Die ukrainische Gegenoffensive

Ein Gastartikel von Fabian Lehr

Es ist einigermaßen bizarr, zu sehen, dass die ukrainische Gegenoffensive in der westlichen Medienlandschaft gerade kaum eine Rolle spielt, nachdem ausgiebigste Erörterung der Frage „Wann, wo und wie wird die Offensive wohl kommen?“ monatelang die Zeitungen und Talkrunden beschäftigte. Jetzt, da die Offensive tatsächlich da ist und wohl gerade ihre heißeste Phase erreicht, interessiert sie auf einmal kaum jemanden und landet in deutschen Medien irgendwo hinter Rammstein, Boris Johnson und Wärmepumpen in den vermischten Meldungen.

Abgesehen davon, dass das öffentliche Interesse an einem fernen Krieg natürlich generell abnimmt, je länger er sich ohne klare Entscheidung hinzieht, ist das zweifellos auch Ausdruck der extremen Parteilichkeit der deutschen und überhaupt westlichen Medienlandschaft, deren Berichterstattung teils fast ausschließlich auf den offiziellen Verlautbarungen einer der Kriegsparteien beruht. Die Berichterstattung der meisten großen Zeitungen über den konkreten militärischen Verlauf des Krieges beruht fast ausschließlich auf offiziellen Statements des ukrainischen Kriegsministeriums und ukrainischer Regierungsvertreter sowie uneingeschränkt proukrainischer Militärblogger u.Ä. Russische Verlautbarungen werden, wenn überhaupt, nur gelegentlich zitiert, um sich über sie lustig zu machen, denn dass russische Quellen selbstverständlich immer lügen und ukrainische Quellen selbstverständlich immer die Wahrheit sagen gilt als evident und die Überzeugung, dass dem so sei, als Ausdruck der eigenen moralischen Lauterkeit, denn wer in Erwägung zieht, ukrainische Hurrameldungen könnten manchmal gelogen und russische Hurrameldungen manchmal wahr sein, steht im Verdacht, ein Russenfreund und Freiheitsfeind und jedenfalls ein höchst zwielichtiges Subjekt zu sein. Und so beschränkt man sich dann halt darauf, ukrainische Meldungen zu zitieren oder zu paraphrasieren und am Ende ein „Diese Meldungen können nicht unabhängig verifiziert werden“ anzuhängen (Man würde ja meinen, die Verifizierung oder Falsifizierung widersprüchlicher Verlautbarungen sei doch nun der Job von ReporterInnen, aber eine journalistische Berichterstattung aus Frontnähe gibt es sowieso kaum – die meisten westlichen UkrainekorrespondentInnen sitzen hunderte Kilometer von der Front entfernt in Kiew, wo sie genau das tun, was ihre KollegInnen in Berlin, Frankfurt oder München genauso gut tun könnten: Ukrainische Meldungen zitieren).

Das Resultat dieses Bias ist das Vorherrschen völlig grotesker Vorstellungen im deutschen öffentlichen Diskurs und natürlich ganz besonders der aktivistisch-proukrainischen social media-Blase: Täglich fallen ungefähr hunderttausend Russen, während die Ukrainer höchstens mal ein, zwei kleine Schürfwunden erleiden. Der russische Bestand an ballistischen Raketen und Drohnen steht seit einem Jahr permanent unmittelbar vor der Erschöpfung – jede neue Angriffswelle war ganz sicher die letzte, denn jetzt haben sie aber WIRKLICH ihre letzte Rakete verschossen (Die Existenz der russischen Rüstungsindustrie, die ständig neue bauen kann, scheint unbekannt zu sein). Und wenn sich diese Angriffswellen mit Raketen, die es gar nicht geben dürfte, doch immer wieder wiederholen, dann werden sie immerhin stets zu annähernd 100% von den Ukrainern abgeschossen – das ukrainische Kriegsministerium verkündet es ja, also muss es auch so sein. Alle westlichen Waffen sind unbesiegbare Superwaffen, die, sobald sie an die Front kommen, sofort die russische Armee zerbrechen und den Krieg mit einem überwältigenden ukrainischen Sieg beenden werden. Ein Leopard2 verhält sich zu einem T72 wie ein laserkanonenbewaffnetes Raumschiff zu Pfeil und Bogen. Alle russischen Soldaten sind vollkommen demotiviert und werden beim Anblick des ersten ukrainischen Panzers sofort kampflos fliehen, während alle ukrainischen Soldaten hochmotivierte Helden sind, die kein anderes Verlangen als die Befreiung der heiligen ukrainischen Erde kennen und dafür gern und freudig ihr Leben geben.

