Homo cupiditas

Im Namen der Menschlichkeit oder humanitäre Hilfe, das klingt eigentlich gut, aber wenn man das mal hinterfragt, dann sind auch diese Begrifflichkeiten nicht mehr als eine hohle Phrase. Ich wache morgens auf, und es dauert nicht lange, bis ich die ersten Makel im Verhalten der „Krone der Schöpfung“ zu Gesicht bekomme. Privat bin ich kein Misanthrop, sondern ich komme mit allen Menschen um mich herum sehr gut klar, ich rede mit Fremden wie mit Bekannten, und meistens werde ich sehr schnell akzeptiert und auch sozial eingebunden. Wenn ich aber zwei Schritte zurückgehe, dann sehe ich wenig positive Eigenschaften, die ich dem Überbegriff „Menschlichkeit“ zuordnen kann. Das gilt im Kleinen (persönlich) wie im Großen (global). Deshalb der Titel: „cupiditas“ (lat.) bedeutet laut Suchmaschine „Gier“.

Aktuell ist Russland in die Ukraine einmarschiert, und ich muss offen gestehen: Das hat mich überrascht! War ich von dem kindlichen Drang nach Anerkennung und strategischem Kalkül wegen der endgültigen Anbindung der Krim an Russland ausgegangen, so hielt ich den Einmarsch von Truppen für absolut unwahrscheinlich. Allerdings muss ich mich im Nachgang wundern, dass es mich überrascht hat, denn was ist wirklich daran überraschend? Menschen sehen den kurzfristigen Gewinn, und dann wird alles andere ausgeblendet, sofern überhaupt so weit gedacht wurde (was erschreckend oft der Fall ist).

Global sehen wir dieses Verhalten in den letzten Jahrzehnten an der Ausbeutung der Umwelt: Ob es um die schonungslose Zerstörung der Umwelt für Rohstoffe geht (Fracking, Ölplattformen, Tagebau …), die rücksichtslose und grausame Massentierhaltung aus ökonomischen Gründen (die uns durch den Einsatz von Antibiotika auch direkt bedroht) oder die menschenverachtenden Bedingungen, unter denen Konsumgüter für uns hergestellt werden: von den Sklavenkindern in den Kakaoplantagen Südamerikas für unseren billigen Schokoladenrausch über die minderjährigen Bergarbeiter für sogenannte „seltene Erden“ für unseren ungezügelten Technikrausch (4K-Fernseher und jährlich neues Smartphone, ohne geht es nicht) bis zu den Näherinnen in Bangladesch für unseren Rausch, die „aktuelle Kollektion“ und den neusten Brand im Kleiderschrank zu haben (um unser mickriges Selbstwertgefühl durch erkaufte Selbstdarstellung aufzuwerten). Es geht nicht um totalen Verzicht, es geht um das Maß und den Preis für den Konsum jeder und jedes Einzelnen.

Auf der persönlichen Ebene sieht das nicht anders aus: Neben der direkten Bereicherung durch Diebstahl und der Gewalt an Minderheiten (die einfach nur anders aussehen oder anders denken) glänzen wir auch mit der Selbstzerstörung unseres Körpers inklusive unseres Gehirns (und aller Ethik und allen Sozialverhaltena darin). Von der Dauerberieselung mit Serien und Streamingdiensten über verstörend einfache Handyspiele (wo man farbige Steine antippt, eine Übung, die jeder Primat um ein Vielfaches schneller und sicherer beherrscht) bis zum physischen Exodus der Gehirnzellen durch Alkohol und Klebstoff. Erinnert mich an das Experiment, bei dem Ratten mit einer Sonde im Gehirn die Auswahl hatten, sich einen Stromstoß in das Belohnungssystem zu schicken oder etwas Wasser zu erhalten: Sie haben so lange auf den Stromstoß gedrückt, bis sie verdurstet waren.

Und dann haben wir da noch die Missgunst: Es gibt diverse Experimente, bei denen Menschen lieber verzichten, als dem „anderen“ mehr zu gönnen, als man selbst erhält. Ich habe mal gelesen, dass die Leute lieber in der längeren Schlange an einer Kasse stehen und dabei weiter in der Mitte als in der kürzeren Schlange ganz hinten, selbst wenn man dann mehr Leute vor sich hat als an der anderen Position in der Mitte. Da versagt sogar der marktwirtschaftliche Ansatz (okay, den kann man ja eh in der Pfeife rauchen): Wenn zwei Leute „zusammen“ 100 Euro erhalten und einer darf die Summe nach seinen Vorstellungen teilen und wenn die zweite Testperson mit der Teilung einverstanden ist, dann behält jeder seinen Anteil oder ansonsten bekommt keiner etwas. Die Tendenz beim Teilen muss deutlich in Richtung 50/50 gehen, denn sonst lehnt die zweite Person lieber ab, denn scheinbar ist entweder Gier oder Ungerechtigkeitsempfinden bei Menschen so ausgeprägt, dass man lieber verzichtet, als sich mit weniger als die andere Testperson zufriedenzugeben (ja, in Richtung „mehr kriegen“ ist der Mensch da wesentlich toleranter, ist also schwer, es dem Gerechtigkeitssinn in die Schuhe zu schieben). Und auch das scheint tief in unseren Genen verankert, denn Affen sind da ähnlich ungehalten, wenn sie weniger erhalten.

Dann drücken wir uns nun alle mal die Daumen, dass es in Sachen Krieg und Atomwaffen nicht nach dem gleichen Muster läuft: „Wenn ich es nicht bekomme, dann soll es niemand haben!“

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Dirk

Jahrgang 1974, in erster Linie Teil dieser Welt und bewusst nicht fragmentiert und kategorisiert in Hamburger, Deutscher, Mann oder gar Mensch. Als selbstständiger IT-Dienstleister (Rechen-Leistung) immer an dem Inhalt und der Struktur von Informationen interessiert und leidenschaftlich gerne Spiegel für sich selbst und andere (als Vater von drei Kindern kommt dies auch familiär häufig zum Einsatz). Seit vielen Jahren überzeugter Vegetarier und trotzdem der Meinung: „Alles hat zwei Seiten, auch die Wurst hat zwei!“

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