Rostock-Lichtenhagen 1992 – Parallelen zur heutigen Flüchtlingspolitik

Mehr oder weniger zufällig stieß ich bei der Lektüre eines Buches (Wolfgang Schorlau: Die schützende Hand – Rezension demnächst hier auf unterströmt) auf den ZDF-Journalisten Jochen Schmidt, der 1992 für die Sendung Kennzeichen D aus Rostock-Lichtenhagen von den dortigen Pogromen berichtete und in den vom rechten Mob attackierten Häusern war. Seine Recherchen zu den Vorfällen, die er selbst so unmittelbar miterlebte, brachte er zu Papier in Form des Buches „Politische Brandstifter“ von 2002. Klingt jetzt alles ein bisschen vorgestrig? Abwarten, denn vieles, was in den letzten Jahren in Deutschland geschah an rechtem Terror, erscheint mit Bezug auf Schmidts Aussagen in einem etwas anderen Licht.

Das Buch selbst habe ich nun nicht gelesen (und das ist auch nicht mehr regulär im Buchhandel erhältlich), aber ein paar Rezensionen dazu (hier, hier, hier und hier) liefern dann schon ganz gute Informationen, worum es Schmidt vor allem geht: Seine These ist, dass die Geschehnisse in Rostock-Lichtenhagen ein politisch so gewolltes Fanal waren. Der Grund dafür: Die damalige Helmut-Kohl-Bundesregierung wollte eine Grundgesetzänderung des Artikels 16a durchbringen, indem das Recht auf Asyl durch die Einreise aus als sicher deklarierten Drittstaaten verwirkt sei. Dies ist de facto natürlich eine massive Asylrechtsverschärfung, wenn nicht gar Abschaffung des Grundrechts auf Asyl – und hierfür war die SPD zunächst nicht zu gewinnen. Da es für eine Grundgesetzänderung allerdings eine Zwei-Drittel-Merhheit braucht, benötigte man Stimmen aus der Opposition. Nach den Geschehnissen von Rostock-Lichtenhagen stimmten nun genug SPD-Parlamentarier für die Änderung, sodass diese erforderliche Mehrheit erreicht wurde.

Schmidt kann diesen Vorgang nicht bis ins allerletzte Detail belegen, liefert aber in seinem Buch anscheinend derartig viele Indizien, sodass dieser Schluss durchaus legitim erscheint: Auf mehreren Ebenen haben öffentliche Stellen dazu beigetragen, dass die Situation in Rostock eskalierte, angefangen von der Begrenzung der Unterbringungsmöglichkeiten, sodass viele Menschen vor der Unterkunft in Rostock-Lichtenhaben kampieren und (natürlich sehr zum Unmut der Anwohner) ihre Notdurft in Gebüschen und Ähnlichem verrichten mussten, bis hin zum Verhalten der Polizei vor Ort, die den Mob irgendwann gewähren ließ und sogar nicht verhinderte, dass Feuerwehrleute bei Löscharbeiten attackiert wurde. Diese Vorwürfe erhält Schmidt auch nach wie vor aufrecht, wie aus einem Artikel von Mobile Marburgnews vom Februar dieses Jahres hervorgeht – und er zeigt auch Parallelen zur aktuellen Flüchtlingsdebatte auf.

Interessant ist hierbei vor allem auch der letzten Absatz aus der oben schon einmal verlinkten Rezension des Buches von Dr. phil. Peer Heinelt von 2004:

Auf der Basis der Ergebnisse akribischer Recherchen hat Jochen Schmidt eine wichtige zeitgeschichtliche Dokumentation vorgelegt. Daß sich das von ihm beschriebene Szenario wiederholt, ist nicht auszuschließen, aber zur Zeit eher unwahrscheinlich. Nicht weil der in der deutschen Bevölkerung vorhandene latente Rassismus nicht wieder manifest werden könnte – noch dazu, wenn wie 1992 Flüchtlinge der Öffentlichkeit als „Dreckschweine“ vorgeführt werden. Sondern weil der staatlich-institutionelle Rassismus, der sich durch ein brutales Grenz- und Abschiebungsregime und eine restriktive „Ausländergesetzgebung“ auszeichnet, den populistischen Rassismus, das Pogrom, nicht mehr braucht: Die Festung Europa ist dicht.

