Warum heute keine Revolution möglich ist

Unter diesem Titel erschien vor ein paar Tagen ein interessanter Artikel des Philosophen und Kulturwissenschaftlers Byung-Chul Han in der Süddeutschen Zeitung. Hierin beschreibt der Autor, warum die Herrschaft des Neoliberalismus so unangefochten ist in unserer Zeit, da diesem nämlich das Prinzip innewohnt, die Verantwortung für Erfolg oder Misserfolg von Institutionen wir „der Staat“, „die Gesellschaft“, „die Wirtschaft“ usw. ausschließlich auf den Einzelnen abzuwälzen, sodass Unzufriedenheit oder sogar Wut auch in erster Linie gegen sich selbst gerichtet werden und nicht gegen ein externes Feindbild. Der Verweis auf diesen Artikel löste eine interessante Diskussion auf den Nachdenkseiten aus, zudem habe ich mir auch noch ein paar Gedanken dazu gemacht, und beides möchte ich Euch nicht vorenthalten.

Zunächst gab es zwei Repliken von Albrecht Müller und Orlando Pascheit von den Nachdenkseiten selbst, als dieser Artikel dort verlinkt wurde. Müller schrieb:

Das ist ein interessanter und wichtiger Beitrag. Kritisch anzumerken wäre:

  • Der Autor unterschätzt das Bewusstsein vieler Menschen. Viele wissen, dass sie nicht freier Unternehmer sondern ausgebeutet sind. Aber sie sind hilflos. Sie scheiden aus dem gesellschaftlichen und politischen Leben aus. Das hat viel mit der zweiten Anmerkung zu tun.

  • Der Autor erkennt sonderbarerweise die große Rolle der Medien für die Stabilisierung der neoliberalen Ideologie nicht. Die Revolution wird durch Meinungsmache verhindert. Diese Möglichkeit war klar erkannt. Darauf wurde hingearbeitet. Systematisch wurde die Kommerzialisierung der Medien ausgebaut. Systematisch wurde die Konzentration der Medien in wenigen Händen zugelassen und betrieben. „Meinungsmache beherrscht das politische Geschehen und wichtige Teile von Wirtschaft und Gesellschaft“ – ausführlich beschrieben in „Meinungsmache“ und im übrigen 2003 der Grund für die Gründung der Nachdenkseiten.

Und Pascheit ergänzte:

Byung-Chul Han beleuchtet einen interessanten Aspekt des Neoliberalismus und sein Beitrag ist lesenswert, aber ganz so neu ist seine These nicht, zumindest für Ökonomen, die sich für Politik interessieren. Kern der neoliberalen Arbeitsmarktpolitik seit Schröder ist das Prinzip das “Fordern und Fördern” der Arbeitslosen, wobei die Ausweitung des Forderns das Fördern immer mehr verdrängt. Letzteres geschieht oft mit dem Hinweis auf die knappe Kassenlage. Aber auch weltanschaulich macht das Fordern das Fördern überflüssig – mit einem Wort: Selbstverantwortung bzw. mit der Individualisierung aller Lebenslagen. Auf der untersten Ebene geht es darum, dass ein jeder Arbeit bekommt, sofern er denn will, sofern er bereit ist jede Arbeit zu jedem Preis zu verrichten. Sicherlich sehr verkürzt, aber in der Tendenz richtig. (Natürlich stehen unserem Volumen an Unterbeschäftigung schon rein statistisch nicht genügend offene Stellen gegenüber) Auf einer anderen Ebene versuchen bereits Eltern ihre Kinder in der von Han beschrieben Weise auf Hochleistung zu trimmen. Zufällig habe ich heute mit einem Vater gesprochen, dessen Sohn sein Maschinenbaustudium abgebrochen hat und auf Wirtschaftsingenieur umgestiegen ist. Meine Frage nach dem Studium des Sohnes brachte den Vater gänzlich aus der Fassung. Es war eindeutig Scham. Welchem Druck setzt dieser Vater seinen Sohn mit dieser Haltung aus. Es wird ein ewiger Makel sein, dass sein Sohn “nur” den Wirtschaftsingenieur anstrebt, weil er technisch vielleicht nicht so begabt war. – In den USA reduziert sich der Grundsatz des Neoliberalismus kurz auf: “Jeder ist seines Glückes Schmied.”
Vor allem aber übersieht der Nichtökonom Han die repressive Ausbeutung nicht nur in den Entwicklungsländern, sondern den zunehmenden Druck auf bzw. Umgehung von Arbeitnehmerrechten in den alten Industrienationen, der auf ein Zurück in die repressive Phase weist. Siehe z.B. den Film über die Praktiken eines Lars Larsen, den Chef des Dänischen Bettenlagers. Dennoch ist die Unterscheidung Hans zwischen der setzenden, repressiven Macht, die häufig auf Gewalt zurückgreift und der systemerhaltenden Macht, die im neoliberalen Regime sich sogar als Freiheit gibt, interessant. Denn letztlich bedeutet damit der Rückgriff auf dem alten Modus der repressiven Macht in den modernen Volkswirtschaften, dass Unterdrückung wie auch die Unterdrücker wieder sichtbar werden und damit die Chance einer Revolution.

