Eine Demokratie lebt von dem Austausch widerstreitender Meinungen und vom kritischen Diskurs. Ich denke mal, dass es kaum jemanden gibt, der diesem Satz widersprechen würde, denn schließlich hätte das Gegenteil ja reichlich diktatorische Züge. Doch wie sieht es mit diesem demokratischen Grundsatz denn heutzutage bei uns in Deutschland aus? Leider nicht allzu gut …
In einem Interview mit der taz über die sogenannte Geldelite in Deutschland sagt der Soziologe Hans-Jürgen Krysmanski Folgendes:
Mittlerweile sind drei Einsichten allgemein anerkannt. Erstens die extreme Ungleichheit der Einkommen. Zweitens der extreme Einfluss von Geldmacht auf die Politik. Und drittens der extreme Einfluss des Bankensystems.
Diese drei Sachen werden ja auch von vielen kritischen Stimmen seit Jahren geäußert, und selbst bei Pegida-Anhängern fanden sich häufiger Aussagen, die genau das bemängelten. Insofern kann man Krysmanski hier eigentlich nur zustimmen, dass diese Erkenntnisse in breite Teilen der Bevölkerung angekommen sind. Nun wäre es an einer verantwortungsvollen Politik, hierauf einzugehen und Maßnahmen zu ergreifen, die genau diesen Umständen entgegenwirken. Allerdings befinden wir uns da dann auch in einem Bereich, der an der Grundfesten unseres momentanen politischen Systems der sogenannten Postdemokratie rüttelt: Das Volk will tatsächlich das Primat über die Politik zurückerhalten.
Das geht natürlich gar nicht, also müssen die Schergen aus den Medien wieder mal einspringen, um derartige Gedanken zu diskreditieren. Die FAZ präsentiert dann auch eine Studie zum angeblich weit verbreiteten Linksextremismus in Deutschland unter dem entlarvenden Titel Gegen eine offene Gesellschaft, und Springers PR-Truppe darf natürlich nicht hintenanstehen und greift das Thema in der Welt ebenfalls gleich auf, wobei der Titel des Artikels zumindest noch sachlicher gewählt ist: Mehrheit vermisst in Deutschland echte Demokratie. Zwar gibt es auch kritische Stimmen zu dieser Studie und vor allem zu deren medialer Interpretation, so zum Beispiel im neuen Deutschland oder auf den Nachdenkseiten, aber man muss sich nur mal vor Augen halten, wie unterschiedlich groß die Verbreitung von FAZ und Welt auf der einen und neues deutschland und Nachdenkseiten auf der anderen Seite ist, um eine nicht allzu gewagte Prognose aufzustellen, welche Ansicht da wohl mehr Menschen erreichen wird.
Dabei ist der Kritik an dieser Studie und der Auslegung ihrer Ergebnisse m. E. vollkommen zuzustimmen. Zum Welt-Artikel schreibt ein Leser der Nachdenkseiten:
“Unsere Demokratie ist keine echte Demokratie, da die Wirtschaft und nicht die Wähler das Sagen haben.” – dieser zutiefst bürgerlichen und demokratischen Meinung, die das *Funktionieren* der Demokratie unter der Herrschaft des (Finanz-)Kapitals in Frage stellt und von fast zwei Dritteln der Befragten (also einer absoluten Mehrheit) vertreten wird, bezeichnet der Autor als linksextremistisch und demokratiefeindlich. Hallo? Die Meinung muß man ja nicht teilen, aber sie ist zutiefst demokratisch und sieht die Demokratie als bewahrenswert an.
“Die soziale Gleichheit aller Menschen ist wichtiger als die Freiheit des Einzelnen” wird von 42% für richtig gehalten. Diese Haltung steht sicherlich in einem Spannungsverhältnis zum Grundgesetz, aber ist die Forderung nach mehr sozialer Gleichheit gleich linksextremistisch?
“Kapitalismus führt zwangsläufig zu kriegerischen Auseinandersetzungen” – hat schon der alte Marx ähnlich formulierte, muß man auch nicht für richtig halten, aber was ist daran “linksextremistisch”? Meines Wissens genießt der (neoliberale) Kapitalismus in Deutschland nicht Verfassungsrang.
