Der Mensch ist ein Herdentier, keines für Massentierhaltung

Gern würde ich die Hauptschuld bei den Smartphones suchen und finden, aber das Phänomen ist älter. Auch zu meiner Kindheit war das ein Phänomen: Durch meine geschiedenen Eltern kannte ich sowohl das Wohnen in einer Straße voller Zweifamilienhäuser mit Garten als auch das soziale Umfeld in einem Mehrfamilienhaus mit acht Parteien pro Hauseingang. Je näher die Leute aufeinanderhocken mussten, desto weniger sozial und interaktiv war deren Verhalten. Später habe ich in diversen Mehrfamilienhäusern gewohnt und kannte die Nachbarn teilweise nicht beim Namen (es blieb bei einem kurzen Plausch im Hausflur, ohne sich einander vorzustellen, was natürlich auch an mir selbst lag).

Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn immer mehr Menschen ziehen in Städte und Ballungsgebiete, und auf dem Land wird über die Abwanderung der jungen Menschen geklagt. Neben den verlassenen Geisterdörfern bleiben überfüllte Großstädte mit explodierenden Mietpreisen, und die Anzahl der schlechte bezahlten (systemrelevanten) Dienstleistungsjobs nimmt stetig zu. Im gleichen Maße wie die Lieferdienste zunehmen, steigt aber auch der Wunsch nach mehr sozialem Austausch, und so steigt auch die Anzahl der Smartphone-Apps, die Menschen virtuell verbinden: Neben „Facebook“, „Twitter“ und „Instagram“ buhlen die Menschen auf „Bottled“ oder „Knuddels“ um die Aufmerksamkeit fremder und meist weit entfernt lebender Menschen. Scheinbar eher selten geht es um verbindliche Kontakte in unserem direkten Umfeld.

Ein anderer dieser Auswüchse modernen Lebens ist „Tinder“: Menschen deren Foto mir nicht auf Anhieb zusagt, werden einfach beiseitegewischt, und die Angaben in meinem Profil haben etwa so viel mit mir zu tun wie das Horoskop in der Tageszeitung. Und nebenbei steigt nachweislich die Anzahlan Geschlechtskrankenheiten durch solche Apps wieder. Besonders absurd finde ich den Gedanken, dort jemanden „fürs Leben zu finden“: Sicherlich ist das möglich, aber wahrscheinlich geht anders. Wenn Menschen wie Ware austauschbar sind und man sich die Mühe einer ernsten Auseinandersetzung nicht machen muss, dann greife ich doch lieber zum nächsten verfügbaren Produkt. Wie im Supermarkt: Der Apfel hat etwas (essbaren und geschmacklosen) Schroff? Ab in den Müll und her mit dem nächsten Apfel.

Wie eingangs beschrieben, ist dieser Trend schon lange festzustellen, und ich meine damit Jahrhunderte. Aber die Auswüchse, seitdem praktisch fast jeder Mensch ein Smartphone hat und damit Kontakt zu fast jedem Menschen haben könnte, sind erschreckend. Immer mehr Menschen klagen über Einsamkeit und Depression, weil sie sich mit der Fülle an übertriebenen und geschönten Profilen vergleichen, die das Internet in unerschöpflichem Maße anbietet. Was die fehlenden Empathie im Internet angeht, das sagt allein schon das Wort „Shitstorm“. Dass diese soziale Kälte mittlerweile aber auch in den überfüllten Städten dem Internet gleichgetan wird, ist für mich von Tag zu Tag erschütternder.

Gestern lief ein Film, der mit dieser sozialen Kälte, mit der fehlenden Empathie und dem damit (hoffentlich) verbundenen Fremdschämen der Zuschauer spielt. „The Square“ zeigt ein eigentlich eher normales und wenig überraschendes Leben eines Kurators, aber die teilweise gezeigte Empathielosigkeit erzeugt einen Spannungsbogen, der sich den ganzen Film über hält. Diese Empathielosigkeit zieht sich nach meiner Auffassung wie ein roter Faden durch unsere moderne Gesellschaft: Massentierhaltung, humanitäre Katastrophen im Mittelmehr, NATO-Angriffe auf Zivilbevölkerungen, Corona-Partys und die bunte Welt der schmutzigen Mode sind nur einige dieser Auswüchse. Der Umgang mit behinderten und obdachlosen Menschen ist meistens von Ignoranz, Peinlichkeit und Scham geprägt anstatt von Anteilnahme und Mitgefühl.

Was bei mir bleibt, ist der Eindruck, dass der Mensch ein Herdentier ist, nicht aber eines für die Massentierhaltung. Eine überschaubare Anzahl Menschen können wir in uns aufnehmen, mit ihnen wirklich interagieren und ihre tatsächlichen Stärken und Schwächen erfahren, fernab vom Blendwerk selbst ersteller Profile. Eine Handvoll Menschen ermöglichen mir den nötigen geistigen und emotionalen Austausch und bieten mir auch die Chance, mit Charaktereigenschaften umzugehen und aus ihnen zu lernen, die ich in einer überfüllten Welt, ob Großstadt oder virtuelle Welt, einfach wegwischen kann. Wir scheinen dem Wachstum und der Globalisierung weder emotional noch intellektuell gewachsen, wie sich an der Ausbeutung unserer Umwelt, dem Umgang mit den armen und weit entfernten Produktionssklaven, dem Konsum auf Kosten anderer Menschen, der unnötigen und rein ökonomischen Tierquälerei und der Manipulation durch Medien und Politik tagtäglich zeigt.

Und die Essenz aus alledem? Wie meistens gibt es hier nicht die eine Lösung (wenn ich mal von einer Lösung im Sinne von Thanos bei Marvel absehe), und wie so oft sollte ich mir auch hier erst einmal überlegen, wo meine eigenen Möglichkeiten sind, dieser emotionalen Abschottung durch Informations- und Menschenüberflutung Einhalt zu gebieten. Und welche Maßnahmen und Organisationen ich stärken möchte, um dieser für mich zunehmend egoistisch agierenden Welt etwas Wärme und Aufmerksamkeit entgegenzubringen. Bequehmlichkeit und Komfortzone sind für mich kein Weg zu einer schöneren Welt, sondern Aufmerksamkeit gegenüber meinen Mitmenschen, und scheinen sie mir noch so fremd. Think global, act local!

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Dirk

Jahrgang 1974, in erster Linie Teil dieser Welt und bewusst nicht fragmentiert und kategorisiert in Hamburger, Deutscher, Mann oder gar Mensch. Als selbstständiger IT-Dienstleister (Rechen-Leistung) immer an dem Inhalt und der Struktur von Informationen interessiert und leidenschaftlich gerne Spiegel für sich selbst und andere (als Vater von drei Kindern kommt dies auch familiär häufig zum Einsatz). Seit vielen Jahren überzeugter Vegetarier und trotzdem der Meinung: „Alles hat zwei Seiten, auch die Wurst hat zwei!“

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