Zeitgeistphänomen Misstrauen

Vor Kurzem habe ich mich ja schon mal mit dem Zeitgeistphänomen Angeberei beschäftigt, jetzt möchte ich mich einer anderen zeittypischen menschlichen Verhaltensform zuwenden, dem Misstrauen. Dieses ist mittlerweile so dominant im Denken und Handeln vieler Menschen geworden, dass es mitunter schon fast paranoide Züge annimmt. Vor allem wird auf diese Weise von vielen das Schlechte als grundsätzlich angenommen, auch wenn ihnen gerade wirklich niemand etwas Böses will, sondern das Gegenteil der Fall ist.

Hierzu zunächst mal zwei Beispiele, das erste wurde mir glaubwürdig geschildert, das zweite habe ich schon selbst oft erlebt:

Ein Patient ist bei einem Arzt, der einen durchaus Besorgnis erregenden Befund erstellt und dem Kranken daraufhin anbietet, ihm zur weiteren Untersuchung einen kurzfristigen Termin bei seinem Schwager, der Arzt in einem Krankenhaus ist, in dem die entsprechenden Apparate vorhanden sind, zu vermitteln. Die Wartezeiten für derartige Untersuchungen sind sonst sehr lang, allerdings zeigt sich der Patient nicht erfreut darüber, sondern reagiert erbost und schimpft über die „Vetternwirtschaft“, weil nun sein Arzt aus seiner Sicht einem Verwandten Arbeit zuschanzen wollte. Dass der Arzt hier lediglich deshalb seine persönlichen Beziehungen nutzen wollte, um dem Patienten eine schnellere Untersuchung zu ermöglichen, wird überhaupt nicht in Erwägung gezogen, auch nicht (was der Patient vielleicht nicht wissen kann) dass der ärztliche Schwager im Krankenhaus alles andere als zu wenig zu tun hat und deswegen auf familiäre Unterstützung angewiesen ist (das Gegenteil ist vielmehr der Fall). Doch der Patient ist dermaßen echauffiert, dass er dann später sogar seinem Arzt aufgrund dieses Vorfalls eine sehr schlechte Bewertung in einem Internetportal verpasst.

Ein weiteres ganz alltägliches Beispiel: Wenn ich mit dem HVV fahre und mir dafür eine Tageskarte kaufe, dann gebe ich diese eigentlich, wenn ich dann auf dem Heimweg bin, immer weiter an irgendwelche Leute, die gerade am Fahrkartenautomat stehen und sich eine Karte kaufen wollen, damit diese mein Ticket noch nutzen können (das ist auch vollkommen legal so, nur verkaufen darf man die benutzte Karte nach Ende der Fahrt nicht). Allzu häufig habe ich dann schon erlebt, dass die Angesprochenen total abweisend reagieren, dabei will ich ihnen doch nur etwas schenken, was ihnen Geld spart. Ich weiß nun nicht, was diese Leute dann genau denken, aber in jedem Fall scheint es ihnen ja deutlich wahrscheinlicher, dass sie jemand gerade in irgendeiner Weise über den Tisch ziehen, als das jemand einfach nur ohne eine Gegenleistung freundlich sein will.

Natürlich gibt es auch durchaus genug Gründe, misstrauisch zu sein, denn nicht nur am eigenen Leib, sondern auch aus den Medien kann man ja oft genug etwas über Betrügereien und unaufrichtige Menschen erfahren: Ärzte, die ihren Patienten Medikamente oder sogar Operationen angedeihen lassen, die eigentlich nicht nötig oder sogar schädlich, aber eben profitabel sind, Abzocke von Unbedarften im Internet via Spam, Telefonbetrügereien, Computerviren – Leichtgläubigkeit, Unwissen und Unerfahrenheit werden häufig ausgenutzt, sodass es schon sinnvoll ist, immer mal nach dem Haken einer Sache zu suchen. Kontraproduktiv wird es hingegen, wenn der Haken derart onmipräsent wird, dass er alles andere überschattet …

