Das Desaster der SPD – die „Neue Mitte“

Es war einmal ein Kanzlerkandidat, der auf der Welle der Proteste gegen die Kohl-Regierung, gegen deren „Sozialreformen“ im Bereich Krankenversicherung – der Wegfall der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall durch die Administration Kohl war geplant, wie auch zusätzlich Kürzungen bei der Rentenversicherung befürchtet worden sind -, also mit dem Thema der sozialen Gerechtigkeit an die Macht kam. Es war genau dieser Kanzler, der dann kurz nach seiner Wahl mit Toni Blair die neue Sozialdemokratie über eine obskure „Neue Mitte“ gestaltete und viele Sozialdemokraten, auch mich, verprellte, denn wirklich sozial war nichts, was diese Administration unter seiner Führung dann als Regierungspolitik durchsetzte, eher das Gegenteil war der Fall. Die Renten sind gekürzt worden, und auch im Bereich Krankenversicherungen sind Verschlechterungen eingetreten in seiner Amtszeit. Der Privatisierung hingegen wurde Tür und Tor geöffnet, auch den Heuschrecken.

Ein Gastbeitrag von Heinz Peglau

Es war dieser Kanzler, der die Finanzmärkte entfesselte, den Konzernen und Reichen im Lande Steuergeschenke machte, die Banken von Transaktionssteuern befreite, ihre Verkäufe von Unternehmensbeteiligungen von der Steuer befreite, sie also großherzig beschenkte. Er war es, der die Vermögenssteuer beerdigte, die Vermögensakkumulation damit grenzenlos hat werden lassen. Es war dieser Kanzler, der eine Art Goldgräberstimmung bei der Assekuranz auslöste und dem „kleinen Mann“ großen Schaden damit zugefügt hatte.

Es war dieser Kanzlerschaft zu verdanken, dass auch in Deutschland nun die Reaganomics, die Thatchernomics durchgesetzt wurden, erst in besagter Steuerpolitik und dann in der Sozialpolitik, in der Arbeitsmarktpolitik. Es war dieser Kanzler, der uns damit auch TINA bescherte, „There is no alternative“, das berühmt-berüchtigte Zitat von Margaret Thatcher, auch deutsche Wirklichkeit werden ließ – was seine Nachfolgerin im Amt gern dann auf „alternativlos“ verkürzte, symbolisch mit der Raute unterstützt. Er war es nicht allein, aber er hat den größten Anteil daran gehabt, die politische „Führerschaft“ innegehabt, hatte diese an sich gerissen, mit seinem Basta dann bei Bedarf gesichert.

Es war Gerhard Schröder, der viel größere und einschneidendere „Reformen“ durchsetzte, als es dem alternden Kohl möglich gewesen wäre, aber auch dem jüngeren Kohl möglich gewesen war. Es war dieser Kanzler, der das Land wie kein anderer – außer Willy Brandt – veränderte, und das mithilfe der Bertelsmann-Stiftung und der sie unterstützenden Industrie, mithilfe der ihn unterstützenden Medienmogule Springer, Funke und Mohn. Allerdings nicht zum Besseren verändert hat, wie wir heute wissen, viele von uns zumindest, die wir nicht zu seiner „Neuen Mitte“ gehören oder zu den Reichen im Lande.

Kein Kanzler hat so nachhaltig die Gesellschaft verändert wie Gerhard Schröder, hat einen so unsäglichen Einfluss auf die Geschicke Deutschlands – und damit auch Europas – ausgeübt und gleichzeitig die eigene Partei zu einem Anhängsel der Konservativen marginalisiert, auch wenn ich zugeben muss, dass die ihm Nachfolgenden auch keine schlechte Arbeit bei der Marginalisierung der SPD geleistet haben, ebenso wie sie die schröderschen Reformen erst so richtig wirksam machten und immer noch machen.

Gerhard Schröder war der erste Kanzler, der die marktkonforme Demokratie hier über sein „Neue Mitte“-Denken fast verwirklicht hatte. Sie so zu nennen und letztendlich zu verwirklichen überließ er allerdings seiner Nachfolgerin im Amt, der mit dem Rautesymbol, und seinen Nachfolgern in seiner Partei. Armani-Anzüge, Zigarren waren seine Symbole. Mit dem Titel „Genosse der Bosse“ pflegte er seine Eitelkeiten. Und wurde Volksnähe gebraucht, so tat es eine Flasche Bier.

