Der Mensch ist ein soziales Wesen, was sich schon aus seiner (und der seiner Vorfahren) ursprünglichen Lebensweise im Rudel ergibt. Leider geht der momentane Zeitgeist massiv in die Richtung, dass sich jeder nur noch als einzelverantwortliches Wesen wahrnimmt und auch so agiert. Solidarität, Empathie, Gemeinschaftssinn? Fehlanzeige! Wenn etwas nicht so läuft, wie es laufen soll, dann ist immer nur der Einzelne schuld und muss entsprechend etwas ändern. Die Fehler werden somit grundsätzlich nicht mehr aufgrund ihrer möglichen systemimmanenten Ursachen untersucht.
Dieses Phänomen lässt sich in vielen Bereichen beobachten. Über das Dilemma der Demontage eines mal sehr gut funktionierenden Rentensystems à la Umlageverfahren habe ich ja neulich schon mal einen Artikel hier auf unterströmt geschrieben. Da wird gelogen, dass sich die Balken biegen, da wird im großen Stil Altersarmut breiter Bevölkerungsschichten in Kauf genommen, nur damit sich eben nicht mehr die Gemeinschaft um diejenigen kümmert, die zu alt zum Arbeiten geworden sind, sondern damit jeder schön für sich selbst privat vorsorgt für die Rente. Und wer das nicht kann aufgrund von geringem Einkommen? Tja, Pech gehabt. Die Risiken der privaten Vorsorge werden dabei natürlich schön verschwiegen (AWD und Lehman Brothers liefern da beispielsweise beredetes Zeugnis), und die Quintessenz ist klar: Wer im Alter nicht mehr viel zum Leben hat, ist selbst schuld.
Auch am anderen Ende der Biografien, also bei den Kindern, lässt sich dieses Problem erkennen: Ein Kind passt irgendwie nicht in das in der Schule abgefragte Leistungsschema? Kein Problem, Ritalin rein, dann wird das schon. Ich verweise hier noch mal auf das Interview mit Dieter Mattner auf den Nachdenkseiten, dessen Fazit lautet:
Was also wäre Ihrer Meinung nach zu tun? Für die Kinder und Jugendlichen, aber auch … die Gesamtsituation?
Sich zunehmend der Gesamtproblematik psychosozialer Probleme in seiner Multikausalität – und genau darum handelt es sich meiner Meinung nach – bewusst zu werden, sich den jeweiligen individuellen multifaktoriellen Problemlagen wirklich widmen und nach Möglichkeiten suchen, dem zu beobachtenden allumfassenden Biologisierungs- und Medizinisierungsprozess zur Verschleierung gesellschaftlicher und sozialer Not hierdurch entschieden entgegenzusteuern. Da dies offensichtlich ein gesellschaftspolitisches Problem ist, sind hier kurzfristig-griffige Lösungen aber kaum zu erwarten.
Im anderen Falle wird wohl alles ohnehin so bleiben müssen, wie es ist: Betroffenen Menschen sind krank – und die seit mehr als sechzig Jahre andauernde und stets vergebliche Suche nach den biologischen Ursachen sowie einem erfolgreichen Medikament zur Behandlung dieser konstruierten Krankheit ADHS, oder wie sie zukünftig im Wandel terminologischer Kürzel auch immer heißen wird, kann und muss also weitergehen.
Das gleiche Muster: Es wird nicht geschaut, welche gesellschaftlichen Probleme und Fehlentwicklungen hier dazu führen, dass Kinder/Jugendliche nicht klarkommen, sondern es wird eine technokratische Lösung aus den Naturwissenschaften gesucht, die an Symptomen des Einzelnen herumdoktern.
