den letzten Jahrzehnten zunehmend demontiert wurden – was letztlich auch zu einer Zunahme von Gewalt in der Gesellschaft (und damit in letzter Konsequenz auch zu Amokläufen) führt.

Jens Berger bringt dies Dilemma in einem Artikel auf den NachDenkSeiten,in dem es um die Entwicklung in Frankreich in den letzten Monaten geht, die nun eben in der Verlängerung des Ausnahmezustands gipfelt, geht (sehr lesenswert als Hintergrundinfo), gut auf den Punkt:

Die ‚Republik’ zu verteidigen, indem man sie abschafft, bekämpft nicht den Terror.

Werte zu verteidigen, die man dann selbst beschneidet oder gar abschafft, um sich gegen Angriffe darauf zu wappnen, ist in der Tat absurd – aber genau das geschieht im Rahmen des Krieges gegen den Terror. Bürgerrechte werden eingeschränkt (Stichwort Vorratsdatenspeicherung), und die Weltoffenheit unserer Gesellschaft wird durch das Schüren von Ängsten immer weiter reduziert.

Denn genau das wird gemacht, indem sofort aus einzelnen Amokläufern ohne genaue Kenntnis der Hintergründe vernetzte Terroristen gemacht werden: Ängste werden so verbreitet, und Angst ist ein probates Mittel, um die Menschen gefügig zu machen. Wer Angst hat, denkt nicht groß über komplexere Zusammenhänge nach, sondern tritt im Zweifelsfall erst mal wild um sich – gerade seit gut eineinhalb Jahren gut an den zunehmend nach rechts abdriftenden „besorgten“ Bürgern zu beobachten. Teile und herrsche heißt das Prinzip, das schon die Politiker im antiken Rom kannten und das sich heutzutage wieder größter Beliebtheit erfreut. Noch ein Nutzen, den unsere sogenannte Eliten aus der Umdeutung von Amokläufen zu Terroranschlägen ziehen …

Wundern einen da noch die zu beobachtenden Reaktionen von Politik und Medien?

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Karl

Jahrgang 1969, ist nach einem Lehramtsstudium und diversen beruflichen Tätigkeiten seit 2002 freiberuflicher Lektor (Auf den Punkt). Nach vielen Jahren in Hamburg, lebt er nun seit November 2019 in Rendsburg. Neben dem Interesse für politische Themen ist er ein absoluter Musikfreak und hört den ganzen Tag Tonträger. An den Wochenenden ist er bevorzugt in Norgaardholz an der Ostsee und genießt dort die Natur.

4 Gedanken zu „Terror oder Amok?“

  1. Arno Frank geht in seiner Kolumne „Die Wahrheit“ in der taz auf humorvolle Art auf die Bekenntnisse des IS zu den Amokläufen der letzten Tage ein, indem er das Ganze immer weiterspinnt und so vollkommen überzeichnet: Der IS ist dann in seinem Text an allem Ungemach schuld, was einem so widerfährt.
    Eine solche Groteske scheint mir allemal ein adäquaterer Umgang mit dem IS zu sein als die Panikmache in vielen anderen Medien.

  2. Auch Götz Eisenberg beschäftigt sich in einem Artikel auf den NachDenkSeiten mit der Frage, wie die Grenze zwischen Terror und Amok verläuft. Dabei geht er vor allem darauf ein, dass diese Unterscheidung durchaus interessengeleitet sein kann, und das sowohl aus Sicht der Täters als auch der Öffentlichkeit, der Medien und der Politik. Der IS liefert, so Eisenberg, quasi nur den ideologischen Rahmen, in dem sich Hass, der sich schon länger in den Amokläufern entfaltet, nun verbalisiert entfalten kann, da so eine Bluttat mit einem vermeintlichen Sinn versehen werden kann.

    Das ist zwar eine ganze Menge Text, aber in jedem Fall von vorn bis hinten lesenswert. Brillant analysiert, Herr Eisenberg!

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