Gerhard Schröder und seine Mannschaft haben die Autoindustrie zur Tonangebenden, nun auch ganz offen in der Politik, werden lassen, haben uns noch stärker in deren Abhängigkeit geführt. „Autokanzler“ trug er fortan stolz als weiteren Titel und setzte damit die Maßstäbe für seine Nachfolgerin im Amt und für die, die in der nun neuen, geistig und moralisch gewendeten SPD das Sagen bekamen. „Auf keinen Fall gegen die Autoindustrie, mögen sie tun oder lassen, was sie wollen!“, wurde das Credo seiner und der folgenden Administrationen.

Bei allen Verdiensten, die auch Gerhard Schröder hatte, aber dies alles sollte nicht vergessen werden, muss deutlich benannt werden, gerade wenn eine Erneuerung der SPD gewollt ist, wenn man sie erreichen will. Aber auch weil viele der derzeitigen Skandale in seine Regierungszeit zurückzuverfolgen sind.

Die Mitverantwortung der Grünen spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle, soll und muss aber kurz erwähnt werden, der Vollständigkeit halber. Ohne Grüne, ohne Katrin Görings-Eckardts Verharmlosung der Sanktionen, auch von Familien, gerade auch von Kindern, als „Bewegungsmotivation“, wäre Schröder nicht so weit gekommen, wie er gekommen ist, weder mit der Erneuerung der Bundesrepublik und auch nicht mit seiner „Erneuerung“ der SPD. Ohne deren Zustimmung hätte man weder die Finanzmärkte entfesseln noch die merkantilistische Europapolitik verschärfen können, welche dann in Schäubles Austerität geführt hat. Ohne deren Denken in einer ähnlichen „Neuen Mitte“ hätte Schröder dies alles nicht erreichen können. Sie wurden gebraucht und wurden nur allzu gern missbraucht. Sie hätten vieles verhindern können und taten es nicht. Aber hier geht es um die SPD und deren Desaster und nicht um die mir immer noch fehlende grüne Authentizität in diesen Fragen.

Die SPD, die einstige Arbeiterpartei, die spätere Volkspartei, verlor durch die „schrödersche Erneuerung“ hin zu einem ausschließlichen „Neue Mitte“-Denken das eigentliche Sozialdemokratische in ihrem Wesen und damit eigentlich auch die Berechtigung, sich Volkspartei zu nennen. Die einstige Arbeiterpartei, die große Volkspartei unter Willy Brandt wurde durch seine geistige und moralische Wende zur Partei der „Neuen Mitte“. Der ursprüngliche Anspruch der Sozialdemokratie, das effizienteste Wirtschaftssystem, das sich Menschen je erdacht hatten, den Kapitalismus, zu „zähmen“, für alle Menschen dadurch nutzbar zu machen, ging dadurch verloren, wurde einer „Neuen Mitte“ geopfert, die ausschließlich noch der Aufmerksamkeit dieser neuen SPD würdig erschien und immer noch erscheint. Der Kotau vor den Märkten, vor den Marktmächtigen, vor den Profitabhängigen war damit vollzogen. Der Kapitalismus musste nicht mehr gezähmt werden. Er hatte gesiegt, und die SPD hatte dies nun anerkannt, sich angepasst, das Linke damit als Anspruch aufgegeben.

Nicht mehr Willy Brandts Politik links von der Mitte und dabei die Mitte im Auge zu behalten, wurde zur tragenden Kraft der Sozialdemokratie, sondern die Mitte selbst, die „Neue Mitte“ zu bedienen wurde einziger Anspruch dieser nun neuen Sozialdemokratie. Die Menschen außerhalb dieser Mitte wurden aufgegeben, gerade die Menschen wurden aufgegeben, die am meisten auf eine sozialdemokratische Partei angewiesen gewesen wären, die aber nicht zur „Neuen Mitte“ gehören wollten, auch gar nicht konnten. Müntefering benutzte für sie den Begriff „Prekariat“, den die Friedrich-Ebert-Stiftung 2006 wieder aus der Vergangenheit in die Gegenwart geholt hatte. Er tat dies, um abzugrenzen, um deutlich zu machen, für wen die SPD von nun an stehen sollte. „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“, war seine freudsche Fehlleistung dieser Zeit. Freudsche Fehlleistung, denn so deutlich wollte er seinen Gedanken bestimmt nicht Gehör verschaffen. Wen wundert es da noch, dass sich viele verraten fühlten, sie der SPD zuhauf seit „Schröders Erneuerung“ den Rücken zugekehrt hatten?