Und was für Kinder recht ist, ist für die wirtschaftlich schwächsten Erwachsenen, die Hartz-IV-Empfänger, nur billig. Auch hier wird gern und oft die Meinung verbreitet, dass diese ja nur selbst schuld an ihrer Situation wären (jeder erinnert sich bestimmt noch an die Aussage von Guido Westerwelle mit der sozialen Hängematte, in der es sich die Leistungsempfänger nur allzu gern bequem machen würden). Dass hier mittlerweile massiv gegen das deutsche Sozialrecht des SGB I und X verstoßen wird, indem Betroffene schikaniert, nicht hinreichend aufgeklärt und sanktioniert werden (bis hin zum kompletten Verlust jeglicher Transferleistungen), sei nur mal am Rande erwähnt (ein interessanter Beitrag dazu findet sich hier in den Blättern für deutsche und internationale Politk, leider nicht frei verfügbar, sondern nur gegen Bezahlung online lesbar). Es liegt also nach gängiger und immer wieder durch den medialen Mainstream transportierter Meinung nicht am Wirtschaftssystem, dass seinen Teilnehmern nicht genug Möglichkeiten bietet, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und schon gar nicht an gewollten Effekten wie einer Armee von Arbeitslosen, die nur durch ihre Existenz schon Druck auf die Beschäftigten ausüben, die in jedem Fall nicht dazugehören wollen und deswegen bereit sind, zu immer schlechteren Bedingungen für oft real weniger Geld zu arbeiten, sondern nur an jedem Individuum, dass seine Chancen nicht nutzt. Dass diese gerade in Deutschland was die Schichtenmobilität betrifft, schlechter sind als in allen anderen OECD-Ländern, ist eine Tatsache, die den dahinterstehenden Zynismus noch auf die Spitze treibt.
Genauso wird dann auch mit einer anderen gesellschaftlich eher schwachen Gruppe verfahren: den Migranten. Auch hier liegt es immer nur an den sogenannten Integrationsverweigerern, dass es Probleme gibt, also auch wieder an den Einzelnen. Dass die Gastarbeiter in den 60er- und 70er-Jahren beispielsweise nicht gerade in ein besonders integratives Klima kamen, als sie in für sie extra errichteten Werkssiedlungen einquartiert wurden – geschenkt! Dass hier massive Versäumnisse vonseiten der Politik vorliegen, die einfach viel zu spät auf die Tatsachen reagiert hat, dass es immer Zuwanderer in Deutschland gibt und geben wird (die sogar zum Teil nicht von ihren Familien getrennt leben wollen) – auch geschenkt. Stopfen wir diese Menschen doch am besten in eigene (möglichst schon etwas runtergekommene) Stadtteile, hauen immer wieder mit mieser Hetze via BILD und Co. auf sie drauf, indem wir problematische Einzelfälle als allgemeingültig darstellen, um so Antipathien und Ressentiments in der Bevölkerung zu säen – dann wird das bestimmt gut funktionieren mit der Integration. Und wer dabei nicht mitmacht und funktioniert, ist eben selbst schuld.
Selbst bei Themen wie dem Verbraucherschutz ist in letzter Zeit immer wieder zu sehen, wie dieses Prinzip angewendet wird und mittlerweile verinnerlicht wurde. Die NGO foodwatch beispielsweise weist immer wieder darauf hin (und startet auch entsprechende Aktionen und Petitionen dagegen), dass die Verbraucher von den Lebensmittelproduzenten getäuscht und belogen werden. Auch geht foodwatch darum, dass Produkte als besonders kindgerecht und auch noch gesund angepriesen werden, die das genaue Gegenteil da von sind, nämlich fiese Zuckerbomben mit Süßigkeitencharakter. Auf der Facebook-Präsenz von foodwatch ist nun immer wieder zu beobachten, wie sich bei diesen Themen viele Stimmen melden, die dann argumentieren, dass die Verbraucher ja selbst schuld seien: Die Eltern müssten ihren Kindern ja nicht den ungesunden Kram kaufen, und alle anderen sollten nicht auf Werbung reinfallen und sich besser über das informieren, was sie da kaufen. Dass also Konzerne in einem so sensiblen Bereich wie Lebensmittel bewusst tricksen und verheimlichen, um den Konsumenten hinters Licht zu führen, wird als völlig o. k. hingenommen, wer darauf reinfällt, ist dann eben zu dumm.
Die Konsequenzen dieses Denkens sind überall spürbar und zudem eine Grundposition der neoliberalen Ideologie: Jeder ist sich selbst der Nächste. Auf diese Weise ist der Mensch nur nicht zu einer so erfolgreichen Spezies geworden, denn mit dieser reinen Raubtiermentalität hätte es der eher schwächlich konstituierte Mensch nicht wirklich geschafft, sich dauerhaft gegen besser gebaute andere Raubtiere durchzusetzen. Solidarität untereinander, das gegenseitige Einstehen füreinander und Helfen untereinander sind Dinge, auf denen die menschliche Kultur fußt. Dies soll uns nun leider massiv ausgeredet werden, und leider machen fast alle dabei mit …