Tatverdächtige sind keine Täter

Klingt eigentlich logisch und selbstverständlich, oder? Das scheint allerdings nur so, denn mal abgesehen davon, dass in der Auslegung von Statistiken gern mal gemäß dem eigenen politischen Gusto hier nicht so wirklich sauber unterschieden wird zwischen beiden Begriffen, so wird auch in ganz konkreten Fällen gern mal darüber hinweggesehen, dass wir in Deutschland eine Unschuldsvermutung haben, die für jeden gilt, bis ein Gericht seine Täterschaft festgestellt hat – zum Glück!

Gerade am vergangenen Wochenende berichtete Heinrich Schmitz in einem Artikel auf Die Kolumnisten darüber, wie ein Tatverdächtiger, der von vielen Seiten schon als Täter abgestempelt wurde, freigesprochen werden musste, da ihm nicht einmal nachgewiesen werden konnte, überhaupt am Tatort gewesen zu sein.

Es geht dabei um den ermordeten 17-jährigen Niklas P. Bei diesem Fall haben sich vor allem Boulevardpresse und Kommentatoren in den sozialen Medien schnell darauf eingeschossen, dass der damals 20-jährige Walid S. der Täter sei. Der passte ja auch zu gut, um Stimmung zu machen: Migrationshintergrund, vor schon mal auffällig gewesen – die Selbstgewissheit geht sogar nach dem Freispruch so weit, dass beispielsweise Frauke Petry (AfD) von einem rechtsstaatlichen und gesellschaftlichen Offenbarungseid schwadronierte. Es kann halt (wie so oft bei Rechten) nicht sein, was nicht sein darf …

Dabei wurde von Anfang an nur in eine Richtung ermittelt, nämlich dass Walid S. schuldig sei. Und ging schließlich so weit, dass Zeugen bedroht, eingeschüchtert und sogar zusammengeschlagen wurden. Der Wahrheitsfindung war das nicht eben zuträglich. So ist nun zwar wenigstens ein Unschuldiger dank guter rechtsstaatlicher Arbeit des Gerichtes nicht verurteilt worden, aber der Täter läuft halt auch immer noch frei herum.

Mehr oder weniger zufällig stieß ich dann am gleichen Tag, als ich Schmitz‘ Artikel las, auf einen etwas älteren Vorfall, der dann nicht so glimpflich abgelaufen ist wie bei Walid S., sondern in brutaler Selbstjustiz gipfelte: Ein Elternpaar hat gemeinsam mit einem Freund im Jahr 2015 den vermeintlichen (!!!) Vergewaltiger ihrer zwölfjährigen Tochter in eine Falle gelockt und ermordet, wie hier einem Artikel auf Neuste.news zu entnehmen ist, der auf Facebook geteilt wurde. Die Reaktionen darauf waren überwiegend von Verständnis für die Eltern geprägt. Einige bekundeten, dass sie wohl auch so handeln würden, wenn sich jemand an ihren Kindern verginge, und überhaupt seien ja Kinderschänder eh das Letzte und verdienten den Tod …

Zum Glück gab es in diesem virtuellen Furor auch die eine oder andere Stimme der Vernunft, und eine davon postete dann einen Artikel von der Webseite des WDR (leider nicht mehr online aufrufbar), in dem es um das Gerichtsverfahren und -urteil gegen die Selbstjustiz verübenden Mörder ging. Und das hörte sich dann schon ein bisschen anders an: Alle drei wurden nämlich zu lebenslanger Haft verurteilt, der Vater sogar mit einer strafverschärfenden „besonderen Schwere der Schuld“.

Außerdem erfährt man noch, dass es gar nicht um eine Vergewaltigung ging, sondern nur um eine angebliche Kontaktanbahnung via Facebook, zudem war der Ermordete geistig behindert – und letztlich auch noch unschuldig, da sich die „Hobbyermittler“ eben geirrt hatten und den Falschen in eine Falle lockten, wo sie ihn dann bestialisch niedermetzelten.

Die Parallelen zum Fall Walid S. sind offensichtlich: Ein potenzieller Schuldiger wird vom Tatverdächtigen zum Täter erklärt, weil er eben schön in die Vorstellung passt, wie der Täter zu sein hat.

Und wenn beim Mord an Niklas P. die (sozialen) Medien ihren Beitrag zur Stimmungsmache offensichtlich leisteten, so kann ich mir auch vorstellen, dass bei den Selbstjustizmördern vielleicht auch eine Rolle gespielt haben könnte, dass gerade auch in sozialen Medien etliche Seiten postulieren, dass Todesstrafe für Kinderschänder angemessen wäre – und dafür viel Zuspruch erhalten. Da kann man dann schon mal auf die Idee kommen, dass die Justiz ja eh zu lasch sei und man deswegen die Sache lieber selbst in die Hand nimmt – finde ich jetzt nicht ganz unwahrscheinlich. Dass ein aufgeheiztes Klima bei der Thematik des Kindesmissbrauchs besteht, war ja auch an dem von mir zunächst beobachteten Zuspruch für die Mördereltern zu erkennen.

Und ich kann mir zudem auch vorstellen, dass es auch in der vergifteten Atmosphäre beim Prozess gegen Walid S. Leute gegeben hat, die den Tatverdächtigen am liebsten auch gleich gelyncht hätten – denn für sie stand er ja als Täter bereits fest.

Dass es nicht dazu kam, ist übrigens nicht nur gut für Walid S.: Die vermeintlich  sexuell belästigte Tochter und ihr drei Jahre jüngerer Bruder dürfen nun nämlich, wo ihre Eltern im Gefängnis sitzen, ihre Jugend im Heim verbringen. Der Rechtsstaat schützt also nicht nur die potenziellen Opfer, sondern auch die potenziellen Täter und deren Angehörige.

 

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Karl

Jahrgang 1969, ist nach einem Lehramtsstudium und diversen beruflichen Tätigkeiten seit 2002 freiberuflicher Lektor (Auf den Punkt). Nach vielen Jahren in Hamburg, lebt er nun seit November 2019 in Rendsburg. Neben dem Interesse für politische Themen ist er ein absoluter Musikfreak und hört den ganzen Tag Tonträger. An den Wochenenden ist er bevorzugt in Norgaardholz an der Ostsee und genießt dort die Natur.

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