Wie sehr bei der Beurteilung von Dingen mittlerweile mehr oder weniger unterschwelliger Rassismus eine Rolle spielt hierzulande, kann man sich vor Augen führen, wenn man sich zwei hypothetische Schlagzeilen vornimmt und sich die Reaktionen darauf vorstellt.
Die erste Schlagzeile ist diese hier:
Unfallopfer wegen fehlender Versichertenkarte im Krankenhaus abgewiesen
Ich weiß jetzt gar nicht genau, wie es rechtlich damit aussieht, aber gehen wir doch einfach mal davon aus, dass in Notaufnahmen zum einen immer sehr viel Betrieb ist und zum anderen ohnehin tendenziell zu wenige Beschäftigte vorhanden sind, die dann zumeist auch noch reichlich überarbeitet sind – was dann eben in Kombination zu dieser hypothetischen Situation geführt hätte.
Ich möchte wetten, dass die Aufregung darüber sehr groß wäre, man würde auf die Bürokratie schimpfen, die mal wieder typisch deutsch sei, und (durchaus zu Recht) darauf verweisen, dass man Menschen in Not helfen sollte, wenn sie denn schon bei einem auflaufen und um Hilfe bitten. Den Angestellten in der Notaufnahme würde man Unmenschlichkeit und Verantwortungslosigkeit vorwerfen, und das Krankenhaus dürfte einen ziemlichen Imageschaden davontragen.
Nun zur zweiten Schlagzeile:
Geflüchteter wird wegen fehlender Ausweispapiere an Grenze abgewiesen
Im Grund ja ein recht ähnlicher Vorgang, aber ich schätze, dass die Reaktionen darauf komplett anders wären. Hier wäre bestimmt wenig Empathie vorhanden für die Person in Not, und zwar auch genau von denjenigen, die sich dem bei der Klinik Abgewiesenen gegenüber noch empathisch gezeigt haben. Wie kann man denn auch bloß erwarten, ohne gültige Papiere irgendwo reingelassen zu werden, wo diese eben Voraussetzungen sind, um korrekt behandelt zu werden? Und das hat dann natürlich auch gar nichts mit Bürokratie zu tun, aber Ordnung muss nun mal sein.
Und außerdem ist der Geflüchtete ja auch kein Deutscher – und genau das ist der entscheidende Unterschied in diesen beiden Szenarien. Und genau das ist eben auch die rassistische Komponente.
Dass ein Unfallopfer seine Versichertenkarte nicht bei sich hat, diese eventuell noch am Unfallort liegen geblieben oder anderweitig verloren gegangen ist, ist für jeden nachvollziehbar. Dass ein Mensch aus einem Land, in dem es unter Umständen nicht einfach standardmäßig Ausweispapiere gibt oder diese für jemanden, der Probleme mit der dortigen Regierung hat, nicht so ohne Weiteres zu erhalten sind, ohne solche Dokumente unterwegs ist oder sie auf einem viele Tausend Kilometer langen Weg mit zahlreichen Unbilden eventuell verloren haben könnte, ist dann hingegen für genau die gleichen Leute nicht nachvollziehbar.
Natürlich spielt auch eine gehörige Portion Egoismus da mit rein, denn dass man selbst mal zum Unfallopfer wird, ist für die meisten natürlich wahrscheinlicher, als dass man sich auf die Flucht aus seiner Heimat begeben und in einem anderen Land um Asyl ersuchen muss. Aber Egoismus ist ja nun mal auch eine Komponente, die beim Rassismus stets eine Rolle spielt und die von der Schäbigkeit her ja auch gut dazu passt.
Und so stolpern auch die wenigsten über den doch eigentlich offensichtlichen Widerspruch, dass es gerade diejenigen Politiker sind, die immer wieder zu viel Bürokratie beklagen (in der Regel, wenn es darum geht, weniger Einschränkungen und Regulierungen für ihre Geldgeber aus der Privatwirtschaft zu legitimieren), und die dann auf einmal an der Grenze die Bürokratiekarte spielen, indem sie auf so etwas wie das ohnehin nicht besonders ausgewogen (um nicht zu sagen: egoistisch) konstruierte Dublin-Übereinkommen verweisen und Menschlichkeit somit unter bürokratischen Anforderungen ersticken.
Hier wird also ganz offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen, und es werden Doppelstandards angelegt. Wer allerdings Menschen in Not nur mit einem großen, einschränkenden „Aber“ helfen will, der hat die Grundlagen von Zivilisation nicht richtig verstanden. Bei der AfD verwundert einen das nicht, sammeln sich bei deren Jüngern doch ohnehin vor allem unterbelichtete Zivilisationsverweigerer. Die CDU/CSU hingegen dürfte für sich und ihre Anhänger wohl eher eine gewisse Kultiviertheit in Anspruch nehmen – und vom „Christlichen“, wofür ja das C steht, will ich da noch gar nicht mal anfangen. Tja, nur ist es damit eben leider auch nicht mehr allzu weit her, wie man sieht.
Dass so was für viele Menschen in Deutschland mittlerweile offenbar kein Problem mehr darstellt, zeigt, wie weit der Rassismus sich wieder ausgebreitet hat in den Köpfen – wenn er denn überhaupt jemals so richtig weg gewesen ist nach 1945. Aber vermutlich ist genau das auch mit der Kultur, die Rechte und Konservative immer gern bewahren und verteidigen wollen, gemeint. Mit so einer widerwärtigen Form von Kultur habe ich dann zumindest als Deutscher nichts gemeinsam und schäme mich eher für meine heuchelnden, verlogenen Landsleute.

