Radikalität

Zurzeit wird ja in Bezug auf die Proteste von Klimaschutzaktivisten oft behauptet, dass deren Forderungen und Maßnahmen zu radikal seien. Doch ist das wirklich so? Leben wir nicht vielmehr schon in einem radikalen, extremistischen System?

Radikal sind am besten immer nur „die anderen“, also diejenigen, die etwas verändern wollen und die deswegen diskreditiert werden sollen. Und genau das trifft auf den aktuellen Status quo ziemlich genau zu, wenn irgendwelche Gestalten von CDU, FDP oder andere Rechtsaußen Klimaschutzaktivisten Radikalität vorwerfen und sogar von einer „terroristischen Vereinigung“ schwadronieren.

Dabei fallen mir zumindest recht spontan so einige Sachen ein, die aufzeigen, dass unser derzeitiges Wirtschaftssystem selbst schon reichlich radikal und extremistisch ist. Aber das wird natürlich so nur selten wahrgenommen, denn die eigene Normalität wird mit solchen Begriffen halt nicht so gern in Verbindung gebracht. Dabei wäre das mehr als angebracht.

Denn spätestens seit der Hinwendung zum Neoliberalismus, die Ende der 70er-, Anfang der 80-Jahre des letzten Jahrhunderts in vielen Ländern stattfand, kann der Kapitalismus zunehmend als Marktradikalismus bezeichnet werden. Das äußert sich nicht nur in Formulierungen wie der „marktkonformen Demokratie“, mit der Angela Merkel schon vor Jahren die Demokratie mal eben dem nicht demokratischen Marktgeschehen unterordnete, sondern eben auch in vielen recht deutlich greifbaren Entwicklungen der letzten Jahrzehnte.

An erster Stelle wäre hier natürlich die Klimakatastrophe zu nennen. Ein Wirtschaftssystem, dass die planetare Biosphäre, von der das menschliche Leben insgesamt abhängig ist, massiv schädigt, wenn nicht gar zerstört, kann wohl nicht anders denn als extremistisch bezeichnet werden, oder? Zumal das alles sehenden Auges geschieht, denn der Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ des Club Of Rome ist ja mittlerweile 50 Jahre alt, ohne dass sich gravierend etwas geändert hätte. O. k., etwas hat sich schon geändert: Nachdem vor etwa 40 Jahren in der Ölindustrie bekannt wurde, was für Auswirkungen das eigene Geschäftsmodell hat, wurden die entsprechenden Studienergebnisse schnell in der Schublade versteckt, und es wurde eine große Marketingkampagne losgetreten, die das genaue Gegenteil behauptete. Wenn das mal nicht radikal (und natürlich extrem bösartig) ist, dann weiß ich auch nicht …

Hand in Hand mit dem menschgemachten Wandel des Weltklimas geht das Artensterben einher, das mittlerweile solche Ausmaße angenommen hat, wie es noch nie seit Bestehen der Menschheit der Fall war. Landwirtschaftliche Monokulturen, der verbreitete Einsatz von Pestiziden, die Abholzung von Wäldern, das Trockenlegen von Sümpfen und Mooren, die zunehmende Versiegelung natürlicher Flächen durch Bebauung, die schonungslose Jagd, die Überfischung der Meere, Eingriffe in die Natur wie beispielsweise Flussbegradigungen – das alles zerstört Lebensräume von Tieren. Und solche Eingriffe in Ökosysteme ziehen eben eine ganze Reihe von Folgen nach sich. Wenn eine Tierart verschwindet, dann hat das auch auf viele andere Arten Auswirkungen. Aber wenn es um Profitinteressen geht, dann wird auf die Fragilität von ökologischen Zusammenhängen keine Rücksicht genommen. Nicht nur die Millionen bereits ausgestorbenen oder zurzeit vom Aussterben bedrohten Tierarten dürfen unser Wirtschaftssystem daher als ausgesprochen radikal empfinden.

