Rettung des Rentensystems – es wird immer absurder

Der Focus schreibt heute: So wollen Experten das Rentensystem retten. Na ja, bei der Ausrichtung des Focus kann man sich ja schon in etwa vorstellen, was da dann so kommt, aber dieser Artikel ist wirklich eine Höchstleistung im Niveau-Limbo, da nahezu alle falschen Klischees bemüht werden, die uns seit Jahren zum Thema Rente immer und immer wieder aufgetischt werden.

Doch schauen wir uns mal im Einzelnen an, was dort so verbreitet wird:

Weniger Geld im Alter und höhere Beiträge für die Rentenversicherung – darauf muss sich Deutschland einstellen, wenn sich nichts Grundlegendes ändert. Selbst eine weitere Anhebung des Renteneintrittsalters, höhere Löhne und eine gute Entwicklung der Konjunktur ändern daran wenig, so eine Studie der Ruhr-Universität Bochum im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, die am Montag veröffentlicht wurde.

Tja, das Szenario kennen wir ja schon hinlänglich, und Altersarmut ist mittlerweile ein durchaus präsentes Thema – nur vermutlich (noch) nicht für die Leserschaft des Focus. Interessant wird es natürlich, wenn man sieht, wer denn da zu irgendwelchen Forschungsergebnissen gekommen ist, und siehe da: eine Studie im Auftrag von Bertelsmann. Wes Geld ich nehm, des Lied ich sing, sagt der Volksmund und trifft damit ziemlich ins Schwarze. Wer ein bisschen mehr über Bertelsmann erfahren möchte, dem sei empfohlen, hier auf den Nachdenkseiten ein bisschen zu stöbern, da findet sich etliches Interessantes dazu, was vor allem zeigt, dass das nicht nur irgendwelche putzig-harmlosen Fernsehmacher sind, sondern dass Bertelsmann schon immer vorn mit dabei ist, wenn es darum geht, neoliberales Gedankengut zu transportieren und auch umzusetzen (so wie beispielsweise auch die Privatisierung der Rente).

Das Kernproblem der deutschen Rentenversicherung ist der demografische Wandel: Immer mehr Rentner müssen von immer weniger Arbeitnehmern alimentiert werden. Heute beträgt der Anteil der über 65-Jährigen an der deutschen Bevölkerung 30 Prozent. Bis zum Jahr 2060 wird er sich nach Berechnungen der Experten auf 63 Prozent verdoppeln. Außerdem steigt die Lebenserwartung. Schon heute versorgen drei Arbeitnehmer einen Rentner. Im Jahr 2030 werden es nur noch zwei Beitragszahler sein.

Da ist sie wieder, die Lüge von der Demografie. Immer wieder gern und oft verbreitet, aber dadurch wird sie trotzdem nicht wahrer. Wie viel Geld für die Rentner in einer Gesellschaft aufgebracht werden kann, hängt weniger mit deren Altersstruktur zusammen als mit der wirtschaftlichen Produktivität. Einfach gesagt: Wenn irgendwo zehn Leute sind, einer davon alt und nicht mehr arbeitsfähig ist, die anderen neun aber nicht wirklich was Produktives auf die Reihe bekommen, dann wird es schwer, den einen Alten mit zu versorgen. In einer anderen Gruppe von zehn Leuten, in der nur fünf arbeiten und fünf altersbedingt versorgt werden müssen, stellt sich das nicht als Problem heraus, wenn die fünf Arbeitenden in der Lage sind, ordentlich produktiv zu sein. Nicht so kompliziert, oder?

