Angeregt von meinem Artikel letzter Woche über die Empathielosigkeit der Deutschen, habe ich mir überlegt, eine kleine Serie von Phänomenen zu schildern, die unseren derzeitigen Zeitgeist in Deutschland prägen, Ausdruck dessen oder einfach nur auffällig sind. Dieser werden sich teilweise überschneiden und/oder bedingen bzw. beeinflussen, mitunter ähnliche Ursachen haben, in jedem Fall aber Symptome der heutige Zeit beschreiben mit dem Versuch, diese ein wenig einzuordnen.
Als ich ein Kind war, so in den 70er- und 80er-Jahren, galt „Der ist ein Angeber“ oder „Der gibt ganz schön an“ nicht gerade als schmeichelhaftes Attribut – Angeberei war schlichtweg verpönt. Dies hat sich heutzutage reichlich geändert, denn mittlerweile gehört es zum Alltag, mit irgendwelchen Sachen anzugeben, auch wenn dies vielen vermutlich gar nicht mal so bewusst ist. Dies mache ich daran fest, dass ich den Eindruck habe, dass zunehmend das Berichten über Erlebnisse und die Reaktion anderer darauf wichtiger zu sein scheint als das Erlebte selbst. Und nichts anderes zeichnet ja letztendlich Angeberei aus.
Ein paar Beispiele: Als Erstes mag einem da das Posten sämtlicher Befindlichkeiten in sozialen Medien einfallen. Das Essen in einem Restaurant kommt, und anstatt es zu genießen, wird erst mal ein Foto davon gemacht und bei Facebook eingestellt. Wenn es tatsächlich darum ginge, seinen Freunden einen guten Restauranttipp zukommen zu lassen oder von einem schönen kulinarischen Erlebnis zu berichten, dann könnte man das ja auch noch irgendwann später im Internet schreiben, wenn man mit Muße zu Hause ist zum Beispiel (das ist dann vor allem auch höflicher der Tischbegleitung gegenüber). Aber stattdessen soll das Bild des leckeren und schön angerichteten Mittagessens wohl vermutlich eine Reaktion hervorrufen, die auch oftmals direkt so als kurzer Kommentar verbalisiert wird: „Neid!“
Dieses Verhalten lässt sich natürlich nicht nur beim Essen beobachten, sondern auch bei vielen anderen Aktivitäten: Anstatt beispielsweise eine schöne Aussicht zu genießen, beschäftigt man sich lieber damit, seinen virtuellen Freunden mitzuteilen, wie toll es doch gerade ist – und entwertet auf diese Weise den Augenblick. Bei Rockkonzerten geht das dann teilweise noch weiter, wenn man beobachten kann, dass Zuschauer für ein Event, für das sie auch noch Eintritt gezahlt haben, beständig auf einen kleinen Bildschirm schauen, um entweder Fotos oder kleine Filmchen (in regelmäßig lausiger Qualität, davon kann man sich bei YouTube ja zur Genüge überzeugen) aufzunehmen und diese dann augenblicklich in sozialen Medien platzieren müssen.
Dies geht auch Hand in Hand mit einem anderen Verhalten, dass ich zunehmend bei kulturellen Veranstaltungen beobachte: Es wird dem dargebotenen Geschehen eigentlich nur am Rande Aufmerksamkeit gewidmet und stattdessen die ganze Zeit geredet. Mal abgesehen davon, dass dies anderen Zuschauern und Künstlern gegenüber extrem unhöflich ist, zeigt es auch, dass es gar nicht darum geht, ein Konzert oder einen Film zu erleben, sondern einfach dort zu sein, um dann am nächsten Tag davon berichten zu können. Dabei hab ich den Eindruck, dass diese Intention steigt, je größer das Event ist: Ich möchte fast wetten, dass bei einem Rolling-Stones-Konzert 50 Prozent der Anwesenden maximal einen Best-of-CD der Band zu Hause haben und aus dem Stegreif vielleicht fünf bis zehn derer Songs nennen können – aber Hauptsache, man ist bei dem groß angekündigten Event dabei gewesen und kann am nächsten Tag die Kollegen auf der Arbeit damit beeindrucken.
