Der Arbeitskräftemangel ist ja zurzeit ein großes Thema: Endlich scheint die Mär vom Fachkräftemangel auch tatsächlich einzutreten, nachdem dieser Begriff jahrelang vor allem dafür genutzt wurde, um Lohndumping zu betreiben, indem man billige Arbeitskräfte aus dem EU-Ausland angeworben hat.
Zunächst mal kommt es einem ja schon merkwürdig vor, dass wir nach wie vor ein paar Millionen Arbeitslose haben und auch noch eine Menge Menschen, die nur Teilzeit arbeiten oder lediglich einen Minijob haben, aber schon gern eine Vollzeitstelle bekleiden würden. Und laut Statista ist die Arbeitslosenquote bisher in diesem Jahr im Vergleich zu 2023 dann ja auch um 0,4 % nach oben geklettert. Wie kann es also zusammenpassen, dass beispielsweise immer mehr gastronomische Betriebe kein Personal finden?
Wenn man jetzt ein FDP-, CDU- oder AfD-Primitivling wäre, dann würde man sagen: Die sind halt alle zu faul! Auch wenn das für deren unterbelichtete Klientel gerade so reichen mag als Erklärung, so hat das doch recht wenig mit der Realität zu tun. Denn wie bei so vielen Sachen ist die Ursache für das, was wir zurzeit erleben, nicht monokausal, sondern dürfte die Folge verschiedener Faktoren und Entwicklungen sein.
Da ist natürlich vor allem erst mal eine Sache, die schon seit Jahren zu beobachten ist: Unternehmen klagen, sie würden keine Beschäftigten finden, wollen aber auch keine anständigen Gehälter bezahlen. Das ist besonders eklatant in den Pflegeberufen. Die sind nicht nur körperlich, sondern auch psychisch oftmals sehr anstrengend, zudem hat man auch nicht eben die tollsten Arbeitszeiten (oft nachts, an Wochenendes, an Feiertagen …) – und die Bezahlung ist da nicht gerade fürstlich. Dazu kommt eine Arbeitsverdichtung für diejenigen, die dort noch arbeiten, mitunter werden sogenannte Servicekräfte angestellt, die noch weniger Gehalt bekommen, dafür aber auch keine Fachausbildung haben und somit etliche Tätigkeiten nicht ausführen können bzw. dürfen. Und dann wird der Papierkram auch nicht eben weniger, was wiederum Zeit frisst, die dann an anderer Stelle fehlt.
Irgendwie kein Wunder, dass viele Menschen sich da einen anderen Job suchen oder im Burn-out landen, oder?
Und gerade Corona hat da ja noch mal dazu beigetragen, dass sich die Menschen in Pflegeberufen noch mehr aufgerieben haben, gesundheitlichen Risiken ausgesetzt waren und so auch etliche den Beruf gewechselt haben.
Auch in der Gastronomie hat Corona für ordentlich Wirbel gesorgt: Viele der dort Beschäftigten konnten von jetzt auf gleich, als die Lockdowns beschlossen wurden, ihrer Tätigkeit nicht mehr nachgehen, haben sich dann eben was anderes gesucht. Und vielleicht festgestellt, dass ein Bürojob von 9 bis 17 Uhr doch auch angenehmer ist, als oftmals dann zu arbeiten, wenn alle andere frei haben. Da dürfte also sehr viel fachliches Gastronomiepersonal mittlerweile in anderen Tätigkeitsbereichen beschäftigt sein.
Zumal die Gastronomie ja nun auch vor allem eher nicht so toll bezahlte Jobs bietet mit ungemütlichen Arbeitszeiten (abends, an Wochenenden, an Feiertagen …). Viele sind da dann auf Trinkgelder angewiesen, und die sitzen, seitdem Energie, Lebensmittel und etliches andere in den letzten beiden Jahren deutlich teurer geworden sind, auch nicht mehr so locker bei viele Gästen.
Was bei der Gastronomie noch erschwerend hinzukommt: Das ist vor allem auch ein Beschäftigungsfeld für junge Menschen und Frauen. Und damit ergeben sich da auch zwei spezifische Problemlagen.
