Edathy

Der Fall Edathy bzw. die Einstellung des Verfahrens gegen ihn ruft gerade viele sehr emotionale und mitunter auch erschreckende Reaktionen hervor: Da kocht die Volksseele hoch, in sozialen Netzwerken wird schon zur Lynchjustiz aufgerufen, selbst Promis wie Til Schweiger beteiligen sich daran, die Einstellung des Prozesses aufzubauschen und daraus Gewaltfantasien gegen den SPD-Politker abzuleiten. Es gibt zwar auch ein paar sachliche Stimmen zu dem Thema, diese drohen im Getöse des aufgestachelten Mobs jedoch ein wenig unterzugehen, weswegen ich hier an dieser Stelle auf ein paar lesenswerte Artikel zu dem Thema verweisen möchte.

Da wäre zunächst mal der Kommentar von Rüdiger Scheidges im Handelsblatt, der feststellt, dass es in diesem Fall tatsächlich nur Verlierer gibt:

Die Causa Edathy hat überall Schutt und Asche hinterlassen: Der vermeintliche Delinquent wurde vorverurteilt, gegen den Generalstaatsanwalt (der auch die Ermittlungen im Verfahren gegen den Ex-Bundespräsidenten Wulff führte) wird ermittelt. Edathys Parteichef hat schnell den Daumen über ihn gesenkt, dem SPD-Fraktionschef sind die Flügel gestutzt, und ein BKA-Chef geriet in den Verdacht, geheime Informationen verteilt zu haben. Ein Minister trat zurück, da er einen Kollegen vor dem Fall warnte. Eine ganze Menge für einen Fall, der – wie ja auch die Strafsache Wulff – nun nicht verhandelt wird.

Ein Artikel von Jörg Wellbrock auf Blastingnews (leider nicht mehr online aufrufbar) geht in eine ähnliche Richtung und stellt vor allem die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Reaktion vieler:

Besonnene Worte sind – auf der anderen Seite – in diesen Tagen nicht nur selten, sie sind nicht erwünscht. Wer Zweifel an den Emotionen wie Wut, Hass und Vergeltungswünschen anmeldet, steht schnell als „Edathy-Versteher“ da, der sich selbst irgendwie verdächtig macht. Beliebter sind da lautstarke Forderungen nach einer härteren Justiz oder gleich nach Selbstjustiz. Der Schauspieler Jan Leyk schrieb auf seiner Facebook-Seite, Edathy gehöre bespuckt und mit Steinen beworfen und sei „ein perverses, selbstverliebtes, widerwertiges, krankes und hochgradig pedophiles Drecksschwein, das in unserer Gesellschaft keinerlei Rechte mehr bekommen sollte, um mit dieser Einstellung frei herumzulaufen!“ (Originalschreibweise). Er fügte später hinzu: „Ich wundere mich keineswegs mehr, dass es betroffene Menschen gibt, die in solchen Fällen Selbstjustiz verrichten!!!!

Die Tatsache, dass Jan Leyk selbst mehrfach vorbestraft ist – unter anderem, weil er ein Mädchen beschimpft und gewürgt haben soll – stört die User nicht, das Posting von Leyk erhielt fast 250.000 Likes.

[…]

Beängstigend ist bei alledem jedoch die Aggressivität, mit der gegen Edathy vorgegangen wird. Die ist nicht neu, sie verbreitet sich immer weiter, vermeintliche Täter werden nach der ersten Berichterstattung oft vorverurteilt, die gewünschten Strafen werden immer härter, der Ruf nach der Todesstrafe oder Folter ist keine Seltenheit mehr.

Neben einigen interessanten Einblicken in das Justizsystem und eine kompetente Beurteilung des Falles aus juristischer Sicht bringt der Artikel von Thomas Fischer (Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof) in der Zeit auch die Doppelzüngigkeit vieler nun lospolternder Moralapostel zur Sprache:

Der Schutz der Kinder, namentlich der unterprivilegierten, der armen, der in Containern hausenden, der bettelnden, stehlenden, der frühreifen, armen Kleinen in Rumänien und Afghanistan, Kolumbien und Tansania, liegt uns am Herzen wie sonst nichts auf der Welt. Mögen sie ihr Dasein fristen auf den Müllhalden unseres Reichtums, so wollen wir doch zumindest ihre Seelen retten und ihre Menschenwürde!

