Und wie dann weiter?

In einer Reportage in der Neuen Zürcher Zeitung schildert der polnisch-schlesische Schriftsteller Szczepan Twardoch seine Erlebnisse an der Kriegsfront im Osten der Ukraine. Für mich ergibt sich daraus vor allem die Frage, ob sich die vielen Kriegsbefürworter in unserem Land überhaupt Gedanken gemacht haben, wie es denn weitergehen soll, wenn dieser fürchterliche Krieg einmal zu Ende ist.

Twardoch macht keinen Hehl daraus, auf Seiten der Ukrainer zu stehen, er hat sogar schon Spendenaktionen ins Leben gerufen, um die ukrainische Armee mit Hilfsgütern Drohnen, Geländewagen, Startlink-Antennen oder Stromgeneratoren zu versorgen. Diese brachte er dann auch höchstselbst in das umkämpfte Gebiet im Donbass, sodass er dort einige sehr unmittelbare Kriegserfahrungen gemacht hat, die er nun schildert.

Für mich sind dabei vor allem die Aspekte interessant, die aufzeigen, wie stark gespalten die Ukraine ist. Diese Spaltung wird durch die Fortdauer des Krieges und die damit einhergehenden immer zahlreicheren persönlichen Schicksale von Tod, Verlust und Verletzung stetig weiter vertieft. Deshalb stellt sich mir vor allem die Frage, wie es denn in dem Land weitergehen sollte, wenn das aus Kreisen unserer Regierung und von vielen Medien verbreitete Kriegsziel der territorialen Unversehrtheit der Ukraine tatsächlich erreicht würde.

Was auch in der Reportage von Twardoch anklingt, von vielen hierzulande aber nach wie vor bestritten wird: Der Krieg in dieser Region hat bereits 2014 angefangen, und viele ukrainische Berufssoldaten sind auch schon seit vielen Jahren im Einsatz, um gegen die mit den Russen sympathisierenden Ostukrainer bzw. russische Freischärler zu kämpfen. Und so ein lang andauernder Kampf schürt nun mal Unversöhnlichkeit, wie auch aus den Aussagen eines Soldaten deutliche hervorgeht:

«Der Donbass ist wie ein Krebsgeschwür. Man hätte es entweder heilen oder rausschneiden sollen», sagte er. «Wir haben weder das eine noch das andere getan. Jetzt haben wir den Salat.»

[…]

«Und wenn wir jetzt den ganzen Donbass und das Gebiet Luhansk zurückerobert haben, was dann?», sagte er weiter in der Kneipe, in der man ihm kein Bier verkauft hätte, weil in der Ukraine an Soldaten kein Alkohol verkauft wird. Ich bekam es erst, als ich meinen polnischen Pass zeigte. Die Outdoor-Kleider im Farbton Coyote-Brown hatten genügt, den Argwohn der Kellnerin zu wecken. «Die Kinder von damals, die bei Kriegsbeginn zehn Jahre alt waren, sind doch heute schon erwachsen. Sie sind im Hass auf uns Ukrainer erzogen worden, auf unseren Staat. Wenn wir erst den Donbass und das Gebiet Luhansk zurückerobert haben, dann werden wir sie mit einer inneren Grenze abschotten müssen. Damit sich dieses Krebsgeschwür nicht auf die ganze Ukraine ausbreitet.»

Da wird also um Gebiete gekämpft, die zumindest dieser Soldat als „Krebsgeschwür“ bezeichnet und gar nicht im eigenen Land haben möchte – und doch ist genau das als Kriegsziel ausgegeben worden. Dass viele Menschen in den umkämpften Regionen nicht gut auf die Kiewer Regierung zu sprechen sein dürften, nachdem sie von dieser nun seit neun Jahren militärisch attackiert werden, dürfte nicht verwundern, genauso wenig, dass diese Ablehnung an die dortigen Kinder weitergegeben wird, was ja auch der Soldat anspricht.

Zudem kann man wohl auch davon ausgehen, dass in den westlichen ukrainischen Provinzen die Menschen keine großen Sympathien für die Ostukrainer mit Russennähe haben dürften, da sie diese für diesen Krieg und damit die eigenen erlittenen Verluste sowie die Verwüstungen im Land verantwortlich machen.

