Unglückliche kleine Egozentriker

Vor ein paar Wochen machte ein Interview mit dem Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff im Netz die Runde, welches dieser aufgrund des Erscheinens seines neuen Buchs SOS Kinderseele dem Schweizer Tages-Anzeiger gab. Hierin beschreibt Winterhoff eine aus seiner Sicht fatale Umkehr in der familiären Hierarchie, sodass Eltern nur noch als Bedürfniserfüller ihrer Kinder fungieren, was dazu führt, dass die Kinder erhebliche Entwicklungsdefizite aufweisen.

Die von Winterhoff beschriebenen Dinge konnte und kann ich selbst auch immer wieder beobachten, wenn man mit Eltern und ihren Kindern zu tun hat. Das Kind wird geboren, und es wird sogleich auf einen goldenen Thron gesetzt, von dem aus es nun das gesamte Leben der Eltern regiert (ich selbst kenne etliche Eltern, insbesondere Mütter, die grundsätzlich über nichts anderes mehr reden als über ihre Kinder). Dass die Eltern dabei selbst eine zumindest latente Unzufriedenheit entwickeln, da ihre eigenen Bedürfnisse nun überhaupt keine Relevanz mehr haben (dürfen), führt m. E. zu einer ungesunden Beziehung zwischen Eltern und Kindern, in der Vater und Mutter ihre Unzufriedenheit dadurch zu kompensieren versuchen, dass sie dem Nachwuchs noch mehr Wünsche erfüllen. Das Resultat dieser Erziehung manifestiert sich dann in Dingen, wie sie in der Hamburger Morgenpost von einer Lehrerin in einem Brief geschildert werden: Jegliche Form von Sozialverhalten ist nur unzureichend entwickelt, kleine Egoisten ohne Empathie und Rücksicht gegenüber anderen leben ihre Aggressivität recht ungezügelt aus. Auch diese Verhaltensweisen sind mir persönlich nicht fremd, wenn ich Kindern und Jugendlichen begegne, was ja auch schon im Artikel Verrohung als Prinzip hier auf unterströmt zum Ausdruck kam. Problematisch wird es nun aber vor allem (was man gut an den Reaktionen der Eltern auf den Brief der Lehrerin sehen kann), weil niemand nach einer Lösung sucht, sondern nur gegenseitige Schuldzuweisungen gemacht werden: Die Lehrerin fühlt sich von den Eltern im Stich gelassen, und diese sind wiederum der Ansicht, dass in der Schule (oder auch schon im Kindergarten) nicht genug auf die Bedürfnisse ihrer Kinder eingegangen wird, sodass diese Institutionen schuld an der Misere seien.

Als wenn das nun noch nicht komplex genug wäre, muss man nun auch noch technologische Entwicklungen mitberücksichtigen (Fernsehen rund um die Uhr sowie omnipräsente Bildschirme von Computern, Tablet-PCs und Smartphones), deren schädliche Einflüsse schon vor neun Jahren von dem Hirnforscher Manfred Spitzer aufgezeigt wurden (wie in einem Interview mit dem Deutschlandfunk nachzuvollziehen ist) – zu einer Zeit also, als Smartphones noch nicht verbreitet waren, sodass zu befürchten ist, dass die von Spitzer beschriebenen Auswirkungen der Bildschirme auf die kindliche Psyche und Entwicklung (auch die physische) heute eher noch massiver sind. Oder um es mit Albert Einstein zu sagen: Ich fürchte den Tag, an dem die Technologie die wichtigsten Elemente menschlicher Verhaltensweisen strukturiert. Die Welt wird nur noch aus einer Generation von Idioten bestehen. Die mittlerweile verbreitete (nicht nur bei Kindern und Jugendlichen) exzessive Nutzung der Smartphones scheint ihm da leider recht zu geben … Auch Wolfgang Lieb von den Nachdenkseiten schildert in einem Beitrag über das kommerzielle private Fernsehen dessen Auswirkungen auf Heranwachsende:

Schaut man sich allerdings die Nachmittags-Sendungen von RTL an, dann tragen diese geradezu zu Unbildung, ja zu Verrohung der Jugendlichen bei. Von den dort gebotenen negativen Verhaltensvorbildern sind nach wissenschaftlichen Untersuchungen vor allem Kinder aus sog. bildungsfernen Schichten betroffen, die statistisch auch mehr fernsehen. Selbst in Nachmittagsprogrammen mit hohen Einschaltquoten von Jugendlichen werden Filme mit brutalen Gewaltdarstellungen angeboten. Und nicht zuletzt werden die Gewinne dadurch gemacht, dass mit psychologischer ausgeklügelter Werbung, die gerade auf Jugendliche und Kinder abzielt, gewissenlos deren Identitätssuche ausgenutzt wird.

Und dann kommen noch weitere Zeitgeistphänomene hinzu, wie sie in diesem Artikel vom Sozialwissenschaftler Götz Eisenberg auf den Nachdenkseiten geschildert werden. Spätestens nun sollte klar sein, dass hier unterschiedlichste Einflüsse auf die Kinder und Jugendlichen der heutigen Zeit einwirken und ihre Entwicklung hin zu den von Winterhoff problematisierten Persönlichkeiten bewirken, sodass einseitige Schuldzuweisungen alles andere als zielführend sind.