Jugendliche, kindliche Körper, halb bekleidet oder nackt, in sexualisierten Posen! Ekelhaft!

Zur Beruhigung greifen wir zur Vogue, zur Elle und zu Harper’s Bazaar. Da leben unsere magersüchtigen kleinen Prinzessinnen; im Junkielook gestylte minderjährige Luder, rund um die Welt gecastet und mit zwanzig vergessen.

[…]

Vielleicht sollten diejenigen, die ihn gar nicht schnell genug in die Hölle schicken wollen, vorerst einmal die eigenen Wichsvorlagen zur Begutachtung an die Presse übersenden.

Wenn man sich nun noch vor Augen hält, wie viele nun ach so besorgte Eltern ihre eigenen Kinder täglich stundenlang vor der Glotze verblöden lassen, sie danach mit antibiotikaverseuchtem Putenfleisch, McDonald’s-Fraß oder Zuckerbomben vollstopfen und auch sonst bei ihrem Konsumverhalten sich einen feuchten Kehricht um Nachhaltigkeit und damit auch direkt um eine lebenswerte Zukunft für ihre Kinder scheren, dann wird deren Echauffierung noch bigotter. Hier würde sich der Griff an die eigene Nase in der Tat erst mal empfehlen, bevor man nun drakonische Strafen für jemanden fordert, in dessen Besitz sich nicht einmal strafrechtlich relevantes Material befunden hat.

Auch Jakob Augstein findet in seiner Kolumne auf Spiegel online treffende Worte zu diesem Thema, wenn er auf Tatsachen verweist, die nun einmal Grundlagen unseres Rechtsstaates sind:

Tatsache ist, dass Sebastian Edathy keineswegs – wie es in der Netz-Petition heißt – „nur weil er Politiker ist mit einer Geldauflage von 5000 Euro freigesprochen“ wurde. Er wurde gar nicht freigesprochen, weil es kein Urteil gab. Der Paragraf 153a der Strafprozessordnung ist ja eine sonderbare Sache. Verdacht hin oder her, wenn die Unschuldsvermutung bis zum Beweis des Gegenteils gilt und es zu keinem Urteil kommt – warum soll ein Angeklagter dann überhaupt Geld zahlen?

Weil sich die Justiz entlasten will. Weil es Vorwürfe gibt, da wiegt der Verdacht schwer, die Schuld ist aber gering. Und weil es Fälle gibt, da will der Angeklagte nicht mehr in der Öffentlichkeit stehen, da ist schon der Vorwurf und der Verdacht wie ein Urteil: so im Fall Edathy. Die vollständige Vernichtung der sozialen Person – warum genügt das den Eiferern in dieser Sache nicht als Strafe?

Tatsache ist auch, dass die Einstellung eines Verfahrens gegen Geldauflage mehr als üblich ist. Etwa 260.000-mal wird dieses Rechtsinstrument in Deutschland im Jahr eingesetzt.

Diese Artikel sind allesamt in Gänze lesenswert und lassen den Fall Edathy in einem etwas anderen Licht erscheinen als die vielfach vor geifernder Wut und Gewaltfantasien überbordenden Kommentare vieler Promis und Nichtpromis, die zurzeit, oft lediglich mit Halbwissen unterfüttert, überall zu hören und zu lesen sind. Meines Erachtens bestätigt das Ganze allerdings auch wieder eine Tendenz, die ich schon vor einigen Monaten in einem Artikel hier auf unterströmt beschrieb: Das verrohte Bürgertum.

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Karl

Jahrgang 1969, ist nach einem Lehramtsstudium und diversen beruflichen Tätigkeiten seit 2002 freiberuflicher Lektor (Auf den Punkt). Nach vielen Jahren in Hamburg, lebt er nun seit November 2019 in Rendsburg. Neben dem Interesse für politische Themen ist er ein absoluter Musikfreak und hört den ganzen Tag Tonträger. An den Wochenenden ist er bevorzugt in Norgaardholz an der Ostsee und genießt dort die Natur.

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