Aylan Kurdi

Das Bild des dreijährigen kurdischen Jungen Aylan Kurdi, der tot an einem türkischen Mittelmeerstrand liegt, weil er bei dem Versuch, Europa mit einem kleinen Boot zu erreichen, ertrunken ist, bewegt zurzeit viele Menschen und geht durch sämtliche Medien. Dabei sind die Reaktionen darauf recht unterschiedlich: Trauer spricht aus den meisten, aber die Geister scheiden sich sehr daran, ob man so ein Bild öffentlich präsentieren sollte oder nicht. In der Tat eine recht ambivalente Sache, wie ich finde …

Zweifellos gibt es immer Sensationsgier, wenn Bilder von Toten irgendwo gezeigt werden, andererseits ist dieser kleine tote Körper eben auch Realität, und zwar eine Realität, die wir zumindest so weit mitzuverantworten haben, als dass unsere gewählte Regierung eine Politik betreibt, die dazu führt, dass Tausende Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken. Nur liest sich ein Satz wie „Boot mit x Flüchtlingen im Mittelmeer gekentert, alle sind ertrunken“ dann doch als reine Buchstabenfolge recht steril, an dem Bild von Aylan Kurdi kann man nicht mal eben einfach so vorbeischauen und danach zum Alltäglichen übergehen. (Ein recht guter Artikel zur Wucht dieses Bildes findet sich in der Zeit.)

Drei Statements habe ich in den sozialen Medien gefunden, die zusammengenommen recht gut wiedergeben, was ich selbst nach einiger Reflexion beim Anblick von Aylan empfinde:

Niema Movassat von den Linken schreibt auf seinem Facebook-Profil:

Es gibt Bilder, die aufgerüttelt, die die Welt veränderte haben. Ohne die Leichenbilder aus den KZs der Nazis wäre das wahre Ausmaß des Vernichtungswahns des Deutschen Reiches nie so klar geworden. Ohne das Bild von Kim Phúc im Vietnamkrieg hätte es kein Aufrütten gegeben. Und so steht nun jenes Bild des toten kleinen Jungen, von Aylan Kurdi, an einem türkischen Strand, was durch alle Medien geht, ebenfalls für etwas: Für die Schande der europäischen Flüchtlingsspolitik. Sie ist verbrecherisch, weil sie den Tod dieses kleinen Jungen und vieler anderer Menschen in Kauf nimmt. Macht die Tore auf, die Festung Europa muss weg!

Auch der von uns schon oft mit seinen Videobeiträgen verlinkte Rayk Anders meldet sich via Facebook:

Europas Herz für Verfolgte: Tote Kinder am Strand.
Unfassbar trauriger Blick in den Spiegel für uns. Aber die Richtung, in die die Diskussion um tote Flüchtlinge jetzt abdriftet, ist so typisch. Es bewegt sich weg von der Frage, warum diese Leute jämmerlich und qualvoll sterben müssen, hin zu „sind die Bilder nich’n bisschen hart für’s Frühstück?“
Wie dem auch sei: Wenn sich die Politik mit der Frage „Dürfen wir Kinder ertrinken lassen“ so beschäftigen würde, wie die Medien mit „Dürfen wir ertrunkene Kinder fotografieren“, wäre schon viel erreicht.

Und auf dem Facebook-Account von Refugees welcome – Karoviertel findet sich folgendes Statement:

„Dieses Bild, des am Strand angespülten, ertrunkenen, dreijährigen Aylan Kurdi wird sich in unser kollektives Gedächtnis einbrennen, wie das der brennenden Twin-Tower. Man wird auf ewig fragen: Wie konnten die Menschen und Politiker in Europa so etwas Schreckliches nur passieren lassen, warum hat keiner etwas gegen diese Katastrophe im Mittelmeer unternommen, warum hat man keine sicheren Wege zur Flucht eingerichtet? Und wir müssen uns alle fragen lassen, wie wir es zulassen konnten, dass auf dem Landweg Zäune gebaut und Wege versperrt wurden, dass Menschen die Alternative zur Flucht über das Mittelmeer verwehrt wurde. Die Politik ruft zum ‚Aufstand der Anständigen‘ gegen die Neonazis auf, die Unterkünfte für Geflüchtete in Brand stecken. Es müsste aber einen ‚Aufstand der Anständigen‘ geben, gegen das menschenverachtende Treiben der europäischen Politiker, die mit der Politik und der Verwehrung von Hilfe für Bilder, wie das von Aylan sorgen, genau, wie es einen ‚Aufstand der Anständigen‘ gegen uns alle geben müsste, dass wir sie haben machen lassen. Ich bin traurig, auch weil ich weiß, dass das eine Bild, von einem einzigen Jungen stellvertredend für tausende Tote im Mittelmeer steht.“ Danke Till, für diesen Text!

Wenn dieses Bild des kleinen Aylan nun das bewirkt, was die schon seit Längerem immer wieder bei uns eintreffenden Nachrichten von Tausenden Toten im Mittelmeer nicht bewirken konnten, so wäre er wenigstens (wenngleich das weder für ihn noch für seine Angehörigen ein Trost sein mag) nicht ganz umsonst gestorben. Und zumindest von David Cameron sind heute schon moderatere Töne zu hören in Bezug auf die Aufnahme von Flüchtlingen als noch vor ein paar Tagen. Andererseits wurden gerade gestern Flüchtlinge in Ungarn statt nach Österreich mit Zügen in Internierungslager gekarrt – gegen ihren Widerstand und unter Einsatz von erheblicher Polizeigewalt. Und wenn ich sehe, dass die BILD oder auch Schmierfinken wie Ulf Poschardt nun Betroffenheit heucheln, dann frage ich mich, wie sich etwas ändern soll, wenn statt Einsicht oder wenigstens etwas Demut bei denjenigen, die sich eben vor allem durch eine Rechtfertigung der Flüchtlinge hervorrufenden unmenschlichen Politik hervorgetan haben, nun vor allem im Fokus steht, den toten Jungen für sich zu vereinnahmen und so ein paar Bonuspunkte bei ihren Lesern zu ergattern.

Aylan und die vielen Tausend anderen Menschen, die allein in diesem Jahr im Mittelmeer ertrunken sind, weil sie vor Krieg, Gewalt, Tod und Folter geflohen sind oder einfach nur von der Seite der Verlierer unseres globalen Wirtschaftssystems zur Gewinnerseite wechseln wollten, macht das alles nicht wieder lebendig. Und die stumpfen Rechtsaußen wird auch ein solches Bild nicht anrühren. Aber vielleicht besinnt sich ja der eine oder andere aufgrund dieses Schnappschusses von Aylan, dass es vor allem solidarisches Handeln ist, was uns Menschen als Spezies auszeichnet und überhaupt erst hat überleben lassen in urzeitlicher Vergangenheit, und dass hinter allen Zahlen und abstrakten Begriffen wie „Flüchtlinge“ oder „Asylbewerber“ doch vor allem immer Einzelschicksale stehen. Und das würde dann eine Verbreitung dieses Bildes meiner Meinung nach schon rechtfertigen.

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Karl

Jahrgang 1969, ist nach einem Lehramtsstudium und diversen beruflichen Tätigkeiten seit 2002 freiberuflicher Lektor (Auf den Punkt). Nach vielen Jahren in Hamburg, lebt er nun seit November 2019 in Rendsburg. Neben dem Interesse für politische Themen ist er ein absoluter Musikfreak und hört den ganzen Tag Tonträger. An den Wochenenden ist er bevorzugt in Norgaardholz an der Ostsee und genießt dort die Natur.

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