Man kann sich hierfür auch einfach mal die Situation vor Augen führen, wie sie in Deutschland um 1900 vorzufinden war im Vergleich zu 1980: Die Menschen wurden nicht so alt, es gab also wesentlich weniger Rentner, die zudem noch weniger Jahre Rente bekommen haben (s. hierzu die Anmerkung von Gerd Bosbach zu Punkt 8. c). Schon damals hätte man in Bezug auf 1980 genauso ein Szenario malen können, wie das heute im Hinblick auf 2050 oder 2060 gemacht wird: Oh je, alle werden älter, und es werden weniger Menschen geboren – wie sollen wir denn dann bloß später mal die Renten bezahlen? Tja, nun hat das aber doch ganz gut geklappt, und die Renten waren dann 70, 80 Jahre später sogar deutlich höher als noch 1900. Wieso? Ganz einfach: Die Produktivitätsgewinne der Wirtschaft sind zu einem guten Teil in den Taschen derjenigen gelandet, die diese Gewinne auch erarbeitet haben. Das ist seit den 1990er-Jahren nicht mehr der Fall (s. dazu hier), was nun nicht bedeutet, dass es keine Produktivitätsgewinne mehr gibt, nur werden diese eben seitdem recht einseitig verteilt, sodass die Lohnquote immer niedriger ausfällt und große private Vermögen sowie Kapitalmarkterträge enorme Zuwächse zu verzeichnen haben. Und diese zahlen nun mal nicht so richtig in die Sozialkassen ein …

Ein weiterer Aspekt sind die demografischen Prognosen. Wolfgang Lieb bezeichnet diese hier sehr treffend als Kaffeesatzleserei, aber leider werden uns diese Voraussagen ja ständig, wie auch hier im Focus-Artikel, als quasi unumstößliche Wahrheiten präsentiert. Man stelle sich dabei nur mal vor, wie wohl im Jahre 1913 solche Prognosen für das Jahr 1970 ausgesehen hätten – vermutlich komplett anders, als die tatsächliche Bevölkerungsstruktur sich dann durch zwei Weltkriege, Babyboom und Pillenknick tatsächlich entwickelte. Und wenn man nun auch noch berücksichtigt, dass die Entwicklung der Steigerung des Lebensalters bei reichen Menschen deutlich anders aussieht als bei armen (s. dazu hier) und wir mit zunehmend armen alten Menschen zu rechnen haben, dann werden solche Vorausberechnungen komplett irrwitzig.

Was soll man also von einer wissenschaftlichen Studie halten, die nicht nur von volkswirtschaftlich falschen Zusammenhängen ausgeht, sondern sich auch noch auf zwangsläufig extrem unpräzises Datenmaterial stützt? Richtig: gar nichts!

Damit das System finanzierbar und leistungsfähig bleibt, fordern die Wissenschaftler einen grundlegenden Umbau der Alterssicherung. Als eine Option schlagen sie vor, dass künftig auch Selbstständige und Beamte Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen.

Jetzt wird es abenteuerlich, denn nun kommen die Lösungsvorschläge. Da wird uns die ganze Zeit gepredigt, dass das Umlageverfahren ja nun aufgrund der Demografie nicht mehr tragfähig sei, und dann sollen auf einmal diejenigen, die bisher nicht daran teilhaben, genau auch in die gesetzliche Rente miteinbezogen werden. Was denn nun? Entweder man stärkt das Umlageverfahren oder aber man demontiert es (wie ja durch etliche Maßnahmen der letzten Jahre – Senkung des Rentensatzes, Nullrunden für Rentner, Erhöhung des Renteneintrittsalters usw. – geschehen). Ein Konzept kann ich bei solchen Vorschlägen nicht im Ansatz erkennen. Aber darum geht es vermutlich auch gar nicht.

Als weiteren Vorschlag für ein bezahlbares Rentensystem bringen die Forscher eine „Basisrente mit Fertilitätsfaktor“ ins Gespräch, bei der die Zahl der Kinder berücksichtigt wird. Es sei eine „Fehlkonstruktion“, so die Forscher, dass die Renten im derzeitigen Umlagesystem immer vom Einkommen der künftigen Generation abhingen, die Kosten für diese Generation aber nur die Familien trügen – und nicht die kinderlosen Erwachsene. […]