Ich glaube, dass dieses wachsende Misstrauen in unserer zunehmend stärker ökonomisierten Welt begründet liegt. Wenn sämtliche Dinge nur noch nach ihrem wirtschaftlichen und damit monetären (Gegen-)Wert beurteilt werden, dann ist alles, was da nicht reinpasst, erst mal suspekt. Altruistisches Handeln hat schließlich keinen unmittelbaren Nutzen für den Handelnden und ist insofern, wenn man es rein ökonomisch betrachtet, in den allermeisten Fällen unsinnig. Da wir uns zunehmend im Wettbewerb zu anderen (als konkurrierenden Marktteilnehmern) sehen, sind wir ständig darauf erpicht, Vorteile zu unseren Gunsten zu generieren (dies manifestiert sich dann ja auch in dem oben schon verlinkten Zeitgeistphänomen der Angeberei), sodass wir von diesem Raster abweichendes Verhalten als bedrohlich empfinden. Schließlich beinhaltet ja der Vorteil unseres Gegenüber häufig einen Nachteil für uns selbst, und diesen wollen wir nicht einfach so in Kauf nehmen.

Und dieses Misstrauen dominiert nicht nur die direkte zwischenmenschliche Interaktion vieler Menschen, sondern auch deren Art und Weise, Informationen aufzunehmen. Der misstrauische Mensch ist generell auch reichlich verunsichert und sehnt sich nach Institutionen, denen er vertrauen kann. Das können beispielsweise dann die Nachrichtensendung, die Zeitung oder das Magazin sein, die er schon seit vielen Jahren kennt. Wenn diese auch noch ihm vertraute Inhalte vermitteln, dann wird das sonst stark vorhandene Misstrauen fahren gelassen. Allerdings ist dies sofort wieder präsent, wenn der Misstrauische mit Dingen konfrontiert wird, die nicht so recht in sein eigenes Weltbild passen wollen, dies vielleicht sogar infrage stellen. Hierdurch ergibt sich eine ausgesprochen starre Weltsicht, in der nicht sein kann, was nicht sein darf. Vertrautheit schlägt Vertrauenswürdigkeit …

Es ist ausgesprochen schwierig, diesem Misstrauen konstruktiv zu begegnen, da es ja immer wieder Einzelfälle gibt, die es durchaus rechtfertigen, erst mal etwas genauer hinzuschauen und nicht gleich sofort alles blind zu glauben. Durch die mediale Präsenz und häufig auch Skandalisierung solcher Vorkommnisse findet allerdings bei vielen Menschen eine Generalisierung statt. Zudem wird das eigene immer stärker verbreitete rein ökonomisierte Vorteilsdenken eben auch gern auf andere projiziert, sodass diesen dann unterstellt wird, ebenfalls nur auf einen eigenen Vorteil aus zu sein. Begegnen kann man diesem Phänomen nur dadurch, dass man es selbst eben anders macht, dass man offen zeigt: Misstrauen ist hier gerade nicht angebracht. Das Schaffen positiver Erlebnisse mit unbekannten Menschen kann m. E. zumindest kleine Risse im Misstrauenspanzer, den viele Menschen um sich errichtet haben, hervorrufen.

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Karl

Jahrgang 1969, ist nach einem Lehramtsstudium und diversen beruflichen Tätigkeiten seit 2002 freiberuflicher Lektor (Auf den Punkt). Nach vielen Jahren in Hamburg, lebt er nun seit November 2019 in Rendsburg. Neben dem Interesse für politische Themen ist er ein absoluter Musikfreak und hört den ganzen Tag Tonträger. An den Wochenenden ist er bevorzugt in Norgaardholz an der Ostsee und genießt dort die Natur.

Ein Gedanke zu „Zeitgeistphänomen Misstrauen“

  1. V0n Mathias Schmidt erhielten wir einen Leserbrief hierzu:

    Nun, das weit verbreitete Misstrauen ist für mich nachvollziehbar. Ich selbst bin eher ein gutgläubiger Mensch, aber das tut nichts zur Sache. Tatsächlich bin ich überzeugt, dass das beschriebene Misstrauensphänomen (auch) mit dem Kapitalismus zu tun hat, denn der Erfolg in diesem System besteht darin andere zu übervorteilen. Das Prinzip: Schon irgendwie – im günstigsten Fall einer Sache einen Mehrwert hinzugefügt zu haben – aber dann beim Tausch noch etwas mehr herausschlagen zu wollen, als es dem tatsächlich hinzugefügten Mehrwert entspricht. Oder einfacher ausgedrückt: das Misstrauen ist die Angst, „die Arschkarte zu ziehen“. Wahrlich traurig – aber andererseits war Misstrauen schon immer überlebensnotwendig. ;-)

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