Zwei Tage später präsentierten die Nachdenkseiten dann diesen Leserbrief, der sich recht kritisch mit dem Artikel von Byung-Chul Han auseinandersetzt, was wiederum eine Reiher weiterer Zuschriften provozierte, die hier eingesehen werden können. Welcher Seite man dabei eher zustimmt, mal außen vor gelassen, in jedem Fall finde ich es angenehm, eine solche Debatte auf einer öffentlichen Plattform nachvollziehen zu können, dagegen können 99 % aller Fernsehtalkshows locker einpacken.

Ich wurde beim Lesen des Artikels von Byung-Chul Han an den vortrefflichen Beitrag Aus Fremdzwang wird Selbstzwang von Harald Welzer erinnert, der schon 2011 in den Blättern für deutsche und internationale Politik erschien. Hierin beschreibt der Autor das Phänomen, dass auch in dem SZ-Artikel thematisiert wird, in dessen historischer Entwicklung und setzt es in Beziehung zur vorherrschenden Wachstumsideologie, die ja auch dem Neoliberalismus immanent ist.

Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung der Nachdenkseiten-Debatte zu dem Thema, bin ich für mich zu dem Schluss gekommen, dass – wie so oft – die Wahrheit irgendwo in der Mitte des Disputs zu liegen scheint. Die Gesellschaft kann m. E. aus Sicht der neoliberalen Ideologen nicht als homogene Gruppe gesehen werden, sondern es gibt die, die im Sinne der Ideologie nützlich sind, und die, die nicht nützlich sind. Von einer solchen Einteilung war (gemäß dem nach wie vor sehr lesenswerten Buch Die Gloablisierungsfalle von Hans-Peter Martin und Harald Schumann von 1996) übrigens schon bei einer 1995 in San Francisco stattfindenden als globaler Braintrust bezeichneten Zusammenkunft etlicher Lenker und Entscheider aus Politik und Wirtschaft die Rede, die von lediglich 20 Prozent der Arbeitskräfte ausgingen, die notwendig sind, um die zukünftige Weltwirtschaft am Laufen zu halten. Dem nützlichen Teil der Menschen wird in der Tat in der von Byung-Chul Han und Harald Welzer beschriebenen Art suggeriert, dass sie für sich selbst verantwortlich sein und auf diese Weise auch aufsteigen könnten, ein wichtiger Teil des Systems seien und Freiheit (allerdings eher im Sinne von unsäglichen Gestalten wie Gauck propagiert) genössen. Auf der anderen Seite werden Verlustängste geschürt (in Form von sozialem Abstieg und möglicher Verarmung), wird großer Leistungsdruck aufgebaut, zudem findet eine Art Narkotisierung durch die Medien statt (die auch Albrecht Müller ansprach), was in seiner Gesamtheit das Ziel hat, kritisches Denken und politisches Bewusstsein bei diesen für das Wirtschaftssystem wichtigen Personen weitgehend auszuschalten. Diesen Vorgang kann ich übrigens mit zunehmendem Alter auch im eigenen Freundes- und Bekanntenkreis gut beobachten, wenn durch größeren Besitz (und damit auch mehr Dingen, bei denen man Angst haben kann, sie zu verlieren) aus ehemals progressive denkenden Menschen nicht selten eher unkritische Geister werden. Dabei wäre es eigentlich diese Klientel, die gesellschaftlichen Wandel provozieren müsste, denn die als unnütz für das Wirtschaftssystem deklarierten werden in der Tat (so wie in dem Nachdenkseiten-Leserbrief von E. W. aus Prina geschildert) auf repressive Weise gegängelt, sodass sich hier nicht ohne Weiteres kritisches gesamtgesellschaftliches Denken und Handeln entwickeln kann, da (gemäß der maslowschen Bedürfnishierarchie) erst mal elementar existenzielle Bedürfnisse befriedigt werden müssen. Daneben haben die meisten dann keine Kapazitäten mehr, um sich Gedanken machen zu können, wie eine alternative Gesellschafts- oder Lebensform aussehen könnte.

Allerdings kann ich mich dem hieraus ergebenden und auch bei Byung-Chul Han vorliegenden pessimistischen Fazit nicht so ganz anschließen. Natürlich, die Übermacht der neoliberalen Ideologie scheint groß zu sein in Form von viel Geld aus der Wirtschaft, damit gekauften Politikern, die nahezu ausschließlich im Interesse von Konzernen und Finanzindustrie agieren, und Medien, die überwiegend auch genau den Leute gehören oder von denen finanziert werden, die eben an einer Aufrechterhaltung des Status quo der neoliberalen Alternativlosigkeit massives Interesse haben. Aber der kürzlich hier auf unterströmt empfohlene und verlinkte Film Schluss mit schnell zeigt doch, dass es da schon eine Gegenbewegung gibt, die durchaus auf regionaler Ebene Erfolge vorweisen kann. Es ist also noch nicht die Zeit, um den Kopf vollends in den Sand zu stecken, eine Revolution ist immer noch möglich – nur dürfte diese vermutlich anders aussehen, als bisherige Revolutionen.

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Karl

Jahrgang 1969, ist nach einem Lehramtsstudium und diversen beruflichen Tätigkeiten seit 2002 freiberuflicher Lektor (Auf den Punkt). Nach vielen Jahren in Hamburg, lebt er nun seit November 2019 in Rendsburg. Neben dem Interesse für politische Themen ist er ein absoluter Musikfreak und hört den ganzen Tag Tonträger. An den Wochenenden ist er bevorzugt in Norgaardholz an der Ostsee und genießt dort die Natur.

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