Bei jungen Menschen ist es so, dass immer mehr von denen generell Probleme mit dem Arbeitsmarkt haben. Das liegt natürlich auch daran, wie Jugendliche heute aufwachsen, was ich ja vor etwa einem halben Jahr schon mal in einem Artikel problematisiert habe. So wollen beispielsweise überproportional viele junge Menschen Influencer werden. Klar, schön zu Hause sitzen und über Dinge quasseln, die man sowieso super findet, ist natürlich eine schicke Vorstellung für eine Arbeit, nur eben in den allermeisten Fällen dann doch nicht für einen ausreichenden Broterwerb geeignet.
Dazu kommt noch, dass schon seit Jahren immer wieder von Menschen, die Personalentscheidungen in Betrieben treffen, berichtet wird, dass junge Bewerber ein mangelhaftes Sozialverhalten an den Tag legen würden. Die kämen dann beispielsweise zu spät zum Vorstellungsgespräch, ohne sich dafür zu entschuldigen, und setzen sich dann grußlos hin, um erst mal in ihr Telefon zu schauen. Klingt nach einem Klischee? Hab ich aber so persönlich schon erzählt bekommen.
Aber auch das ist ja eine Folge dessen, wie Kinder und Jugendliche heute aufwachsen: nämlich vor allem vor Bildschirmen und mit immer weniger persönlichen Sozialkontakten. Auch das haben mir schon viele Freunde, die selbst jugendliche Kinder haben, berichtet. Das geht dann bei vielen jungen Menschen so weit, dass sie soziophobe Verhaltensweisen ausbilden, beispielsweise Angst davor haben, ans Telefon zu gehen.
Wie soll also jemand, der schon nicht mit anderen Menschen telefonieren mag, dann in einem Job zurechtkommen, in dem ständig wildfremde Menschen etwas von ihm wollen? Eben …
Das Ganze wurde natürlich durch die Corona-Pandemie noch mal verschärft, denn da wurden Sozialkontakte ja bewusst massiv minimiert. Für Teenager ist so was ziemlich problematisch, was sich dann ja auch darin zeigt, dass zurzeit eine extrem große Zahl junger Menschen als Folge der COVID-19-Maßnahmen an psychischen Erkrankungen leiden (s. beispielsweise hier). Und wer solche Probleme hat, der ist in den allermeisten Fällen bestimmt nicht besonders gut dafür geeignet, einen Job in der Gastronomie auszuüben, der ja oftmals stressig ist und auch eine gewisse persönliche Stabilität erfordert, um auch zu nicht gerade netten Gästen noch freundlich sein zu können.
Wenn man all das zusammen betrachtet, dann ist es irgendwie kein Wunder, dass zurzeit zumindest aus dem Pool der jungen Menschen weniger für Tätigkeiten in Restaurants, Kneipen oder Cafés rekrutiert werden können, oder?
Kommen wir zu den Frauen: Dort ergibt sich immer häufiger (nicht nur in der Gastronomie) das Problem, dass keine Betreuung der Kinder gewährleistet werden kann, denn auch Kitas und Horteinrichtungen haben massive Probleme, genügend Personal zu finden (s. dazu hier). Vom garantierten Betreuungsplatz für Kinder sind wir also zurzeit reichlich weit weg. Und gerade in der Gastronomie kann man ja als Angestellter nicht einfach sagen, dass man, wenn sich die Kita gerade mal nicht um den Nachwuchs kümmern kann, dann eben ein paar Tage im Homeoffice arbeitet. Und auch der Erzieherberuf wird nach wie vor überwiegend von Frauen ausgeübt, was dann nicht nur bedeutet, dass da nicht eben tolle Gehälter gezahlt werden (leider eher die Regel als die Ausnahme in unserer nach wie vor patriarchalischen Gesellschaft), sondern dass eben auch dort die Probleme mit fehlender Kinderbetreuung und Ausfallzeiten wegen Mutterschutz/Elternzeit (die ja meistens immer noch von den Frauen genommen wird) oder kranken Kindern anfallen.