Nun kann man einwenden, dass jede Generation die nachfolgende Generation mit Skepsis betrachtet hat. Nur handelt es sich bei den hier beschriebenen Phänomenen m. E. nicht mehr um einen gesunden (und zudem gesellschaftlich wichtigen) Generationskonflikt, der normalerweise davon geprägt ist, dass junge Menschen andere, neue Wege gehen und progressiveren Ideen anhängen als ihre Elterngeneration. Der heutige Zeitgeist führt m. E. dazu, dass elementare menschliche Eigenschaften, die die Voraussetzungen für das Zusammenleben mit anderen bilden, verkümmern und nur rudimentär ausgebildet werden. Da geht es dann nicht um Einstellungen, Politik oder Kultur, an deren Verschiedenartigkeit sich unterschiedliche Generationen schon immer gerieben haben, sondern um wesentlich grundlegendere Dinge, nämlich die Basis dafür, dass es überhaupt erst zu einem Austausch von Vorstellungen mit anderen kommen kann. Und was für mich dabei der entscheidendste Aspekt ist: Der Großteil der Kinder, die ich heute aufwachsen sehe, wirkt auf mich einfach nicht glücklich: ständig am Weinen, Quengeln, Etwas-haben-Wollen, Streiten, Schreien, Zetern, selten nur mal in sich ruhend, intensiv mit einer Sache beschäftigt oder im lebhaften, fröhlichen Austausch mit anderen. Dies sind für mich zumindest keine Attribute, die darauf hindeuten, dass es jemandem gerade gut geht. Auch die Eltern berichten zunehmend von den Problemen und Schwierigkeiten, die ihr Nachwuchs so hat: Leistungsdruck in Sportverein und Schule (Letzteres noch mal verschärft durch G8), Lernprobleme, Mobbing von Mitschülern, Zwist mit Spielkameraden und Geschwistern …

Nun wurde ich neulich im Zuge der Diskussion dieses Phänomens auf einen Vortrag des Neurobiologen Prof. Gerald Hüther (es lohnt sich, das etwa 20 Minuten lange Video komplett anzuschauen) aufmerksam gemacht, dessen Quintessenz ist: Wer glücklich ist, kauft nicht! In einer zunehmend in allen Bereichen ökonomisierten Gesellschaft, deren Wertorientierung sich zunehmend auf Dinge wie Wettbewerbsfähigkeit und Konkurrenzdenken beschränkt, ist es natürlich wichtig, dass Heranwachsende zu braven Konsumenten werden. Also besteht m. E. durchaus ein Interesse vonseiten der Wirtschaft (und damit auch der ihr hörigen Politik) daran, Kinder und Jugendliche möglichst unglücklich aufwachsen zu lassen, damit diese frühzeitig das Kaufen von Dingen (die sie oftmals gar nicht wirklich brauchen oder haben wollen) als (möglichst einzigen) Weg zum Glücklichsein verinnerlichen. Viele politische Entscheidungen und Entwicklungen, die zu dem oben beschriebenen Zeitgeist geführt haben, erscheinen in diesem Licht betrachtet dann als ausgesprochen sinnvoll. Und das Engagement für möglichst glücklich aufwachsende Kinder wird zu einem Kampf gegen Windmühlen …

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Karl

Jahrgang 1969, ist nach einem Lehramtsstudium und diversen beruflichen Tätigkeiten seit 2002 freiberuflicher Lektor (Auf den Punkt). Nach vielen Jahren in Hamburg, lebt er nun seit November 2019 in Rendsburg. Neben dem Interesse für politische Themen ist er ein absoluter Musikfreak und hört den ganzen Tag Tonträger. An den Wochenenden ist er bevorzugt in Norgaardholz an der Ostsee und genießt dort die Natur.

2 Gedanken zu „Unglückliche kleine Egozentriker“

  1. Christian Zwengel schickte uns einen Leserbrief zu diesem Thema:

    Ich habe in den Medien die Berichterstattung über Winterhoff etwas verfolgt und muss sagen, dass mich die Thesen zunächst auch angesprochen haben. Beruflich habe ich jede Woche mit sehr vielen Kindern und deren Eltern zu tun und habe hier und dort ähnliches beobachtet. Bei mir deutlich nicht so krass wie in den o.g. Brandbriefen der Lehrer etc. beschrieben – aber eine Tendenz ist erkennbar. Ich persönlich glaube, dass in einer Zeit in der die gemeinsame Familienzeit immer knapper wird (durch Arbeit, Kinderbetreuung, Ganztagsschulen etc.) anscheinend die Bereitschaft Konflikte mit den Kindern auszutragen sinkt. Wenn man schon beisammen ist, dann soll auch alles schön sein. Und dann ist man schnell in einer Richtung unterwegs, wie Winterhoff sie beschreibt.
    Ich habe aber auch letztens mit einer Mutter in meinem Umfeld darüber diskutiert die Kinderpsychologin ist. Sie kann den Thesen von Winterhoff z.B. gar nichts abgewinnen…
    Wie immer also nicht schwarz und weiß…

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