In die gleiche Richtung weist auch ein mittlerweile gängiges Argument von beispielsweise Fernsehsendern oder Streamingdienste: Der Kunde soll damit geködert werden, einen Film oder eine Serie „als Erstes“ sehen zu können. Nun wird das Gesehene ja nicht dadurch irgendwie schlechter, wenn man es erst ein paar Monate später anschaut, aber der Effekt, damit vor anderen angeben zu können, verpufft natürlich.
Eine weitere Ausprägung der Angeberei kann ich als Bewohner von Hamburg-St. Pauli auch seit einigen Jahren beobachten: Die Feierkultur vieler Menschen hat sich dahin gehend verändert, dass es zunächst mal darum zu gehen scheint, der gesamten Umgebung zu demonstrieren, dass man Spaß hat. Da wird dann einfach nur noch in der Gegend rumgeschrien ohne jeden Anlass und man kostümiert sich (am besten in Gruppen) auf ulkige (und nicht selten peinliche) Art und Weise. Nicht falsch verstehen: Spaß zu haben beim abendlichen Ausgehen ist eine super Sache, nur habe ich eben zunehmend den Eindruck, dass es weit weniger um den eigenen Spaß geht als darum, diesen auch allen zu präsentieren. Auch dass viele (besonders jugendlich) Kiezbesucher gar nicht die Lokalitäten vor Ort (Theater, Clubs, Kneipen, Restaurants usw.) besuchen, sondern sich ihre Getränke aus einem Kiosk holen und dann in Hauseingängen rumlungern, zielt in die gleiche Richtung: Viel netter und bequemer könnte man sich bestimmt irgendwo zu Hause mit ein paar Kaltgetränken treffen, dort dann ein bisschen Musik anmachen und sich unterhalten – aber dann könnte man ja am Montag bei der Arbeit (oder auch gleich am selben Abend via Handy und Social Media) vor Kollegen und Freunden damit protzen, dass man „mal wieder auf dem Kiez“ war. Klar, „bei Peter in der Bude“ klingt natürlich weniger glamourös …
Für viele dieser Aktivitäten sind das Web 2.0 sowie Handys mit Internetverbindung die Voraussetzungen, aber es wäre m. E. zu einfach, dieses Phänomen der Angeberei nur auf diese technischen Aspekte zu beschränken. Auch an den an der großen Zahl unterschiedlichster Castingshows kann man erkennen: Es geht zunehmend für viele Menschen wie selbstverständlich darum, sich zu präsentieren – oder vielmehr um die Präsentation eines Images, mit dem man versucht, möglichst vielen zu gefallen. Dies ist m. E. ein Resultat der neoliberalen Ideologie, die mittlerweile unsere Alltag weitgehend bestimmt: Jeder ist seines Glückes Schmied und muss besser sein als alle anderen, die sowieso im Grund nur Konkurrenten sind, damit er auch richtig zum Zuge kommt. Das Ganze wird dann noch unterfüttert mit den entsprechenden Werbebotschaften, dass man immer das Neuste, Beste und Tollste haben muss, und das möglichst auch noch als Erster. So konstruieren sich viele Menschen ein Image von sich selbst, das eine vermeintlich erfolgreiche Person darstellen soll, und dies muss natürlich den potenziellen Konkurrenten ständig und möglichst zeitnahe aufs Brot geschmiert werden. Dass dabei der eigentliche Mensch und dessen bewusstes Erleben der Realität durchaus auf der Strecke bleiben können, wird billigend in Kauf genommen.
Eine sehr negative Nebenwirkung des Ganzen: Wenn ich selbst das Gefühl habe, mich nicht irgendwie besser als andere darstellen zu können, dann versuche ich eben, andere herabzuwürdigen und schlecht aussehen zu lassen – und schon haben wir die Erklärung für die in den letzten Jahren zu beobachtende immense Zunahme von Mobbing, und das ja sogar schon bei Schulkindern. Spätestens hier wird aus der Protzsucht dann eine gefährliche Sache, die das Leben von Menschen reichlich ruinieren kann.