Erdogan als WM-Ersatz

Die Kapriolen von Recep Tayyip Erdogan waren in den letzten Wochen eines der Hauptthemen in den deutschen Medien. Natürlich lieferte der türkische Präsident auch etliche Steilvorlagen, wenn er zum Beispiel jeden, der sich kritisch ihm und seiner Partei gegenüber äußerte, erst mal als Nazi beschimpfte, und es sollte selbstverständlich auch über die momentane undemokratische Entwicklung in der Türkei berichtet werden – aber das Ausmaß fand ich dann doch schon reichlich überzogen. Erdogan hier, Erdogan da – so als gäbe es zurzeit kein anderes Thema, was die Deutschen beschäftigen könnte. Doch das ist mitnichten der Fall …

Ganz im Gegenteil, standen in den letzten Wochen viele politische Entscheidungen an und wurden diskutiert, die durchaus eine große mediale Öffentlichkeit verdient hätten, da sie zum einen viele Menschen betreffen und zum anderen auch nicht gerade Mehrheitspositionen in der Bevölkerung darstellen dürften. Doch das kennt man ja schon von Fußball-Events wie Welt- und Europameisterschaften: Beschäftige die Leute mit irgendetwas, und unpopuläre Dinge lassen sich einfacher umsetzen. So kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Erdogan-Berichterstattung und -Fokussierung schon ein Stück weit einen ähnlichen Charakter aufwies.

Hier mal eine kleine Auflistung von Gesetzen, Entscheidungen und Vorfällen der letzten Zeit, die nach meinem Empfinden durch Erdogan reichlich in die Ecke gedrückt wurden und so viel zu wenig Aufmerksamkeit bekamen. Ich könnte mir vorstellen, dass die meisten von Euch zumindest von einigen dieser Dinge nichts oder kaum etwas mitbekommen haben, oder?

  • Da wäre zum einen der neu geplante § 114 StGB, mit dem der bisherige § 113 ergänzt und verschärft werden soll. Begründung: Die Zahl der Gewalttaten gegen Polizisten soll angeblich zugenommen haben, was allerdings zumindest fraglich ist, wenn man sich auch die Qualität der Übergriffe und nicht nur die Quantität (es zählen nämlich auch schon Dinge wie Beleidigung oder Weigerung, einer polizeilichen Aufforderung nachzukommen, dazu) anschaut. Zukünftig soll dann auch schon das Schubsen von Polizisten, was in Gedrängesituationen auf Demonstrationen, aber auch beispielsweise im Umfeld von Fußballspielen schnell mal auch unabsichtlich passieren kann, mit mindestens drei Monaten Freiheitsstrafe geahndet werden. Exemplarisch kritisch dazu s. einen Artikel der studentischen Zeitung akduell und einen Beitrag auf Deutschlandradio Kultur, bei Letzterem auch noch unter besonderer Berücksichtigung der neu eingeführten Bodycams von Polizisten.
  • Die Bundesregierung plant eine Änderung des Grundgesetzes, um so eine Privatisierung der Autobahnen durchführen zu können. Es wird zwar immer wieder dementiert vonseiten der Politiker, dass es sich dabei um keine richtige Privatisierung handeln würde, allerdings ist die Frage, wie glaubhaft das ist, denn schließlich bestehen derartige Pläne ja schon länger. Hintergrundinformationen zu dem Thema bieten beispielsweise zwei Petitionen von Campact und auf change.orgDass die beschlossene (und von vielen Deutschen nicht befürwortete) Pkw-Maut zu diesen Privatisierungsplänen  dazugehört und mehr ist als eine Spinnerei, die sich die CSU ausgedacht hat und die nun um des lieben Koalitionsfriedens umgesetzt wurde, beschreibt Jens Berger in einem Artikel auf den NachDenkSeiten – als einer der wenigen in der medialen Öffentlichkeit.
  • Das geplante Hate-Speech-Gesetz sieht umfangreiche Zensurmaßnahmen im Internet vor, und das von privaten Firmen. Auf diese Weise dürfte es zu erheblichen Einschränkungen der Rede- und Meinungsfreiheit kommen, zumal das Gesetz ständig um weitere Aspekte erweitert wird und oftmals ausgesprochen schwammig formuliert ist, wie ein Artikel von Netzpolitik.org aufzeigt. Die Fraktion der Piratenpartei NRW positioniert sich daher auch klar gegen dieses Gesetz, stellt damit jedoch in der Parteienlandschaft eine ziemliche Ausnahme dar, und titelt auf ihrer Webseite: „Davon würde Erdogan träumen: Das neue Patriotismus-Gesetz von Heiko Maas“.
  • Und dann wurde auch noch erklärt, dass der Verteidigungsetat künftig deutlich erhöht werden soll, um den von der NATO geforderten zwei Prozent des BIP zu entsprechen. Mit dem Geld könnte ja vielleicht auch was Sinnvolleres angefangen werden, zumal die meisten Deutschen Bundeswehreinsätzen überall auf der Welt nach wie vor eher kritisch gegenüberstehen. Und das auch mit gutem Grund, denn wie man gerade letzte Woche sehen konnte, führt die Aufklärungsarbeit der deutschen Soldaten dann zu viele toten Zivilisten in anderen Ländern, diesmal in der irakischen Stadt Mossul, wie die Augsburger Allgemeine oder auch die NachDenkSeiten (dort auch eine erschreckende Auflistung der getöteten Zivilisten in Syrien und im Irak allein im Monat März) berichten. Die Empörung über diese Toten blieb weitgehend aus – anders als das noch in Ost-Aleppo der Fall war, als Zivilisten durch russische Bomben ums Leben kamen. Hierzu passt auch, das Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) und Entwicklungsminister Gerd Müller beschlossen haben, zukünftig Entwicklungshilfe und Militäreinsätze stärker miteinander zu koppeln, wie die taz berichtet.
  • Auch die Haltung der Bundesregierung, sich nicht an den UN-Verhandlungen zum Atomwaffenverbot zu beteiligen, dürfte vielen Deutschen nicht zusagen – immerhin etwa 90 % sind schließlich dafür, diese Massenvernichtungswaffen endgültig abzuschaffen, wie aus einem Telepolis-Interview mit dem Friedensforscher Sascha Hach zu dem Thema hervorgeht.
  • Und dann gibt es ja auch noch seit Kurzem ein neues Videoüberwachungsverbesserungsgesetz, das Roberto J. De Lapuente in einem Artikel auf neulandrebellen beschreibt und kritisch bewertet. Vor allem moniert er auch, dass dieses Gesetz, dass den Überwachungsstaat weiter ausbaut, datenschutzrechtlich bedenklich ist und unser aller Alltagsleben betrifft, so gut wie nirgends mediale Erwähnung fand.