Natürlich sind die Vorstellungen, die in offiziellen russischen Verlautbarungen, regierungstreuen russischen Medien und einem großen Teil der prorussischen Blogosphäre herrschen, genauso grotesk. Glaubt man deren Weisheiten, ist die Ukraine längst völlig entvölkert und kann nur noch weiterkämpfen, weil Heerscharen westlicher Söldner die alle längst unter der Erde liegenden ukrainischen Männer ersetzt haben, und täglich erringen die russischen Truppen solche Heldentaten, dass das gesamte vom NATO-Block gelieferte Equipment schon doppelt und dreifach vernichtet wurde. Sowohl ukrainische als auch russische Regierung und Militärführung sowie ihnen jeweils nahestehende Blogosphäre lügen permanent das Blaue vom Himmel herunter.

Wenn man ein wenigstens ansatzweise brauchbares Bild vom tatsächlichen Kriegsverlauf bekommen will, muss man deswegen zwingend regelmäßig proukrainische ebenso wie prorussische Militärblogs lesen (Militärblogger sind, was die Berichterstattung über Kampfhandlungen angeht, Zeitungen tatsächlich haushoch überlegen – in den „Qualitätszeitungen“ findet man, wenn es hochkommt, mit 24 Stunden Verspätung eine oberflächliche Zusammenfassung von Entwicklungen, die in den Milblogs quasi in Echtzeit mit Bergen von Video-und Bildmaterial dokumentiert werden). Nicht, weil die Milblogger weniger parteiisch als Zeitungen wären oder nicht häufig lügen oder wild spekulieren würden. Aber weil man aus der Zusammenstellung ihrer widersprechenden Behauptungen viel ableiten kann. Wenn proukrainische Milblogger zähneknirschend zugeben, dass die Russen Dorf XYZ erobert oder diese und jene Stellung eingenommen hätten, dann kann man das als ziemlich gesichert annehmen. Umgekehrt kann man es als ziemlich gesichert annehmen, wenn prorussische Milblogger zähneknirschend zugeben, die Ukrainer ihrerseits hätten Dorf XYZ und Stellung so und so eingenommen.

Dazu kommen die Massen von Video- und Bildmaterial von Kampfhandlungen, wobei man in beiden Blogosphären strikt getrenntes Material geliefert bekommt. Auf proukrainischen Blogs und Accounts sieht man nahezu ausschließlich Videos von zerstörten russischen Panzern, getöteten russischen Soldaten und eroberten russischen Stellungen, aber nahezu niemals Videos von ukrainischen Verlusten. Auf prorussischen Blogs und Accounts wiederum sieht man nahezu ausschließlich Videos von zerstörten ukrainischen Waffensystemen, getöteten ukrainischen Soldaten und eroberten ukrainischen Stellungen, aber nahezu niemals Videos von russischen Verlusten. Die Fangemeinde beider Seiten leitet daraus natürlich ab, dass ihre jeweilige Lieblingsarmee quasi verlustfrei von Sieg zu Sieg eilt und wissen auch nicht so recht, wie es, wenn eine Seite der anderen doch so haushoch überlegen ist, denn eigentlich kommt, dass der Krieg jetzt bald anderthalb Jahre andauert und seit einem Dreivierteljahr weitgehend statisch ist. Natürlich ist auf beiden Seiten einiges von diesem Bild- und Videomaterial gefälscht oder zumindest bewusst falsch zugeordnet. Das meiste ist aber durchaus echt und oft überzeugend geolokalisiert und datiert, und dieses Material, das, wenn man beide Blogosphären besucht, ständig große Verluste beider Seiten zeigt, passt sehr gut zum Bild eines Zermürbungskrieges zwischen zwei Armeen von momentan relativ ähnlicher Kampfkraft, das mit dem tatsächlichen Kriegsverlauf viel eher zu vereinbaren ist als die Fantasien von der haushohen Überlegenheit einer Seite.