Deshalb wollen die Forscher diesen Nachteil mit einer „Kinderrente“ ausgleichen. Die funktioniert so: Im ersten Schritt wird der Beitragssatz für die Rentenversicherung eingefroren. Jeder erhält nur noch eine Basisrente. Der zweite Schritt ist die Einführung der „Kinderrente“. Sie gewährt allen Eltern im Rentenalter Leistungen, die sich an der Zahl ihrer Kinder bemessen. Wer drei Kinder und mehr hat, kommt zusammen mit der Basisrente auf ein Rentenniveau, das mit 48 Prozent des Jahresdurchschnittseinkommens etwa dem heutigen entspricht. Wer weniger als drei oder gar keine Kinder hat, erhält nur geringere oder sogar gar keine Zuschläge auf die Basisrente und muss privat fürs Alter vorsorgen. „Von Kinderlosen und Kinderarmen würde zusätzlich ein deutlich höheres Maß an privater Altersvorsorge verlangt“, heißt es in der Studie. Das werde sich womöglich „langfristig positiv auf die Fertilität“ auswirken, mutmaßen die Forscher.

Mal davon abgesehen, dass auch durch die Steuern von Kinderlosen öffentliche Infrastruktur, die in erster Linie Kindern zugutekommt (z. B. Schulen), bezahlt werden, birgt dieser Vorschlag nun allerhand sozialen Sprengstoff.

Was ist denn beispielsweise mit Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen keine Kinder bekommen können? Die dürfen also ihr Leben lang ackern, nur um dann im Alter von nicht mehr als der Grundsicherung leben zu können. Homosexuelle trifft dies genauso, sodass hier eine massive Diskriminierung von Staatsseite gefordert wird.

Zudem finde ich es bedenklich, die Familienplanung mit monetären Anreizen beeinflussen zu wollen. Klar, Eltern brauchen zusätzliche Leistungen vom Staat, weil Kinder eben einiges kosten, aber ist es wirklich sinnvoll, Kinderkriegen zum Zwang zu machen, damit man später im Alter nicht in Armut leben muss? Und was für Menschen werden dann gerade dazu gebracht, möglichst viele Kinder in die Welt zu setzen? Wohl eher nicht diejenigen, die dies aus guter Überlegung und ehrlichem Kinderwunsch heraus machen, sondern diejenigen, die sich Geldvorteile davon versprechen. Tolle Voraussetzungen für liebende Eltern … Und warum dann nicht auch gleich wieder das Mutterkreuz aus der Mottenkiste der deutschen Geschichte hervorkramen, wenn man schon mal dabei ist, Kinderreichtum zur Staatsräson zu erklären?

Aber die Lösung für alle anderen wird ja auch gleich mitgeliefert: die private Rentenversicherung. Dass zahlreiche Anbieter dieser Finanzprodukte mittlerweile aufgrund der Finanzkrise nicht mehr in der Lage sind, die ehedem gemachten Renditeversprechen einzuhalten, und dass uns spätestens der Kollaps des Finanzwesens 2008 gezeigt hat, dass auch große Banken und Versicherungen einfach so pleitegehen können – geschenkt! Das passt schließlich nicht ins neoliberale Weltbild, das hier durch diesen Artikel vermittelt werden soll. Und vor allem würde so was auch die Anzeigenkunden, die direkt unter dem Artikel ihre Werbung für Riester- und Rürup-Produkte platziert haben, nicht erfreuen …

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Karl

Jahrgang 1969, ist nach einem Lehramtsstudium und diversen beruflichen Tätigkeiten seit 2002 freiberuflicher Lektor (Auf den Punkt). Nach vielen Jahren in Hamburg, lebt er nun seit November 2019 in Rendsburg. Neben dem Interesse für politische Themen ist er ein absoluter Musikfreak und hört den ganzen Tag Tonträger. An den Wochenenden ist er bevorzugt in Norgaardholz an der Ostsee und genießt dort die Natur.

Ein Gedanke zu „Rettung des Rentensystems – es wird immer absurder“

  1. Jens Berger von den Nachdenkseiten hat sich hier heute auch zu diesem absurden Vorschlag geäußert.
    Dass die Idee von Hans-Werner Sinn stammte, war mir bisher noch gar nicht klar, ist aber auch nicht weiter verwunderlich …

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