Was tun wir als Gesellschaft unseren Kindern gerade nur an?

Kürzlich las ich ein paar Meldungen, die mich doch reichlich schockiert haben – und die mich daran zweifeln lassen, dass in unserer komplett wachstums- und konsumorientierten Gesellschaft noch überwiegend glückliche Kinder mit wachem Geist aufwachsen können.

Vor knapp zehn Jahren hab ich zu dem Thema schon mal einen Artikel geschrieben, und seitdem hat sich daran leider nicht viel zum Positiven geändert – eher das Gegenteil ist der Fall. Das lässt sich zumindest aus den oben bereits angesprochenen Meldungen schließen:

Zum einen wäre da ein Artikel von Quarks, in dem die Frage aufgeworfen wird, ob Social Media unsere Konzentration kaputt macht. Neben einigen interessanten allgemeinen Ausführungen zum Thema Aufmerksamkeit wurde darin dann auch berichtet:

Nach der Annahme von Gloria Mark lässt sich so die Konzentrationsfähigkeit vergleichen. Lag dieser Wert 2004 noch bei 2,5 Minuten, so sank dieser im Jahr 2019 auf 47 Sekunden. Nach dieser Untersuchung könnte man annehmen, unsere Aufmerksamkeit sinkt tatsächlich.

Für die Wissenschaftlerin liegen die Gründe in der immer herausfordernderen Umwelt. Handy, Computer und Apps buhlen geradezu um unsere Aufmerksamkeit. Dabei werden die Inhalte immer schneller und kürzer.

Was dann allerdings auch gleich danach schon wieder etwas relativiert wurde:

Es könnte also sein, dass unsere Aufmerksamkeit nicht schlechter wird, sondern wir sie heute anders und flexibler nutzen.

Allerdings wurde dann auch noch festgestellt, dass Unternehmen unsere Aufmerksamkeit gezielt manipulieren, um uns so zu ihren Produkten/Angeboten zu führen bzw. zu Inhalten, die damit zusammenhängen. Dort weiß man nämlich genau, dass das Belohnungssystem im Gehirn aktiviert werden kann durch das ständige Aufrufen von Social-Media-Inhalten – was dann wiederum zu einem Suchtverhalten führen kann. Und das dürfte bestimmt jeder von Euch schon mal beobachtet haben bei sogenannten Smombies, die ständig und überall nur auf ihr Smartphone fixiert sind.

Und wenn dann noch Tipps folgen, wie man denn seine Konzentration verbessern kann, dann scheint da ja doch einiges im Argen zu liegen und es nicht einfach nur eine andere Art von Aufmerksamkeit zu sein …

Zumal das Problem, wie ein Artikel auf Utopia darstellt, mittlerweile auch in der Wissenschaft angekommen ist. Darin geht es um die Fragestellung, wie viel Zeit vor allem Kinder vor Bildschirmen, insbesondere von Smartphones, verbringen sollen – was offenbar ein ständiger Streitpunkt in zahlreichen Familien ist. So heißt es in dem Artikel:

Mit konkreten Tipps wollen Fachleute Eltern helfen, die Bildschirmzeit ihrer Kinder zu begrenzen. Für Kinder und Jugendliche sei es umso besser, je weniger Zeit sie vor Bildschirmen verbringen, heißt es in einer medizinischen Leitlinie, die unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) und mit Beteiligung der Uni Witten/Herdecke entstanden ist. Darin geht es darum, einer Suchtentwicklung vorzubeugen.

Im Zusammenhang mit der übermäßigen Nutzung von Bildschirmmedien wird nicht nur Computerspielsucht, sondern auch Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Empathieverlust und schlechte Schulleistungen als Negativfolgen genannt.

Womit wir dann auch schon wieder bei den Konzentrationsschwierigkeiten wären – und noch bei einigen anderen unschönen Folgen von zu viel Bildschirmzeit.

Die Empfehlungen zu Nutzungszeiten dieser Experten lesen sich dann auch recht sinnvoll – nur sagt mir meine Erfahrung, dass die allermeisten Kids heutzutage deutlich darüber liegen werden. Und auch der Hinweis, dass Kinder am besten erst ab zwölf Jahren ein Smartphone haben sollten, würde mit Sicherheit die kognitive und soziale Entwicklung vieler Heranwachsender günstig beeinflussen. Aber auch da sieht man an der Realität, dass es meistens anders abläuft und schon kleine Kinder im Grundschulalter (oder sogar davor) ein eigenes Smartphone haben – oder zumindest das der Eltern häufig nutzen, nicht selten auch, um damit ruhiggestellt zu werden, beispielsweise bei Restaurantbesuchen (kann ich leider immer wieder beobachten).