Die Entstehung absurd großer Vermögen ist ein Problem, das auf mehreren Ebenen destabilisierend auf Demokratie und Rechtsstaat wirkt. Zum einen haben diejenigen, die über diese enormen Geldmittel verfügen, auch eine sehr große Macht, bis hin zum Entstehen von oligarchischen Strukturen. Über Lobbyismus und Korruption kann direkter Einfluss auf die Politik genommen werden, damit diese Gesetze erlässt, die das weitere Anwachsen der Vermögen ermöglichen, und Gesetze verhindert werden, die einer weniger starken Reichtumskonzentration in den Händen einiger weniger entgegenwirken würden. Zudem findet eine Konzentration von vielen Medien statt, die sehr reichen Einzelpersonen oder Familien gehören – und die entsprechend auch die Interessen von ihren Besitzern mehr oder weniger unverblümt als Allgemeininteresse verbreiten, damit auch diejenigen, die weniger oder nichts besitzen, die Ungerechtigkeit des Systems nicht infrage stellen. Und oft genug ist es auch möglich, sich mit viel Geld Recht zu kaufen, sodass eben vor dem Gesetz nicht mehr alle Menschen gleich sind. Je größer die einzelnen Vermögen werden, umso mehr Geld muss denjenigen vorenthalten werden, die diese Vermögenszuwächse auch tatsächlich in der Produktivitätswirtschaft erarbeiten – was dann wiederum zu sozialen Verwerfungen führt. So in der Summe gesehen ist das schon reichlich extremistisch, oder? Zumal totalitäre Regimes letztlich nicht viel anders handeln, nur diese Prozesse dann eher mit offensichtlicherer Repression als über Korrumpierung umsetzen.

Immer mehr, immer größer, immer weiter – das dem Kapitalismus innewohnende Wachstumsdogma ist auch extrem – und zwar vor allem extrem dämlich. In einem endlichen System (nämlich unserem Planeten Erde) unendliches Wachstum nicht nur zu proklamieren, sondern auch als eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren eines Wirtschaftssystems zu anzunehmen, kann einfach nicht hinhauen. Und das tut es ja auch schon längst nicht mehr, was allerdings in unseren Breiten noch weitestgehend ignoriert wird. Da werden die Autos immer größer, die Zeiträume bis zum Neukauf elektronischer Geräte immer kürzer, die Kreuzfahrten und Flugreisen immer mehr – und technologische Verbesserungen, die vielleicht ein bisschen den Ressourcenverbrauch abbremsen könnten, werden sofort durch den Rebound-Effekt zunichtegemacht. Während dann anderswo auf der Erde die Menschen für unseren überbordenden Konsum wie Sklaven schuften dürfen, unter Landgrabbing leiden und zudem noch die Auswirkungen der Klimakrise deutlich stärker zu spüren bekommen als wir im globalen Norden bisher. Und das haut auch nur hin, weil neokoloniale Strukturen auf Teufel komm raus aufrechterhalten werden. Ist irgendwie reichlich rassistisch, oder? Und Rassismus finde ich in jedem Fall auch radikal – und zwar radikal kacke.

Zudem ist das kapitalistische System nicht nur rassistisch, sondern basiert auch auf Sexismus. Die Care-Arbeit wird nämlich nach wie vor zum überwiegenden Teil mit großer Selbstverständlichkeit kostenlos geleistet – und das meistens von Frauen. Das fängt an bei der Kinderbetreuung und endet bei der Pflege von alten Menschen – solange das nicht institutionalisiert ist, wird diese in Familien erbrachte Leistung, die unabdingbar für das Funktionieren des Systems ist, unentgeltlich erbracht. Dass diese Ungerechtigkeit eigentlich nur von Feministinnen angesprochen wird und sonst einfach so hingenommen wird, da sonst der Kapitalismus schnell kollabieren würde, zeigt eine weitere extremistische Facette auf, wie ich finde.