Mit dem Beginn der so lange diskutierten und ersehnten ukrainischen Gegenoffensive ist für die westliche Medienwelt aber ein riesiges Problem aufgetreten: Die ukrainische Führung hat beschlossen, über den Verlauf dieser Offensive vorläufig striktes Stillschweigen zu wahren, keinerlei Details bekanntzugeben und keinerlei Bild- oder Videomaterial zu veröffentlichen. Da offizielle oder doch zumindest regierungsnahe ukrainische Verlautbarungen bisher aber so ziemlich die einzige Informationsquelle westlicher Großmedien waren, wissen sie angesichts von deren Stillschweigen nichts mehr über den Krieg zu berichten. Der Informationskrieg liegt damit momentan praktisch ausschließlich in der Hand prorussischer Quellen, und die darf man als anständiger westlicher Journalist ja nicht berücksichtigen.

Das zweite Problem besteht darin, dass das, was in der prorussischen Blogosphäre von dieser Offensive zu sehen ist, aus proukrainischer Perspektive ziemlich ernüchternd aussieht und schwerlich mit den grotesken Vorstellungen der westlichen Öffentlichkeit zu vereinbaren ist, die ukrainische Gegenoffensive würde in kürzester Zeit zum russischen Zusammenbruch und zum großen Sieg führen. Westliche Medien, die ihrer Öffentlichkeit monatelang eingehämmert haben, alle müssten loyal und einig Waffenlieferungen und Sanktionskrieg mittragen, weil es realistisch und wahrscheinlich sei, dass man die Ukraine dadurch zum großen finalen Sieg und das russische Reich des Bösen zum Kollaps führen könne, möchten nun aber eher ungern darüber berichten, dass die von ihnen selbst aufgebauten übersteigerten Hoffnungen auf die ukrainische Gegenoffensive sich zerschlagen und es tendenziell eher danach aussieht, dass sie in einem Desaster endet.

Für alle, die in den letzten Monaten ernsthaft versucht haben, sich einigermaßen ausgewogen über den Kriegsverlauf zu informieren (Sprich: Täglich sowohl proukrainische als auch prorussische Medien, Blogs und Accounts zu lesen), kommt das freilich nicht als eine so große Überraschung.

Die ukrainische Gegenoffensive trug von Anbeginn ihrer Planungen den Stempel eines Verzweiflungsunternehmens. Die ukrainische Armee hat es dank massiver westlicher Waffenlieferungen, Geheimdiensthilfe und Finanzierung geschafft, die russische Invasion aufzuhalten und beträchtliche Gebiete zurückzuerobern. Seit einem Dreivierteljahr ist der Krieg aber erstarrt und zu einem zähen Abnutzungskrieg geworden, in dem keine Seite mehr große Erfolge erzielt, niemand irgendwo noch groß vorankommt und nicht erkennbar ist, wie dieser Krieg eigentlich militärisch beendet werden soll. Beide Seiten stehen sich jetzt entlang einer festen Frontlinie mit massiv ausgebauten Befestigungen gegenüber, die schnelle und große Vorstöße so gut wie unmöglich machen. Die russische Armee hat in ihrer Winteroffensive mit Schwerpunkten um Vuhledar, Avdiivka, Mariinka, Bakhmut und Kreminna versucht, aus diesem Patt herauszukommen, die ukrainischen Befestigungslinien zu durchbrechen und wieder zum Bewegungskrieg überzugehen. Die Offensive war ein Desaster. Monatelang stürmten nach vorbereitendem Artilleriefeuer Welle um Welle massenhaft gepanzerte Fahrzeuge übers freie Feld auf die ukrainischen Stellungen zu – und wurden dabei reihenweise vernichtet. Tausende Fahrzeuge und zehntausende Soldaten gingen verloren, ohne dass die Angreifer irgendwo nennenswert über 5-10km vorangekommen wären. Allein bei ihren gescheiterten Angriffen auf Vuhledar dürften die Russen innerhalb weniger Tage eine dreistellige Zahl von Panzern und Schützenpanzern verloren haben. Es gibt eindrucksvolle Videos von russischen Panzerkolonnen, die über ukrainische Minenfelder fahren, ein Panzer nach dem anderen fliegt dabei in die Luft, während die anderen in Panik geraten, teils auf der Flucht querfeldein ebenfalls auf Minen fahren, teils von der sehr präzisen ukrainischen Artillerie zerschossen werden. Im Frühjahr war die russische Angriffskraft erschöpft, ohne dass irgendwo etwas Bedeutendes erreicht worden wäre.