Und wenn man sich dann noch überlegt, was viele Kids vor allem im Internet machen, nämlich TikTok mit seinen ultrakurzen Inhalten nutzen, dann ahnt man, wie sich das fatal auf die Aufmerksamkeit auswirkt – das habe ich ja vor einem guten halben Jahr schon mal in einem Artikel beschrieben.

Als Resultat all dessen verwundert einen dann diese Grafik, die ich auf Facebook entdeckte, auch nicht mehr sonderlich (die Quelle dazu findet sich dann hier):

Dabei will ich nun gar nicht auf die regionalen Unterschiede der einzelnen Bundesländer eingehen, denn diese können verschiedene Ursachen haben: Anteil der Kinder, die bei der Einschulung nicht oder kaum Deutsch können, Größe der Klassen (auf dem Land eher noch mal kleiner als in der Stadt), Versorgung mit vorschulischen Angeboten, Bildungsgrad der Eltern usw. Erschreckend ist für mich vor allem, dass man also feststellen kann, dass etwa ein Drittel der Neuntklässler nicht in der Lage sind, ihrem Alter entsprechend zu lesen.

Und Lesen ist ja nun nicht einfach nur irgendein Schulfach, was man dann eben durch gute Leistungen in einem anderen ausgleichen kann, sondern eine elementare Kulturtechnik, die nicht nur für jedes andere Schulfach relevant ist (selbst in Mathe gibt es Textaufgaben), sondern auch grundsätzlich die Basis dafür bildet, sich die Welt zu erschließen und Dinge zu verstehen. Gerade wenn es um komplexere Zusammenhänge geht, die sich eben nicht in einem kurzen Video (für längere reicht dann ja oft die Aufmerksamkeit nicht mehr) oder einem Meme mit ein paar Schlagworten darstellen lassen.

Blöderweise wird unser Leben immer komplexer und auch komplizierter, zumindest wenn man nicht einfach nur als kleines Konsumhäschen durch die Welt hoppeln möchte.

So verwundert es dann auch nicht, dass immer mehr Jugendliche (laut einem Artikel von News4Teachers knapp die Hälfte aller Abiturienten) Influencer oder Content Creator werden möchte. Der Vorteil davon: Dafür muss man keine Ausbildung haben und auch nicht wirklich viel wissen, sondern es reicht oftmals schon, die Leute dichtzutexten und dann zu hoffen, dass Firmen darauf anspringen und einen als Werbemaskottchen nutzen. Der Nachteil: Es muss deutlich mehr User als Influencer geben – was ja bei jeder Form der kreativen Produktion der Fall ist -, und da ist dann eine Zahl von „knapp die Hälfte“ irgendwie nicht mehr so richtig passend, sodass das Scheitern von einem Großteil dieser Möchtegern-Influencer schon vorprogrammiert ist.

Und dann? Tja, dann müsste man es wohl mal mit einer anderen Arbeit versuchen – blöd nur, wenn man dann nicht in der Lage ist, vernünftig lesen zu können, und eine Aufmerksamkeitsspanne von maximal wenigen Minuten hat. Da gestaltet sich dann jede Ausbildung und jedes Studium als recht schwierig.

Das alles wird sehenden Auges in Kaufe genommen, denn Experten wie der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer warnen ja schon seit vielen Jahren – noch zu Vor-Smartphone-Zeiten – vor den Konsequenzen von überbordendem Bildschirmkonsum (s. beispielsweise hier). Es scheint also völlig in Ordnung zu sein, Kinder in großem Stil zu verblöden (ich weiß, ein krasser Begriff, aber ich hab den hier jetzt mal ganz bewusst gewählt), sodass viele von ihnen erhebliche Schwierigkeiten haben werden, sich in einer zunehmend komplexeren Welt zurechtzufinden. Hauptsache, es gibt ordentlich Wachstum und die lieben Kleinen sind brave (Bildschirm-)Konsumenten.

Der Neoliberalismus frisst seine Kinder – diesmal im wahrsten Sinne des Wortes.

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Karl

Jahrgang 1969, ist nach einem Lehramtsstudium und diversen beruflichen Tätigkeiten seit 2002 freiberuflicher Lektor (Auf den Punkt). Nach vielen Jahren in Hamburg, lebt er nun seit November 2019 in Rendsburg. Neben dem Interesse für politische Themen ist er ein absoluter Musikfreak und hört den ganzen Tag Tonträger. An den Wochenenden ist er bevorzugt in Norgaardholz an der Ostsee und genießt dort die Natur.

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