Und just im letzten Jahr hat sich dann gezeigt, dass die Festung Europa eben nicht dicht ist. Also fiel die von Heinelt erwähnte Voraussetzung weg – und der beschriebene Apparat begann fast genauso wieder zu funktionieren: Flüchtlinge wurden in verrohter Weise diffamiert (hier erwiesen sich gerade die AfD und ihre Anhänger mal wieder als dienstbare Gehilfen der CDU – s. dazu auch diesen unterströmt-Artikel), Straftaten wurden begangen, die durchaus an Pogrome erinnerten, der „Druck von der Straße“ wurde also erneut wieder aufgebaut – und das Asylrecht wurde wie schon 1992 verschärft, und das seit November letzten Jahres gleich mehrfach. Dass Angela Merkel sich durch ihre „Wir schaffen das“-Rhetorik dabei effektiv selbst aus der Schusslinie nimmt, ist ein sehr gewiefter Schachzug, der nach wie vor von vielen Menschen und Medien in Deutschland nicht so recht durchschaut wird (s. dazu diesen unterströmt-Artikel von vor gut einem Jahr).

Vor diesem Hintergrund bekommt auch die Tatsache, dass die Bundesregierung, und hier das Bundesministerium des Inneren im Besonderen, immer wieder fälschlicherweise behaupteten (s. dazu dieses entlarvende Video von Jung & naiv), von der großen Anzahl der Flüchtlinge überrascht worden zu sein: Nur so konnte durch fehlende Vorbereitung und dann improvisierte Unterbringung beispielsweise in Turnhallen und Schulen der Volkszorn hinreichend angeheizt werden, um sich die nötige vermeintliche Legitimation zur Asylrechtsverschärfung zu geben.

Natürlich gibt es auch hierfür keine dahin gehenden letztendlichen Beweise, dass einer der Beteiligten konkret ausspricht, dass hier auf Kosten der Schwächsten politisch taktiert wurde, aber die Parallelen zu 1992 bestärken die damals schon von Jochen Schmidt geäußerten Vorwürfe noch einmal, wie ich finde. Wenn die damalige Eskalation schon auf unglaublich vielen angeblichen Zufällen und vermeintlicher Unwissenheit basierte, so wird eine Wiederholung der Ergebnisse, bei der erneut Ahnungslosigkeit der Verantwortlichen suggeriert werden soll, doch eher zu einer Farce. Vielleicht haben ja die dafür Verantwortlichen gehofft, dass mittlerweile hinreichend Gras über die Vorfälle von Rostock-Lichtenhagen gewachsen wäre …

Für mich stellt es sich so dar, dass eine CDU-geführte Bundesregierung sich rechtsradikaler Straftäter bedient, um grund- und menschenrechtsfeindliche Politik zu machen. Wem das nun etwas zu weit hergeholt vorkommt, der sollte sich vielleicht noch mal die Geschehnisse rund um den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) ins Gedächtnis rufen und sich fragen, ob eine derartige Form von Staatsterrorismus in Deutschland wirklich kategorisch auszuschließen sei.

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Karl

Jahrgang 1969, ist nach einem Lehramtsstudium und diversen beruflichen Tätigkeiten seit 2002 freiberuflicher Lektor (Auf den Punkt). Nach vielen Jahren in Hamburg, lebt er nun seit November 2019 in Rendsburg. Neben dem Interesse für politische Themen ist er ein absoluter Musikfreak und hört den ganzen Tag Tonträger. An den Wochenenden ist er bevorzugt in Norgaardholz an der Ostsee und genießt dort die Natur.

Ein Gedanke zu „Rostock-Lichtenhagen 1992 – Parallelen zur heutigen Flüchtlingspolitik“

  1. Eine weitere Parallele zwischen den Ereignissen von 1992 und heute ist mir über Nacht noch in den Sinn gekommen: In beiden Fällen sind die Täter und Verantwortlichen weitestgehend straffrei ausgegangen. Insofern scheint mir, gerade auch mit dem Wissen über die geheimdienstlichen Verstrickungen zum NSU, die Vermutung nicht allzu weit hergeholt, dass einige der Anschläge auf Flüchtlinge und die spektakulärsten rechten Ausschreitungen (Heidenau, Freital …) mit großer Wahrscheinlichkeit von V-Leuten inszeniert wurden.

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