Aber die russischen Linien brachen nach diesem Fehlschlag auch nicht zusammen. Das bisschen eroberte Gebiet konnten die russischen Truppen überwiegend halten, ukrainische Gegenangriffe wurden blutig zurückgeschlagen, und in Bakhmut konnte Wagner dank des Verheizens von zehntausenden als Kanonenfutter in Uniform gesteckten Häftlingen durch Eroberung der Stadt im Mai sogar einen symbolträchtigen neuen Sieg erzielen. Rund ein Fünftel des ukrainischen Staatsgebietes war weiterhin in russischer Hand, und Bakhmut hatte gezeigt, dass die Invasoren, solange sie zu großen menschlichen Opfern bereit sind, auch in der Lage waren, immer noch hier und da etwas weiter voranzukommen.
Nun besteht das erklärte ukrainische Kriegsziel aber darin, die Grenzen von 2013 wiederherzustellen, und ein Kriegsende, das nicht mindestens die Grenzen von 2021 bringt, würde angesichts der in der Ukraine aufgebauten hypernationalistischen Stimmung als klare Niederlage aufgefasst und ziemlich sicher das Ende der Regierung Selenskij, vielleicht schwere innere Unruhen bis hin zu einem Staatsstreich bedeuten. Die Propagierung dieses Ziels ist nun aber das eine, seine Realisierung ein anderes. Und die Zeit läuft dabei klar gegen die Ukraine. Ich habe oben geschrieben, beim Zermürbungskrieg in der Ostukraine handle es sich um einen Krieg zwischen zwei Armeen vergleichbarer Kampfkraft. Das ist heute wohl einigermaßen zutreffend – es muss sich, wenn der Krieg noch lange unentschieden weitergeht, aber zwangsläufig zugunsten Russlands ändern. Die Ukraine ist nicht nur ein viel kleinerer und viel ärmerer Staat mit einer viel kleineren Bevölkerung als Russland – sie hat auch keine nennenswerte eigene Rüstungsindustrie. Seitdem die ursprünglichen Waffenbestände der ukrainischen Streitkräfte von Anfang 2022 weitgehend verbraucht oder zerstört sind, wird der ukrainische Staat nur noch durch Waffen- und Munitionslieferungen des NATO-Blocks am Leben erhalten.

Diese Waffenhilfe hatte zwar ein nach 1945 einzigartiges Ausmaß, aber sie war auch nicht groß genug, damit eine der größten Armeen der Welt zerbrechen zu können. Die NATO hat die Ukraine fast durchweg aus ihren Lagerbeständen beliefert, d.h. mit einem bunten Sammelsurium eingemotteter, überwiegend veralteter Waffen, die man ansonsten wohl in den nächsten Jahren verschrottet oder billig an Schwellenländer verkauft haben würde. Moderne Hightechwaffen höchster Qualität wurden nur in kleinen bis sehr kleinen Mengen geliefert, nicht zuletzt wohl auch zur Praxiserprobung der besten Exportartikel der eigenen Rüstungsindustrie. Inzwischen sind die Lagerbestände der NATO an eingemotteten, aber noch brauchbaren Waffen und Geschossen aber so ziemlich leer. Da die NATO-Staaten nicht bereit sind, ihre aktiven Armeebestände auszudünnen und sie auch nicht beschlossen haben, in großem Stil zur Kriegsproduktion überzugehen und ihre Rüstungsproduktion vom Fabrikband weg direkt in die Ukraine zu schicken, ist absehbar, dass der Umfang der westlichen Lieferungen an schweren Waffen wahrscheinlich in der ersten Hälfte dieses Jahres seinen Höhepunkt erreichen und dann abflachen würde. Insbesondere die Lagerbestände an schweren Waffen wie Panzern und Geschützen werden bald leer sein, und eine Ausdehnung ihrer Neuproduktion ist nicht geplant. Dramatisch ist auch der zunehmende Mangel an Luftabwehrwaffen. Die Ukraine hatte bei Kriegsbeginn einen riesigen Bestand an älteren Luftabwehrsystemen sowjetischen Typs. Diese hohe Dichte an sowjetischen Luftabwehrbatterien schützte nicht nur die ukrainischen Städte wirksam vor russischen Luftangriffen, sondern machte es der russischen Luftwaffe auch unmöglich, das Geschehen an der Front zu dominieren, denn jeder russische Jet, der sich zu weit vorgewagt hätte, würde sich damit in die Reichweite von Luftabwehrraketen begeben. Das Problem ist nun, dass passende Munition für diese Systeme nur in Russland produziert wird und sich in der Ukraine dem Ende zuneigt. Moderne westliche Luftabwehrsysteme mit im NATO-Block vorhandener Munition wiederum werden in viel zu kleiner Menge geliefert, um die wegen Munitionsmangels nicht mehr nutzbaren hunderten sowjetischen Luftabwehrsysteme ersetzen zu können.