Es war also allerhand Wichtiges los in unserem Land, während wir vor allem damit beschäftigt waren, zu schauen, wie ein Despot in der fernen Türkei Rumpelstilzchen spielt. Ob das wirklich eine größere Priorität für unser Leben hat als die oben beschriebenen Gesetze und Beschlüsse? Ich glaube kaum, aber allein von der medialen Präsenz her müsste das der Fall sein.

Und dann gibt es auch tatsächlich eine schon jetzt spürbare Auswirkung dieser ganzen Erdogan-Berichterstattung: Die Gesellschaft wird weiter gespalten, das Teile-und-herrsche-Prinzip wird weiter angewendet. Das wird deutlich an vermeintlich kleinen Ereignissen, wie beispielsweise dem Bericht über den Abbruch eines Kreisliga-Fußballspiels mit Beteiligung einer Mannschaft mit türkischen Spielern oder dem Brief, den ein türkischer Gemüsehändler von einem erbosten Kunden bekam, der dort nicht mehr einkaufen möchte wegen Erdogan. Nach Arbeitnehmer gegen Hart-IV-Empfägner, Junge gegen Alte, EU-Bürger gegen Griechen und Patrioten gegen Flüchtlinge nun eben Deutsche gegen Türken – es freut die meisten Herrschenden, wenn „der Pöbel“ aufeinander losgeht und sie selbst so unbehelligt schalten und walten können.

Was noch dafür spricht, dass die ganze Erdogan-Berichterstattung schon das Ziel hat, die Menschen so abzulenken wie eine Fußball-WM oder -EM: Als Erdogans Regime militärisch gegen die Kurden im Südosten der Türkei vorgegangen ist, was zahlreiche zivile Opfer gefordert und große Zerstörungen in den dortigen Städten angerichtet hat, hat man davon kaum etwas in den hiesigen Medien mitbekommen – obwohl das doch eigentlich noch kritikwürdiger ist als sein jetziges Rumgepoltere. Aber da war ja Erdogan auch noch der zu hofierende „Türsteher“, welcher der EU die Flüchtlinge vom Hals halten sollte …

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Karl

Jahrgang 1969, ist nach einem Lehramtsstudium und diversen beruflichen Tätigkeiten seit 2002 freiberuflicher Lektor (Auf den Punkt). Nach vielen Jahren in Hamburg, lebt er nun seit November 2019 in Rendsburg. Neben dem Interesse für politische Themen ist er ein absoluter Musikfreak und hört den ganzen Tag Tonträger. An den Wochenenden ist er bevorzugt in Norgaardholz an der Ostsee und genießt dort die Natur.

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