Klingt jetzt für mich nicht so, als würden sich bei einem Waffenstillstand oder sogar einem Friedensvertrag auf einmal alle Ukrainer lachend in den Armen liegen.

Wie tief die Spaltung jetzt schon mitten durch die Bevölkerung der Ukraine geht, wird an einer anderen Passage aus der Reportage deutlich, in der es um einen weiteren Soldaten geht:

Die Armee bedeutete ihm alles. Ukrainisch hatte er erst dort zu sprechen angefangen, wie viele, wenn nicht die meisten Soldaten, mit denen ich im Donbass sprechen konnte. Als er sich den ukrainischen Streitkräften anschloss, sagte seine Mutter zu ihm, sie habe jetzt keinen Sohn mehr, denn einen Banderowez habe sie nicht geboren. Vielleicht deshalb bedeutete die Armee alles für Max.

Dass die ukrainischen Soldaten in der Reportage ihre russischen Gegner oft mit Schmähworten bezeichnen („Pidars“, was so viel bedeutet wie „Schwule“ – wobei mich nun Homosexuellenfeindlichkeit in einem soldatischen Milieu auch nicht eben verwundert), ist wohl eine gängige Sache im Krieg, um sich selbst vermeintlich auf- und den Gegner abzuwerten. Wenn allerdings eine Mutter ihren Sohn verstößt, weil er sich einer Seite anschließt, dann zeigt das schon, dass dort eine deutlich unversöhnliche gegenseitige Ablehnung beider Volksgruppen besteht.

Stellen wir uns also ruhig mal vor, Russland zieht sich mit seinen Truppen zurück, die Ukraine bekommt die Hoheit über ihr gesamtes Territorium wieder zugesprochen – und dann? Ist dann diese Spaltung etwa überwunden?

Ich glaube nicht. Vielmehr vermute ich, dass sich dann der Hass aufeinander hemmungslos Bahn brechen und es zu üblen Pogromen und ähnlichen Gewaltakten kommen wird. Der seit neun Jahren andauernde Bürgerkrieg würde also nicht nur am Leben gehalten, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit noch weiter eskalieren.

Und dann? Ernst gemeint Frage …

Zuschauen, wie sich die Ukrainer selbst zerfleischen und ihr Land weiter ruinieren, dabei dann hoffen, dass Russland dann nicht eingreifen und erneut militärisch dort in Aktion treten wird?

Selbst Truppe hinschicken, um das Land zu befrieden, und dabei dann unter Umständen auf die Menschen schießen, denen man gerade noch Waffen geliefert hat? Mal davon abgesehen, dass ein Einsatz von NATO-Truppen direkt an der russischen Grenze mit Sicherheit nicht zu einer Stabilisierung der Region oder zu einer weitere Deeskalation beitragen würde.

Und was geschieht dann, wenn die Kiewer Regierung Jagd auf prorussische Menschen im Osten des Landes machen würde? Das halte ich nicht für unwahrscheinlich, solange geifernde Scharfmacher wie Andrij Melnyk dort was zu melden haben. Wird dann eine UN-Mission zum Schutz der Zivilbevölkerung ins Leben gerufen?

Zu diesen Punkten habe ich zumindest bisher noch keine Überlegungen der großmäuligen Bellizisten gehört. Dabei wäre es doch zumindest geboten, sich darüber Gedanken zu machen, was in einem Land passiert, wenn die von außen postulierten und auch handfest unterstützten Kriegsziele tatsächlich erreicht würden – wenn man denn auch nur einen Funken Verantwortungsbewusstsein hat.

Doch ich fürchte, dass es daran in der momentanen Grundstimmung von pathosgeschwängerter Kriegsbesoffenheit einen eklatanten Mangel gibt!

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Karl

Jahrgang 1969, ist nach einem Lehramtsstudium und diversen beruflichen Tätigkeiten seit 2002 freiberuflicher Lektor (Auf den Punkt). Nach vielen Jahren in Hamburg, lebt er nun seit November 2019 in Rendsburg. Neben dem Interesse für politische Themen ist er ein absoluter Musikfreak und hört den ganzen Tag Tonträger. An den Wochenenden ist er bevorzugt in Norgaardholz an der Ostsee und genießt dort die Natur.

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