Leben in St. Pauli

Neulich wurde ich von einer Freundin, Michaela Schweers, gefragt, ob ich ihr für eine Arbeit im Rahmen ihres Masterstudiums an der School of Architecture Bremen ein paar Fragen zum Wohnen in St. Pauli beantworten könnte. Da der Stadtteil ja zurzeit aufgrund verschiedener Dinge – Gefahrengebiet, Esso-Häuser, Lampedusa-Flüchtlinge –  nicht nur in Hamburg in aller Munde ist, dachte ich mir, dass meine Antworten ein interessanter Einblick in das Leben in St. Pauli sein könnten, anhand dessen eine Vorstellung vermittelt werden kann, wie sich der Stadtteil in den letzten Jahren gewandelt hat.

Wie lange wohnt ihr schon in St. Pauli?

Seit November 2000.

Warum habt ihr euch den Stadtteil ausgesucht bzw. was ist das Besondere an St. Pauli?

Ein Freund von mir hatte hier eine WG und dort gerade ein Zimmer frei, als ich mich von meiner Exfreundin getrennt habe, insofern hatte die Wahl zunächst nicht viel mit dem Stadtteil zu tun.
Als ich dann 2005 mit Regine zusammengezogen bin, war das was anderes, da haben wir uns bewusst für St. Pauli entschieden, da uns das Viertel so gut gefällt. St. Pauli ist im Prinzip wie ein Dorf, und diejenigen, die nur am Wochenende abends auf der Reeperbahn sind, kennen das Quatiert nicht ansatzweise so, wie es wirklich ist. Es gibt hier super Infrastruktur, die Innenstadt und Altona sind schnell erreicht, die Elbe und die Wallanlagen bieten Erholungswert, dazu ist St. Pauli ein extrem weltoffenes und tolerantes Viertel, in dem die unterschiedlichsten Menschen gut miteinander leben. Als einer der (zumindest vor ein paar Jahren noch) ärmsten Stadtteile Deutschlands funktioniert deswegen hier das, was in Betonsilovierteln wie Kirchdorf Süd, Steilshoop, Mümmelmannsberg usw. nicht klappt. Leider wird diese Qualität des Viertels in den letzten Jahren zunehmend torpediert und damit vermindert.

Gibt es den Mythos St. Pauli noch?

Teilweise gibt es den noch, aber eher im Alltäglichen und in kleinen Clubs. Bestimmt nicht auf gehypten Events auf dem Spielbudenplatz (Grand Prix) oder bei Dingen wie dem Schlagermove, den Harley-Days oder Public Viewing von Eventfußball auf dem Heiligengeistfeld. So was trägt eher zur ohnehin schon stattfindenden Ballermannisierung des Quartiers bei, die gerade den Mythos St. Pauli massiv demontiert.

Hat sich der Stadtteil verändert in der Zeit seitdem ihr dort wohnt?

Ja! Die Eventkultur und die damit zusammenhängenden Belastungen (gesperrte Straßen, Lärm, Müll, haufenweise Betrunkene usw.) haben sehr stark zugenommen. Als ich hergezogen bin, gab es drei, vier Events jedes Jahr im Laufe des Sommers, mittlerweile ist fast jedes Wochenende etwas, teilweise so penetrant und die Bewohner beeinträchtigend (Schlagermove und Harley-Days seien hier an erster Stelle genannt), dass wir an diesen Wochenende nur noch aus dem Viertel fliehen können. Zudem wandelt sich die Bevölkerungsstruktur: Da St. Pauli mittlerweile als sehr hip gilt, ziehen zunehmend gut situierte Leute in neue (und überteuerte) Luxuswohnungen – und beschweren sich dann darüber, dass aus Clubs abends Musik tönt. Auch die recht gewalttätige Entfernung der Prostituierten aus der Hopfenstraße, wo diese wohl recht gute Arbeitsbedingungen hatten, als direkt nebenan das Bavaria-Quartier gebaut wurde, fand im Rahmen dieser Gentrifizierung statt (Filmtipp hierzu: „Empire St. Pauli“, ich kann Dir die DVD gern mal ausleihen). Zudem sind mittlerweile viele Wohnungen hier zu WGs geworden, da sich im Rahmen der massiven Mieterhöhungen in den letzten Jahren Familien, Paare und Einzelpersonen die Wohnungen hier bei Neuvermietung nicht mehr leisten können. Dadurch werden viele alteingesessene Bewohner aus dem Viertel verdrängt, und es kommen viele Studenten hierher, die St. Pauli nur als Durchgangsstation zum Partymachen für zwei, drei Jahre sehen – und sich leider auch so verhalten, das heißt, es findet keine Identifizierung mit dem Viertel statt, und Rücksicht auf andere wird sowieso nicht genommen (eine Sache, die St. Pauli immer ausgezeichnet hat).