So ziehen Engpässe in einem Bereich dann Engpässe in anderen Bereichen nach sich …
Die Probleme, mit denen besonders weibliche Angestellte zu kämpfen haben, schlagen sich dann beispielsweise auch bei den Ärzten nieder. Dort gibt es nämlich (erfreulicherweise) immer mehr Ärztinnen, die allerdings dann auch mit den eben geschilderten Herausforderungen konfrontiert werden, wie in einem Artikel von ZDF heute, der sich mit der Komplexität des Ärztemangels auseinandersetzt, geschildert wird. Auch hieran sieht man, dass es viel zu simpel ist, einfach nur von einem Mangel zu sprechen, denn in einigen Gegenden Deutschlands gibt es beispielsweise eine ärztliche Überversorgung, während andere deutlich unterversorgt sind. Und dann kommt auch noch das System der Kassensitze hinzu, dass eine Beschränkung der ärztlichen Kapazitäten bewirkt, da reine Privatpraxen sich oftmals nicht rechnen. Hier wären also auch entsprechend komplexe Lösungen gefragt, um die medizinische Versorgung zu verbessern.
Tja, und dann kommt noch hinzu, dass richtig viele Menschen in sogenannten Bullshit-Jobs arbeiten, also solche Tätigkeiten ausüben, die entweder null gesellschaftlichen Nutzen haben (beispielsweise Outbound-Callcenter), generell nicht produktiv sind (beispielsweise circa 90 % der Posten im Management) oder nichts anderes machen, als mit Geld noch mehr Geld zu generieren (beispielsweise Investmentbanker). All diese Arbeitskräfte fehlen natürlich an anderen Stellen, wo wirklich produktives Personal gebraucht wird – aber irgendjemand macht eben reichlich Kohle mit den Bullshit-Jobbern, und das ist ja das, was vor allem zählt im neoliberalen Kapitalismus.
Der Arbeitskräftemangel ist also wesentlich komplizierter und weist deutlich vielschichtigere Ursachen auf, als die zumeist kruden Aussagen von den meisten Politikern, die sich damit befassen, einen glauben machen möchten. Wenn man wirklich da rangehen möchte, dann müsste man an etlichen Pfeilern unseres Wirtschaftssystems sägen, beispielsweise an der patriarchalischen Ausrichtung, an der Erziehung von Kindern zu möglichst unmündigen Konsumenten und an der rein monetären Orientierung bei der Bewertung von Nützlichkeit.
Dann käme man vielleicht mal auf die Idee, erst zu schauen, welche Arbeit in unserer Gesellschaft getan werden muss, und diese dann entsprechend so zu verteilen, dass alle ein gutes Auskommen bei akzeptabler Arbeitsbelastung hätten. Tja, leider ein Wunschtraum, denn der Neoliberalismus steuert ja nach wie vor in die komplett entgegengesetzte Richtung.
Ein weiterer Aspekt, der sich auch auf den Arbeitsmarkt negativ auswirken dürfte, wird von Tim Engartner und Michael Schedlik in einem Artikel in den Blättern für deutsche und internationale Politik beschrieben: der zunehmende Verfall des deutschen Bildungssystems.
Nicht nur Personalmängel, sondern auch schulische Infrastruktur in zunehmend schlechtem Zustand führen dazu, dass die Schulabgänger heutzutage immer größere Wissens- und Bildungsdefizite aufweisen. Und wer beispielsweise nicht richtig lesen und rechnen kann, der kann eben auch nicht so wirklich gut in Berufen wie in der Gastronomie oder in der Pflege arbeiten.
Vor allem bewirkt der miserable Zustand unseres Schulsystems auch eine größere soziale Spaltung, den vor allem die Kinder aus ärmeren Familien, deren Eltern sich keine Nachhilfe oder zusätzlichen Homeschooling-Angebote leisten können, fallen da dann durchs Raster. Und das sind eben genau die, die sonst Berufe in den Bereichen erlernt oder ausgeübt haben, in denen heute großer Mangel herrscht: Pflege, Kindergarten, Handwerk, Gastronomie … Kinder aus Akademikerfamilien oder mit gut situierten Eltern, bei denen die schulischen Defizite eher ausgeglichen werden können, studieren dann ja lieber oder ergreifen Berufe mit höheren Löhnen.