Russland dagegen hat seit Kriegsbeginn zwar horrende Verluste erlitten, aber erstens seine Rüstungsproduktion erheblich erhöht und zweitens noch riesige Lagerbestände alter sowjetischer Panzer und Geschütze, die mit vertretbarem Aufwand wieder einsatzbereit gemacht werden können. Es ist also absehbar, dass das Kräfteverhältnis sich ab diesem Sommer immer weiter zugunsten Russlands neigen, die russische Luftwaffe immer dominanter und die russische Übermacht an Panzern und Geschützen immer größer werden müssen. Solange der NATO-Block nicht zu Kriegsproduktion und massenhafter Lieferung neuproduzierter schwerer Waffen übergeht, kann die Ukraine einen langsamen Abnutzungskrieg gegen Russland nicht durchstehen.

Das verzweifelte Kalkül der ukrainischen Regierung bestand nun offensichtlich darin, im Frühjahr diesen Jahres, auf dem voraussichtlichen Zenit der westlichen Waffenlieferungen, mit allem, was man an besseren westlichen Waffen seit einem halben Jahr zusammenkratzen konnte, eine Großoffensive zu unternehmen, solange das Kräfteverhältnis zwischen den ukrainischen und russischen Streitkräften zumindest noch ansatzweise vergleichbar ist – was bei Fortdauer des Abnutzungskrieges in einem halben oder einem Jahr sicher nicht mehr der Fall sein wird. Selenskij und seine Generäle wissen, dass sie realistischerweise nur noch eine einzige Chance haben. Wenn diese Offensive unter hohen Verlusten scheitert, werden die ukrainischen Streitkräfte wahrscheinlich nie wieder zu einem großen Angriff in der Lage sein. Wenn man nur einmal zuschlagen kann, sollte dieser Schlag an der Stelle erfolgen, wo er die größtmögliche Wirkung entfalten kann. Und da kommt eigentlich nur eine Richtung in Frage: Eine Offensive nach Süden in Richtung Asowsches Meer. Wenn die ukrainischen Streitkräfte die Küste erreichen sollten, würde das russisch besetzte ukrainische Gebiet dadurch zweigeteilt und könnte der westliche Teil vom russischen Kernland aus nicht mehr versorgt werden. Sollte es dann noch gelingen, von dort aus mit ballistischen Raketen die Kertschbrücke zu zerstören, würde damit auch der Versorgungsweg über die Krim zusammenbrechen und wären die Krim sowie die Oblasten Saporischschja und Kherson für Russland mangels Versorgungsmöglichkeiten kaum noch dauerhaft zu verteidigen. Erreichen die Ukrainer das Asowsche Meer, verliert Russland also wahrscheinlich die Hälfte seiner Eroberungen seit 2014. Vielleicht würde ein so spektakulärer Erfolg den NATO-Block zu einer Ausweitung der Waffenlieferungen bewegen können, vielleicht würde Russland dadurch bereit werden, einer Wiederherstellung zumindest der Grenzen von 2021 zuzustimmen. An keiner anderen Stelle hätte eine erfolgreiche Offensive vergleichbare Auswirkungen.