Die Artikelüberschrift “Mehrheit vermisst in Deutschland echte Demokratie” ist doch eine korrekte Interpretation der Ergebnisse; warum wird sie gleich mit der Fehldeutung “Viele sind unzufrieden mit der Demokratie” und dem Etikett (Stigma?) “Linksextremismus” in eine ganz schräge Ecke gerückt? Warum wird hier aus nachvollziehbaren Ergebnissen – Unzufriedenheit mit der realexistierenden Demokratie in Deutschland – gleich so ein Popanz von (gewaltbereitem) “Linksextremismus” konstruiert? Und warum, wenn hier die Meinungen von Mehrheiten (!) oder substanziellen Minderheiten wiedergegeben werden, fallen die Wahlergebnisse stets zuungunsten von Demokratie und sozialer Gleichheit und zugunsten von Kapitalinteressen aus?
Und im neuen Deutschland wird treffend auf den FAZ-Artikel erwidert:
Einzelne Facetten der vermeintlich linksextremen Einstellungsmuster finden sich bei bis zu 60 Prozent der 1400 befragten Personen. So die Aussage: »Unsere Demokratie ist keine echte Demokratie, da die Wirtschaft und nicht die Wähler das Sagen haben.« Dem Statement »Eine tief verwurzelte Ausländerfeindlichkeit lässt sich bei uns überall im Alltag beobachten« stimmt knapp die Hälfte der Befragten zu. Und 37 Prozent befürworten die These, dass der Kapitalismus zwangsläufig zu kriegerischen Auseinandersetzungen führe.
Und damit sollen linksradikale Einstellungen gemessen werden? Die Forscher hätten den Befragten auch Sentenzen aus Reden von Papst Franziskus, dem aktuellen Hamburger Programm der SPD oder aus dem Ahlener Programm der CDU von 1947 vorlegen können. Im letzteren heißt es: »Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.« Die SPD ist der Ansicht, dass der globale Kapitalismus die Kluft zwischen Reich und Arm vertiefe. Und der Papst glaubt, dass zur Fortexistenz des Kapitalismus Kriege geführt werden müssen.Wären die Autoren konsequent, müssten sie SPD und Papst als zumindest potenziell linksextrem bezeichnen.
Hier wird also das Pferd von hinten aufgezäumt: Es wird nicht gefragt, welche Positionen denn linksextremes Denken ausmachen, sondern es werden einfach in der Bevölkerung weit verbreitete Positionen genommen und dann als linksradikal abgestempelt. Dass es hierbei durchaus auch Überschneidungen zu rechtem Gedankengut bei den mit Linksradikalismus assoziierten Thesen geben kann, wird einfach unter den Teppich gekehrt. Da sich die aus eher konservativ-bürgerlichen Kreisen kommende Kritik an den politischen Verhältnissen in Deutschland im Zuge der weitgehenden Solidarisierung mit den Pegida-Demonstrationen mit ihren nationalistischen, völkischen und rassistischen Tönen seit ein paar Monaten selbst diskreditiert hat, kann man diese auch erst mal (im wahrsten Sinne des Wortes) links liegen lassen.
Wenn also Kritik innerhalb des derzeitigen (Denk-)Systems verbleibt, dann rutscht sie zwangsläufig nach rechts, da es gilt, einen (möglichst schwächeren) Schuldigen zu finden, wenn sie versucht, gesellschaftliche und politische Alternativen zu entwickeln, dann wird sie als linksradikal gebrandmarkt. Beides Sachen, die nicht gerade positiv besetzt sind, zumal Rechts- und Linksextremismus ja bei einem Großteil der Bevölkerung durch Aussagen wie „Extremismus gleicht welcher Richtung“ sowieso schon in einem Topf gelandet sind. Mit solchen Radikalen will man also nichts zu tun haben und hält demzufolge besser gleich die Schnauze – das olle preußische Motto „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“ gilt demzufolge nach wie vor. Und in der Resignation wird dann die neoliberale Politik doch, frei nach Merkel, letztlich als alternativlos angesehen. Mit einer lebendigen demokratischen Kultur hat dies dann allerdings nicht mehr viel zu tun.
Ergänzend hier noch zwei Anmerkungen von den Nachdenkseiten, bezogen auf einen Artikel in der Zeit, der diese Studie ebenfalls zum Thema hat:
Der Freitag nimmt auch Stellung zu dieser Studie und zieht recht eigene interessante Schlüsse daraus.