Krisen gehören zum Kapitalismus dazu, und zwar in vielfältiger Ausprägung: Wirtschafts- und Finanzkrisen (wie zum Beispiel 2008), Gesundheitskrisen (wie gerade die Corona-Pandemie) und natürlich Kriege. Wenn immer nur darauf geachtet wird, möglichst viel Profit zu generieren, dann gibt es halt auch reichlich Kollateralschäden. Zudem sind Kriege auch etwas, was den Kapitalismus am Leben hält, denn die dadurch angerichteten Zerstörungen bedeuten nicht nur fette Gewinne für die Rüstungsindustrie, sondern der auf einen Krieg folgende Wiederaufbau kurbelt dann die Realwirtschaft auch immer stark an, sodass dann mal für kurze Zeit die Produktivität stärker wächst als die Renditeerwartungen derjenigen, die ohne Leistung Geld aus dem Wirtschaftskreislauf ziehen (beispielsweise über Mieten, Aktien, Finanzmarktprodukte usw.). Ich behaupte mal: Ohne den Ersten und Zweiten Weltkrieg wäre der Kapitalismus schon im letzten Jahrhundert implodiert. Passend dazu sind auch Naturkatastrophen super für den Systemerhalt, denn die steigern das Bruttoinlandsprodukt (BIP) – die götzengleich verehrte Kennzahl aller Marktapologeten. Genauso wie übrigens Kriminalität – also eigentlich alles, was in irgendeiner Weise dazu führt, dass Dinge (egal, wie unethisch sie sind) profitabel umgesetzt oder nach einer Zerstörung wiederaufgebaut werden. Und wenn man nun noch berücksichtigt, dass es bei der Bewältigung der systemimmanenten Krisen dann vor allem darum geht, dass wieder einige Leute daraus möglichst großen Profit zu schlagen suchen, und nicht darum, die Folgen für möglichst alle Menschen abzumildern, dann kann ich da keine auch nur ansatzweise gemäßigte Komponente mehr erkennen.

Und das könnte ich nun noch mit etlichen anderen Dingen fortführen: Atommüll, der noch Hunderttausende von Jahren hochgiftig sein wird und von dem niemand weiß, wo er gelagert werden könnte; Feinstaub, der nach wie vor ungehemmt in die Luft gepustet wird, obwohl jedes Jahre Tausende von Menschen allein in Deutschland aufgrund von schlechter Luft sterben; Mikroplastik, das nach wie vor hergestellt und in zahlreichen Produkten verwendet wird, obwohl sich das überall ablagern und keiner so genau weiß, was das Zeug anrichten kann; Tausende von toten Geflüchteten in jedem Jahr an den EU-Außengrenzen aufgrund der Abschottungspolitik; Antibiotikaresistenzen, die vor allem auch durch die Massentierhaltung gefördert werden, sodass mittlerweile Tausende von Menschen in Deutschland jedes Jahr aufgrund von multiresistenten Keimen sterben – mal ganz abgesehen davon, dass er kein Spaß sein dürfte, wenn irgendwann Antibiotika überhaupt nicht mehr wirken; Privatisierungen von gesellschaftlich relevanter Infrastruktur, die eigentlich immer nur zur Folge haben, dass sich einige wenige bereichern und für alle anderen die damit zusammenhängenden Leistungen teurer und schlechter werden; und so weiter, und so fort …

Zusammenfassend kann man also sagen: Wir leben in einem Wirtschaftssystem, dass extrem umweltschädlich und menschenfeindlich ist, nur damit eine kleine Anzahl von Menschen ihre ohnehin schon absurd hohen Vermögen noch weiter vergrößern können. Und dafür wird dann auch in Kauf genommen, dass unser Planet unbewohnbar wird.

Geht es bitte noch extremistischer, noch radikaler? Ich finde, nicht.

Wenn man mit einem derart radikalen System konfrontiert ist, dann muss die Kritik daran, müssen Aktionsformen des Protests zwangsläufig auch radikaler und extremer werden. Das hat dann in den meisten Fällen auch nichts mit Terrorismus zu tun, denn die Kritik richtet sich ja nicht gegen Demokratie und Rechtsstaat, sondern vielmehr gegen ein Wirtschaftssystem, dass beständig Demokratie und Rechtsstaat unterhöhlt. Und dessen Erfüllungsgehilfen in der Politik in schöner Regelmäßigkeit vom Bundesverfassungsgericht in die Schranken gewiesen werden müssen, da Gesetze und Beschlüsse immer wieder nicht verfassungskonform sind.

Daher sollte man also immer im Auge behalten, wer denn die wirklich (Markt-)Radikalen und Extremisten sind: nämlich meistens diejenigen, die ihren Kritikern zu große Radikalität vorwerfen.

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Karl

Jahrgang 1969, ist nach einem Lehramtsstudium und diversen beruflichen Tätigkeiten seit 2002 freiberuflicher Lektor (Auf den Punkt). Nach vielen Jahren in Hamburg, lebt er nun seit November 2019 in Rendsburg. Neben dem Interesse für politische Themen ist er ein absoluter Musikfreak und hört den ganzen Tag Tonträger. An den Wochenenden ist er bevorzugt in Norgaardholz an der Ostsee und genießt dort die Natur.

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