Nun besteht aber auch die russische Armeeführung nicht aus lauter Idioten. Auch in Moskau weiß man, dass die Ukrainer eigentlich in dieser Richtung angreifen MÜSSEN. Dementsprechend hat die russische Armee die Frontlinie in der Oblast Saporischschja seit einem Dreivierteljahr mit einem riesigen, dichten Netz von Verteidigungsanlagen überzogen. In mehreren aufeinanderfolgenden Linien folgen Schützengräben, riesige Minenfelder, Panzersperren und Bunker. Es ist heute vielleicht die stärkste militärische Befestigungslinie Europas. Umso mehr, als die Ukraine, Zeichen ihrer verzweifelten Lage, die Offensive monatelang verschieben musste, um noch die Lieferung von ein paar dutzend weiteren westlichen Panzerfahrzeugen abzuwarten, was Russland zusätzlich Zeit gab, die Befestigungslinien immer weiter auszubauen. Dazu wurden die besten, kampfkräftigsten russischen Truppen dorthin verlegt und die Truppendichte dort stärker als irgendwo sonst gesteigert. Eine derart starke und derart gut bemannte Festungslinie frontal anzugreifen, wenn man nicht zahlenmäßig extrem überlegen ist, ist eigentlich Wahnsinn. Insbesondere, wenn man wie die Ukraine kaum mobile Luftabwehrsysteme für kurze und mittlere Distanzen mehr hat, was bedeutet: Je weiter die ukrainischen Truppen vorankommen, desto schutzloser sind sie der zahlenmäßig haushoch überlegenen russischen Luftwaffe ausgesetzt. Auch die ukrainischen Generäle wissen sicher, dass dieses Projekt eigentlich Irrsinn ist. Nur: Es gibt, wenn man nicht kapitulieren will, nicht wirklich eine erfolgversprechendere Alternative dazu. Einen defensiv geführten langen Abnutzungskrieg kann die Ukraine, wie schon ausgeführt, eben nicht durchhalten, die russische Materialüberlegenheit muss dabei langsam aber sicher erdrückend werden. Und die letzte Chance, noch einmal in großem Stil angreifen zu können, dürfte jetzt sein. Wenn es jetzt nicht funktioniert, dann wird es nie funktionieren.

Eine Erfolgschance hat dieses Unternehmen eigentlich nur dann, wenn man annimmt, dass die Moral der russischen Truppen so tief gesunken ist, dass sie bei Herannahen einer großen ukrainischen Angriffsstreitmacht gar nicht ernsthaft kämpfen, sondern massenhaft fliehen und ihre Stellungen verlassen werden.

Genau dafür gibt es bisher aber überhaupt keine Anzeichen. Die ukrainische Offensive läuft jetzt seit 12 Tagen. In dieser Zeit ist sie nirgends mehr als maximal etwa 5 Kilometer vorangekommen. Die russischen Truppen halten ihre Stellungen und fügen den Ukrainern schwere Verluste zu. Die Zahl der durch Fotos und Videos belegten ukrainischen Fahrzeugverluste liegt inzwischen im deutlich dreistelligen Bereich, darunter auch mehrere Leopard2 und etwa ein Zehntel aller von den USA gelieferten Bradley-Schützenpanzer. Wohlgemerkt: Das ist nur die Zahl der auf Video dokumentierten Verluste. Die Szenen von dutzendfach durch Minen und Artillerietreffer ausgeschalteten westlichen Panzerfahrzeugen sehen dem Desaster des russischen Angriffs auf Vuhledar Anfang dieses Jahres verdammt ähnlich. Dabei sind die ukrainischen Truppen bisher nirgends auch nur in die Nähe der russischen Hauptbefestigungslinien herangekommen, alle bisherigen Kämpfe spielen sich noch im Vorfeld der Befestigungslinie ab. Der größte ukrainische Triumph ist, nach tagelangen verlustreichen Kämpfen, die Eroberung von vier Dörfern, wonach die ukrainischen Truppen wieder erschöpft zum Stillstand kamen. Bisher sieht diese Offensive danach aus, dass die ukrainischen Streitkräfte den Kopf gegen eine Betonwand schlagen. Es gibt Berichte über Befehlsverweigerungen ukrainischer Truppenteile, die sich weigern, in die nächste Angriffswelle gepanzerter Fahrzeuge über kilometerweit offenes, minenübersätes Land zu gehen.

