Über Zahlen und Werte – oder: eine Welt voller Arschlöcher

Ein Gastbeitrag von Martina Kupke.

Da haben wir es also. Arschlöcher, wo du gehst und stehst. Nachweislich. In den sozialen Medien, in Talkshows, in den Nachrichten und mitten im Urlaubsgebiet. Weil wir Pech haben, nun auch in den Parlamenten. Ich meine, man muss sich allein ja nur mal überlegen, wie vielen Arschlöchern man stets und ständig ausgesetzt ist! Da draußen, willkürlich in Behörden, an der Supermarktkasse (vor oder hinter dir, vielleicht auch gegenüber), im Straßenverkehr auf zwei oder vier Rädern – manchmal auch ganz ohne! Banker, Alter: alles Arschlöcher! Oder im Job: Da wimmelt es von denen, komplett hierarchieunabhängig. Und das auf beiden Seiten des Tresens, des Telefons, des Schreibtisches. Völlig egal, wo: Wir sind von Arschlöchern umgeben. Sogar in Apple-Stores.

Meine virtuellen Freunde teilen im Übrigen meine Einstellung. Auch sie sehen sich von Arschlöchern bedroht. Manchmal sogar minütlich. Meist in der Woche, weniger an den Tagen, in denen wir Trost im Rausch suchen.

Täglich informieren wir uns in unserer Runde der Demokraten und Reflektierten und bestätigen uns, dass wir eindeutig nicht zu den Arschlöchern gehören. Nur manchmal vielleicht, wenn wir unsere Blase verlassen und in öffentlichen Social-Media-Gremien kurz die Kontrolle über uns verlieren. Weil man eben wieder das Licht inmitten von Arschlöchern sein musste und dabei womöglich kurz die Contenance verlor. Oder einem der Seinen heldenhaft an die Seite springen musste! Dann sind wir auch mal inmitten dieser Arschlöcher und halten unsere Fahne hoch. Sonst aber bleiben wir lieber unter uns. Und informieren uns über Dinge, die wir schon ahnten, vielleicht sogar wussten, weil man dieselbe Meldung im Minutentakt in die Augen und ins Bewusstsein geprügelt bekommt. Wir ziehen und drücken uns auch gegenseitig tapfer und unerbittlich durch einen Sumpf voller Arschlöcher in anderen Medien; durch Maybritt Illners und Plasbergs mit ihren obligatorischen Quoten-Arschlöchern (die bisweilen nur schwer auszumachen sind), durch Tagesthemen und Live-Ticker, die uns flatternd unter Sportevents oder Tunnelbohrer-Dokus bestätigen, was wir auch den gedruckten Blättern mit ihren Aufmachern und Titelblättern entnehmen können: Die Arschlöcher sind da! Sie haben die Macht.

Gestern Abend sah ich mir die ganzen Menschen an, die mit mir in der U-Bahn fuhren. Alle Arten von Menschen quasi. Ein worldwide train sozusagen. Und ich dachte: Ihr seid doch bestimmt auch alles Arschlöcher. Ganz gewiss. Rucksackbomber, Kopftuchverwirrte, Drogendealer, minderjährige Mobbingopfer mit Fahrradhelm auf dem Kopf und einem Racheplan im Oktavheft, junge Leck-Arsch-Hipster und mitteleuropäische Normalos, die womöglich die Schlimmsten von allen sind. Außer mir eben. Ich bin kein Arschloch. Und ich war in dem Moment die Einzige, von der ich das wusste. Dem Umstand zu schulden, in einer Berliner U-Bahn gefahren zu sein, konnte mir aufgrund der suboptimalen Netzabdeckung auch kein einziger Social Friend Mut zusprechen … Ich war offline. Da draußen. Aber ich habe überlebt.

Es wäre schön gewesen, zu wissen, ob noch ein demokratie- und menschenfreundliches Wesen im Wagon gewesen wäre. Ganz ausgerottet sind wir ja noch nicht. Uns gibt es ja nicht nur virtuell, sondern auch in echt. An der Kasse, am anderen Telefonende. Gleich gegenüber im Zeitungskiosk bei den Deutschiranern, nebenan beim Frisör von Banaldeutschen, beim Schreibwarenladen der Deutsch-Spanierin, oder dem türkisch-deutschen Café ums Eck? Gar beim Zyprer mit seinem Restaurant? Und das in Wilmersdorf, wo Arschlochmassen einst das jüdische Leben vernichteten? Vielleicht sind das ja auch nur gut getarnte Arschlöcher? Man weiß es nicht und bräuchte die Art von Brille mit Arschlochdetektor. Smalltalk bleibt eben offline meist nur Smalltalk. Nett, unverbindlich. Man kann da draußen ja nicht einfach so argumentieren wie im Netz. Im real life sieht man sich ja. Nur ohne einen Schimmer zu Gesinnung und Parteibuch. Muss man sich mal vorstellen.

Da gieße ich Blumen für Verreiste, jene, die wissen, dass ich nicht in fremden Schränken nach Arschloch-Devotionalien wühlen würde. Oder spiele mit Kindern von Juristen! Wo man doch aus der Geschichte wissen sollte, zu was die imstande sein können! Ich grüße meine Nachbarn und leere deren Briefkästen, wenn sie mich darum bitten, und bislang habe ich noch nie Arschlochpropaganda in den Händen gehalten. Aber wir wissen: Die sind ja clever und tarnen sich bestimmt mithilfe von Werbebeilagen in der Fernsehzeitung. Ein riskantes Leben, das ich so führe. Wie all die anderen in ihrer Anonymität des Guten. Mit der Angst, irgendwann entdeckt zu werden.