Passen die neuen Gebäude (z. B. das Hotel von Chipperfield oder die Tanzenden Türme von Teherani etc.) hierher oder wie gefällt euch z. B. der gestaltete Spielbudenplatz mit den verschiebbaren Bühnen?

Ich finde, dass die neuen Gebäude aus vielerlei Gründen überhaupt nicht hierher passen. Zum einen ist es die Architektur, die sich durch ihre Monumentalität eher über das Viertel drüberstülpt als sich darin integriert. Zum anderen haben diese ganzen neuen Gebäude ziemlich fiese Windschneisen gebildet (was vorher schon klar war, wenn man das Viertel kannte und sich die Planung angesehen hat), zudem verdunkeln die schiefen Türme den Anfang der Reeperbahn komplett, da sie diesen hier ihren gewaltigen Schatten werfen. Hamburg hat sich immer durch eine eher flache Bebauung ausgezeichnet, nun wird mitten in einem gewachsenen Wohngebiet auf einmal massiv davon abgewichen. Zudem sind die ganzen leer stehenden Büros in diesen Gebäuden ein eher trostloser Anblick. Obwohl ich einige der Gebäude im Bavaria-Quartier durchaus nicht ungelungen finde, so stehen diese dort m. E. viel zu eng, es gibt viel zu wenig Grün. Das Resultat: Selbst im Sommer bei schönstem Wetter ist dort niemand draußen, die paar aufgestellten Kinderspielzeuge quietschen verlassen im Wind – das hat eher das Flair einer Geisterstadt als das eines belebten Quartiers. M. E. sind diese Neubauten zumindest aus stadtplanerischer Hinsicht ein Desaster, das Architektonische kann man nun je nach Geschmack unterschiedlich bewerten, ich finde, dass die Gebäude überhaupt nichts ins Viertel passen.

Auch die Lösung des Spielbudenplatzes finde ich suboptimal, da hierdurch die oben beschriebene Eventkultur weiter befördert wird. Die Leute, die dorthin gehen, sind ja überwiegend hinterher oder vorher nicht in den Kneipen oder Restaurants, sondern betrinken sich schon auf dem Weg hierhin, saufen dann (möglichst billig) bei Kiosken und früher der Esso-Tanke weiter, schmeißen dann irgendwann mit Flaschen um sich und pinkeln alles voll. Gut, wir haben auf dem Platz nun auch immer mittwochs von 16 bis 23 Uhr den Nachtmarkt, auf dem wir auch immer einkaufen, aber generell hätte ich mir eine Gestaltung des Spielbudenplatzes gewünscht, die sich stärker an den Bedürfnissen der Bewohner von St. Pauli als an denen der Touristen und Auswärtigen orientiert.

Wie seht ihr die Entwicklung bei den Esso-Häusern? Fällt euch dazu eine Lösung ein oder was wäre an der Stelle gut für den Stadtteil?

Was da mit den Esso-Hochhäusern passiert, ist m. E. eine riesige Sauerei. Seit Jahren (schon von den Vorbesitzern, der Familie Schütze) werden an den Häusern keine notwendigen und oft genug eingeforderten Instandhaltungs- und Sanierungsarbeiten durchgeführt, sodass der momentane marode Zustand sehenden Auges herbeigeführt wurde. Es war ja klar, dass der hohe Verkaufspreis von meines Wissens 19 Mio. Euro, den die Familie Schütze 2009 von der Bayrischen Hausbau für das Ensemble erhalten hat, nur bezahlt wurde, da beabsichtigt war, das Grundstück mit hochwertigeren Immobilien als der momentanen Bebauung finanziell aufzuwerten. Dazu ist natürlich alles im Wege, was da zurzeit noch steht. Dass es sich dabei um viele alteingesessene Mieter, Einzelhandelsgeschäfte und auch Gastronomiebetriebe und Clubs (z. B. das weit über Hamburgs Grenzen hinaus bekannte Molotow) handelt, interessierte weder die Schützes, denen es nur um einen hohen Verkaufspreis ging, noch die renditeorientierte Bayrische Hausbau. Und die Politik hat schön dabei zugesehen. Nun sind die Gebäude anscheinend so weit marode (hierzu gibt es übrigens von Anwohnern, mit denen ich sprach, durchaus widersprüchliche Aussagen, die wollen nämlich zum Teil von den Erschütterungen, die zur Räumung führten, nichts gemerkt haben), dass nur noch ein Abriss infrage kommt – und damit genau das, was die Bayrische Hausbau von vornherein wollte (und was eben den hohen Kaufpreis überhaupt nur rechtfertigt). Menschen werden also einfach so von einem Tag auf den anderen aus ihren Wohn- und Arbeitsverhältnissen vertrieben – das erinnert mich eher an China, wenn dort Dörfer wegen Großbauprojekten geräumt werden (was ja hierzulande zu Recht kritisiert wurde).