Wohlgemerkt: Das heißt nicht, dass die ukrainische Offensive schon gescheitert wäre. Die Mehrheit der für den Angriff gebildeten und westlich bewaffneten Einheiten ist noch nicht zum Einsatz gekommen und es ist immer noch möglich, dass es gelingt, durch einen großen Angriff irgendwo Panik unter den russischen Truppen auslösen und die Befestigungslinie durchbrechen zu können. Die ukrainischen Verluste sind schwer, aber noch nicht lähmend. Mit jedem Tag, an dem es nicht passiert, wird es aber unwahrscheinlicher, zumal es nun auch keinerlei Überraschungseffekt mehr gibt. Aber selbst wenn den Ukrainern irgendwo noch ein größerer Frontdurchbruch gelingen sollte (Was, wie gesagt, durchaus noch möglich ist) : Was eigentlich dann? Je weiter die ukrainischen Truppen vorstoßen, desto weiter entfernen sie sich vom Schutz der noch einsetzbaren ukrainischen Luftabwehrsysteme und desto gefahrloser kann die russische Luftwaffe sie pausenlos bombardieren. Je weiter sie vorankommen, desto schwieriger wird die Logistik, dieses kunterbunte Sammelsurium aller nur vorstellbaren westlichen Fahrzeuge auf dem Marsch mit dutzenden verschiedenen Arten von Munition und Ersatzteilen zu versorgen. Je weiter eine stark geschwächte ukrainische Streitmacht vorstößt, desto höher ist die Gefahr, dass sie einfach eingekesselt wird. Es fällt schwer, sich ein Szenario vorzustellen, in dem die ukrainischen Streitkräfte die Küste erreichen und noch genug Material übrig haben könnten, um sich dort auch halten zu können.

Scheitert die Offensive aber (Und für ihr Scheitern spricht bisher eben mehr als für ihren Erfolg), dann war es das so ziemlich für die Ukraine. Wenn sie die Masse der im letzten Dreivierteljahr zusammengekratzten westlichen schweren Waffen verliert, dann wird sie sie wahrscheinlich nie wieder ersetzen können. Panzer, Schützenpanzer und Geschütze in diesem Umfang wird es nicht mehr geben, wenn die NATO nicht auf Kriegsproduktion umstellt, wofür bisher eben nichts spricht. Die Rückeroberung nennenswerten Territoriums wird dann nie wieder möglich sein. Der Krieg wird wieder zu einem relativ statischen Zermürbungskrieg werden, in dem die russische Materialüberlegenheit jeden Monat größer werden und irgendwann in einen allgemeinen ukrainischen Kollaps münden muss. Wenn das geschieht, werden die Regierung Selenskij wie die NATO-Regierungen sich der unangenehmen Tatsache stellen müssen, dass man einen Krieg, den man militärisch nicht gewinnen kann, nun einmal durch Zugeständnisse an den Feind beenden muss, und das heißt hier: Anerkennung der Tatsache, dass man das von Russland geraubte Territorium nicht mehr zurückgewinnen kann. Innerhalb der Ukraine würde das wahrscheinlich das Ende der Regierung Selenskij, vielleicht einen Staatsstreich oder schwere Revolten bedeuten. Und in der NATO würde es die Notwendigkeit einer schmerzlichen Umkehrung des bisher gepflegten Hurra-Diskurses vom kurz bevorstehenden Zusammenbruch des Erzfeindes bedeuten. Diese Aussichten sind für Regierungen, Parteien und Medien, die sich mit dem imperialistischen Projekt ihres eigenen Blocks voll identifizieren, nicht schön. Verständlich, dass das Thema „Verlauf und Aussichten der ukrainischen Offensive“ in den Redaktionen von ZEIT und FAZ und Tagesschau und Heute-Journal und Co also zunehmend als Verlegenheit empfunden und behandelt wird.

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