In dieser Panik tröste ich mich mit einer Fantasterei in den Schlaf, statt von Fahri Yardim zu träumen. Ich stelle mir dann vor, als eine Art anzustrebendes Ideal: Die Arschlöcher wären nicht in der Mehrheit. Es gäbe gar nicht so viele Arschlöcher da draußen. Nur mal so angenommen, es handele sich (mal grob überschlagen) – sagen wir mal – um rund 25 %? Also nur jeder Vierte, dem ich so begegne, wäre ein Arschloch. Wär das nicht fantastisch? Ja, ja wir sind uns einig, dass es sich in echt – also in wirklich! – um viel mehr handelt. Sonst würden wir uns ja nicht ständig gegenseitig auf dem Laufenden halten müssen, durch Maybritt Illners und Plasbergs mit ihren obligatorischen Quoten-Arschlöchern, die bisweilen schwer auszumachen sind, durch Tagesthemen und Live-Ticker unter Sportevents oder Tunnelbohrer-Dokus, durch unsere Blase Gleichgesinnter, die sich bestätigend die Schulter tätscheln, bevor wir Links teilen, um alle anderen zu informieren, die dem Arschlochtum noch nicht anheimgefallen sind! Dass diese gewaltige Arschlochmacht die Medien, unseren Alltag regiert!

Ich stelle mir wirklich kurz mal vor, es wäre nur so rund ein Viertel. Jene Gruppe, die es (leider) immer schon gab. Nur eben in leise, versteckt. Ohne „Weltnetz“. Die wir früher haben absichtlich meiden können; in Kneipen, in der eigenen Familie. Denen wir auch unerkannt begegnet sind – nicht nur am Fischstand auf Usedom, sondern selbst am All-you-can-eat-Büfett in der Dom Rep. oder im Kino auf den Nachbarsitzen. Viele von den wenigen Arschlöchern wären Arschlöcher, weil sie es schon lange waren; andere, nur um den Nichtarschlöchern mal zu zeigen, was ’ne echte Harke ist, und wieder andere, weil sie es nicht besser wissen WOLLEN. Weil das Arschlochsein nun mal ein ähnliches Zuhause darstellen kann wie das Nichtarschlochsein.

Apropos Nichtarschloch: Wir wären in meinem Traum demnach satte drei Viertel. Hammer, oder? Diese 75 % wären sich quasi einig, dass sie in der absoluten Mehrheit sind. Und wären stolz drauf. Sie würden sich da draußen in der Realwelt weiterhin so menschenfreundlich wie möglich verhalten, um einander zu beweisen, wie geil es so insgeheim (und manchmal auch vehement) ist, kein Arschloch zu sein. Hier und da würde man feststellen, dass man politisch nicht ganz d’accord ginge. Dann würde man sich aber einig sein, dass so ’ne Demokratie eben doch schon ein wenig geil ist, würde sich zuprosten und weiterhin wählen, was man wählt; Hauptsache kein Arschloch.

Dann müssten wir auch nicht jeden Arschlochfurz kommentieren, weil der Ausdünstung rein statistisch allen schon 75 % gute Luft entgegenwehen würden. Die Parteien dieses Landes wären nicht gezwungen, ihre Fahnen neu auszurichten, weil ja schließlich drei Viertel der Bevölkerung sagen, sie seien bei aller Uneinigkeit über die Umsetzung dennoch demokratischer Gesinnung. Man stelle sich das mal vor!

Sicher, man würde auch dann die Arschlöcher nicht komplett verschweigen – genauso wenig, wie man die komplett vermeiden kann. Aber hey: ein Viertel! Allein davon würden wir uns doch nicht den Takt diktieren lassen, oder? Also weder bei Facebook, wo uns meist eh niemand liest außer jene, die wir mehr oder minder sorgfältig in unsere Welt per Klick gewählt haben, noch in den Redaktionen, geschweige denn in der Politik. Wir wären frei von jener Angst, die diese Arschlöcher in unsere Welt gepflanzt haben. Die sich von denen auf uns überträgt, uns manipuliert, unser Medienverhalten und unsere Wahrnehmung beeinflusst. Ohne Entrinnen. Was wäre es schön, dass – wenn es schon Arschlöcher geben muss – sie nur die Minderheit darstellen würden. Wir könnten uns auf Konstruktives konzentrieren, uns positiv stärken. Ansonsten würden wir die Arschlöcher weitestgehend ignorieren. In den Nachrichten wären sie eine Randmeldung, so wie ein leidiges PS. Allein, um immer daran zu erinnern, dass es da draußen durchaus Arschlöcher gebe, wenngleich bei Weitem nicht so viel wie uns Nichtarschlöcher. Selbst krude Thesen, die auf Mausrutschern beruhten, wären kein Anreißer mehr. Was wären wir geil drauf, wenn dem so wäre. Man könnte seinen inneren Kasper rauslassen, die Zunge rausstrecken und singen: „Kannste knicken, du Storch! Wird nicht passieren. Denn wir sind mee-eehhhr!“ Wir würden uns an schönen Meldungen hochziehen, statt uns von jenen aggressiv machen zu lassen, die diese Arschlöcher mal wieder in die Welt posaunten.

Dann schlafe ich ein.

Doch sobald ich wieder aufwache, sieht unsere Wirklichkeit leider ganz, ganz anders aus.

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