Die einzige Lösung wäre hier m. E., dass Ensemble genau so, wie es jetzt ist, wieder aufzubauen (natürlich nicht mit den vorhandenen Baumängeln) und allen bisherigen Mietern die Rückkehr zu gleichen Konditionen anzubieten. Was dann nicht vermietet wird, sollte als günstiger Wohnraum vermietet werden. Was die Bayrische Hausbau plant, nämlich eine klotzige High-End-Bebauung, würde den oben beschriebenen Wandel der Viertels nur noch weiter vorantreiben. Auch wenn man zusichert, dass die bisherigen Mieter dort wieder einziehen könnten, so bleibt doch die Frage, wie viele der eher finanzschwachen Bewohner es sich leisten können/wollen, in ein paar Jahren dann schon wieder umzuziehen. Dass dies wohl nicht allzu viel sein werden, darauf dürfte die Bayrische Hausbau schon jetzt spekulieren. Die bisherigen Gebäude waren zwar nicht besonders schön anzusehen, aber sie gehörten zu einem gewachsenen Viertel dazu, zudem war die Bebauung relativ locker. Nun ist zu erwarten, dass eine Bebauung erfolgen wird, die den vorhandenen Platz möglichst optimal ausnutzt, um mehr Mieteinnahmen generieren zu können. Also noch mehr Luxuswohnungen, noch mehr Schickimickiläden für Touristen, noch mehr Büros (oder Hotels – was auch immer, braucht hier im Viertel beides keiner noch mehr von) und letztlich wieder noch weniger davon, was St. Pauli mal zu einem interessanten, lebendigen und bunten Quartier gemacht hat.

Hat sich das Straßenbild stark verändert in Bezug auf die Menschen, denen man in St. Pauli im Alltag begegnet?

Die Menschen, die hier schon lange wohnen, gibt es natürlich immer noch, aber viele von denen wurden im Laufe der Zeit aus dem Viertel verdrängt (s. o.). Was zugenommen hat, ist definitiv seit dem Bau das Bavaria-Quartiers die Zahl der Büroangestellten, die hier arbeiten. So was schlägt sich dann auch auf die weitere Infrastruktur nieder, beispielsweise auf Läden, die Mittagstische für diese Klientel bereitstellen. Zudem ist durch die gestiegene Zahl der Luxuswohnungen die Anzahl der gut situierten Leute gestiegen – und, wie auch schon oben beschrieben, die Menge der kurzzeitigen Stadtteilbewohner in WGs.

Besonders am Wochenende kommt aus dem Umland (und seit ein, zwei Jahren vermehrt auch aus England, wo St. Pauli mittlerweile als eine Art Ballermann beworben wird) immer mehr Eventpublikum nach St. Pauli, weil es eben in ist „auf den Kiez“ zu gehen. Diese zumeist Jugendlichen besuchen dann nicht Kneipen, Restaurants, Clubs oder Theater, sondern stehen/laufen auf der Straße rum und betrinken sich dort. Durch die oben schon geschilderten Events kommt auch immer mehr von dem dazugehörigen Publikum in den Stadtteil – meistens auch alkoholisiert bis über die Contenancegenze hinaus.

Gab es was im Stadtteil, was euch schon immer nicht so gut gefallen hat?

Nein, eigentlich nicht. Die Dinge, die mich stören, sind alle erst in den letzten Jahren hinzugekommen.

Was wünscht ihr euch für euren Stadtteil?

Eine Art von Bestandsschutz vonseiten der Politik wäre mehr als wünschenswert, um wenigstens den Rest des Besonderen, was St. Pauli mal ausgemacht hat, noch zu bewahren. Dazu wäre es notwendig, eine andere Wohnungsbaupolitik mit dem Fokus auf günstigen Wohnraum zu initiieren, zudem sollte die mittlerweile reine Tourismusorientierung zugunsten von Anwohnerbedürfnissen zurückgeschraubt werden. Leider ist das alles recht utopisch, die Entwicklung und auch die Politik des Scholz-Senats gehen leider in die genau entgegengesetzte Richtung.

 

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Karl

Jahrgang 1969, ist nach einem Lehramtsstudium und diversen beruflichen Tätigkeiten seit 2002 freiberuflicher Lektor (Auf den Punkt). Nach vielen Jahren in Hamburg, lebt er nun seit November 2019 in Rendsburg. Neben dem Interesse für politische Themen ist er ein absoluter Musikfreak und hört den ganzen Tag Tonträger. An den Wochenenden ist er bevorzugt in Norgaardholz an der Ostsee und genießt dort die Natur.

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