Deutsche Leitkultur

Gerade endete ja wieder das alljährliche Oktoberfest in München, das zu allerlei unschönen Begleiterscheinungen führte (wie Jens Balzer in einem Artikel in der Zeit beschreibt), aber dennoch für viele zur sogenannten deutschen Leitkultur zählt. Da dieser Begriff ja in den letzten Jahren zunehmend Hochkonjunktur erfahren hat und bei der uns bevorstehenden deutlich rechts ausgelegten Bundesregierung sowie der Auseinandersetzung mit der erstmals im Bundestag vertretenen AfD eine Auseinandersetzung damit wohl unumgänglich erscheint, habe ich mir die Frage gestellt: Was ist denn überhaupt diese deutsche Leitkultur?

Goethe muss ja wohl dazugehören, der steht ja immer an vorderster Position, wenn es um deutsche Kultur geht. Doch wie definiert sich überhaupt, was nun von den Leitkultur-Forderern unter Kultur verstanden wird? Normalerweise wird ja unter Kultur Kunst in jeder Ausprägung (Musik, Literatur, Malerei, Bildhauerei) verstanden, aber auch Architektur, Städtebau, Philosophie, Politik und Erfindungen werden beispielsweise dazugerechnet. Nur was bewirkt nun, dass etwas zur Leitkultur zählt, etwas anderes hingegen nicht?

Bei einigen Namen wird man sich wohl schnell einige sein, dass diese eine hohe kulturelle Relevanz haben und somit schon als ein Teil einer Leitkultur verstanden werden können. Immanuel Kant zum Beispiel. Der große Philosoph proklamierte als Erster das Weltbürgertum und das Hospitalitätsrecht:

Im Weltbürgerrecht (ius cosmopoliticum), dessen Vorstellung bereits in der Schrift Zum ewigen Frieden (1795) zu finden ist, behandelte Kant ein allgemeines Fremdenrecht, das heißt die Beziehung eines Staates zu den Bürgern anderer Staaten. Aus dem allgemeinen Freiheitsrecht folgt, dass jeder (friedliche) Mensch sich an jedem Ort der Welt aufhalten darf. Dabei genießt er ein Hospitalitätsrecht (Besuchsrecht), solange dies ohne Gewalt und ohne Missbrauch geschieht (RL VI 353). (Quelle: Wikipedia)

Das steht ja nun ziemlich dem entgegen, was die meisten heutigen Leitkultur-Propagierer sich so vorstellen, oder? Gehört Kant somit also nicht zur Leitkultur? Und was ist mit Brecht, Kroetz, Heine, Thomas und Heinrich Mann, Lessing, Hesse und Büchner? Große Namen, die sich schön im Bücherschrank machen, aber wenn man dann mal schaut, was diese Deutschen so an kulturellen Inhalten hervorgebracht haben, dann hat das wenig  mit dem Weltbild zu tun, was heute gemeinhin hinter der Verwendung des Begriffs Leitkultur steht.

Und da sind wir auch schon bei einem zentralen Problem eines Begriffs wie Leitkultur: Kultur ist nicht nur Fassade, sondern eben auch Inhalt. Um mal zu etwas Aktuellem zu Kommen: Zählt also Helene Fischer zur deutschen Leitkultur? Viele Fans hat sie ja, aber inhaltlich ist das zumeist doch eher dürftig – was natürlich auch in gewisser Weise repräsentativ für den aktuellen Zeitgeist ist und insofern auch eine Relevanz haben könnte. Was ist nun allerdings mit den vielen anderen Musikern, die in diesem Land auch inhaltsreiche Songs veröffentlichen, die aber in der Öffentlichkeit deutlich weniger wahrgenommen werden? Sind die auch Teil der Leitkultur oder muss man dafür einen bestimmten kommerziellen Erfolg vorweisen können?

Und nun kommt ein weiterer Aspekt dazu, der ja schon oben bei der Benennung einiger großer deutscher Literaten mitschwang: Kultur ist zumeist ja eher weltoffen und links, es gibt natürlich auch bewusst Unpolitisches und (zum Glück) in geringem Maße auch Rechtes. Wenn nun also eine Leitkultur als Ganzes, die ja dann schon diese Ausrichtung repräsentieren sollten, eine Art Leitbild für politisches und gesellschaftliches Handeln sein soll, warum sind dann diejenigen, die von Leitkultur sprechen, zumeist eher nationalistisch und rechts eingestellt? Passt irgendwie nicht so ganz zusammen, oder?

Aber vermutlich ist für solche Leute, wenn sie denn von Leitkultur schwadronieren, Kultur nicht viel mehr als ein paar schöne alte Burgen, Schützenfest sowie Volksmusik und Schlager. Mit den großen Namen weltweit anerkannter deutscher Kulturschaffender mag man sich dann vielleicht auch gern noch mal ein wenig schmücken, um so seinen eigenen Patriotismus etwas aufwerten zu können, aber was dann Gotthold Ephraim Lessing in „Nathan der Weise“ so genau geschrieben hat, damit möchte man dann doch eher wenig zu tun haben …

Insofern habe ich den Eindruck, dass Leitkultur vornehmlich als reiner Kampfbegriff verwendet wird, der dabei helfen soll, andere auszugrenzen, die eben nicht auf den gleichen kulturellen Hintergrund verweisen können. Da das der Intention der meisten Kulturschaffenden reichlich widersprechen dürfte, kann man hier schon von einer ziemlichen Pervertierung des Kulturbegriffs an sich sprechen, finde ich. Wer also von Leitkultur redet, der sagt mehr über seine eigene Primitivität aus, als dass ein in irgendeiner Form mit Inhalt gefülltes Kulturverständnis zum Ausdruck gebracht würde.

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Karl

Jahrgang 1969, ist nach einem Lehramtsstudium und diversen beruflichen Tätigkeiten seit 2002 freiberuflicher Lektor (Auf den Punkt). Nach vielen Jahren in Hamburg, lebt er nun seit November 2019 in Rendsburg. Neben dem Interesse für politische Themen ist er ein absoluter Musikfreak und hört den ganzen Tag Tonträger. An den Wochenenden ist er bevorzugt in Norgaardholz an der Ostsee und genießt dort die Natur.

Ein Gedanke zu „Deutsche Leitkultur“

  1. Danke für dieses Kulturgut! Ich verstehe es auch eher so, dass „Leitkultur“ in erster Linie meint, man sollte hellhäutig und deutschsprachig sein, um dieser Leitkultur gerecht zu sein. Sprache und Kultur kann man erlernen, aber ich habe das leise Gefühl, dass es den Claqueuren der Leitkultur nicht reichen wird … anders gesagt: „hau ab!

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