Die Folgen der „schröderschen Erneuerung“, des „Neue Mitte“-Denkens sind gravierend. Grundsätzliches zu denken ist nicht mehr en vogue, wird, wenn es doch geschieht, bestenfalls ignoriert, meist verhindert oder auf den Sankt-Nimmerleins-Tag vertagt. Das staatstragende Moment hat wieder einmal gesiegt bei der Tante SPD. Durchhalteparolen und Versprechungen, kosmetische Veränderungen – im politischen Handeln ebenso, wie im „Erneuerungsprozess“ – sind die Regel.

Dabei sollte es gerade bei der nun anstehenden, lange schon überfälligen Erneuerung der SPD um die grundsätzliche Frage gehen, ob die Sozialdemokratie weiterhin nur für den „hart arbeitenden Menschen“ stehen will, die von Schröder beschriebene „Neue Mitte“, oder ob sie sich besinnen wird, dass sie für alle Menschen zu stehen hätte, nicht nur für diese angebliche „Neue Mitte“, sondern für alle Menschen, die den Schutz der Sozialdemokratie brauchen, so wie es eigentlich Tradition der SPD war seit 1959, seit dem Godesberger Programm, und wieder werden sollte.

Es müsste der Sozialdemokratie um die Schwachen der Gesellschaft ebenso gehen wie um die, die viel zu hart arbeiten müssen, um zur „Neuen Mitte“ überhaupt gehören zu können. Es müsste auch um die „nicht so hart arbeitenden Menschen“ gehen, genauso wie um die „gar nicht hart arbeitenden Menschen“. Die SPD müsste sich der Frage stellen, wem sie dienen will: den Menschen, allen Menschen oder nur noch denen, die nach Meinung der SPD, nach Meinung der Wirtschaft, ihren Dienst auch „verdient“ haben, weil sie zur „Neuen Mitte“ gehören, weil sie „hart arbeiten“, dies tun müssen und damit sowohl den Reichen und den Konzernen als auch der „Neuen Mitte“ dienen.

Geschieht dies? Nein, eindeutig nicht. Eine Abkehr vom „Neue Mitte“-Denken, eine Rückabwicklung der „schröderschen Erneuerung“ ist nicht einmal in Ansätzen zu erkennen.

Wir können das an den Protagonisten der Regierung, auch der Regierungen in den Ländern, an den Meinungsführern bis hinunter in die Basis festmachen. Die „Neue Mitte“ steckt tief in ihren Köpfen, so tief, dass für den Rest der Menschen, außerhalb ihrer „Neuen Mitte“, gar kein Platz mehr da ist im Denken und Handeln der Partei-Elitären. Sie existieren zwar auch in ihrem Weltbild, aber sie sind maximal zu fördern, zu fordern, um sich der „Neuen Mitte“ anzuschließen, zu sanktionieren, wenn sie es nicht tun, bis hin zur Obdachlosigkeit, wenn sie sich allzu sehr verweigern, wenn sie nicht tun, was man von ihnen verlangt, ob alt, jung, ob Kind oder Greis, egal, wenn sie nicht zur „Neuen Mitte“ gehören oder zu dieser aufschließen können oder wollen. Mehr als satt, trocken, warm ist auch diese SPD der „Neuen Mitte“ den Menschen außerhalb davon nicht mehr bereit zuzugestehen.

Die Mehrheiten allerdings liegen jenseits der „Neuen Mitte“ und werden dort auch täglich größer. Nur werden sie derzeit links und rechts liegen gelassen. Schlimmer noch, werden sie von den entsprechenden Parteien in diesem Spektrum quasi aufgesogen. Klug nenne ich das nicht, was sich diese geistig und moralisch gewendete SPD da gegenwärtig leistet!

Klug sind deshalb auch die Durchhalteparolen nicht, die man von den führenden Köpfen der SPD lesen und hören kann. Klug sind weder Olaf Scholz mit seinem Weiter-so der Schäublenomics zu nennen noch Andrea Nahles, die sich nur eine möglichst kurze, knappe Debatte wünscht und sich ansonsten auf das Staatstragende der SPD zurückziehen will. Das Sommerinterview war da sehr aufschlussreich für mich.

Die „Neue Mitte“, welche die SPD-Granden weiterhin nur zu bedienen gedenken, wird derweil für die SPD immer kleiner. Der „hart arbeitende Mensch“ hat nämlich durchaus Alternativen bei der Wahl. Nicht nur neoliberale und neokonservative Parteien nagen an der „Neuen Mitte“, auch die progressiv-neoliberalen Kräfte in der Republik tun dies, die Grünen beispielsweise. Auch deshalb wird eine Sozialdemokratie, eine progressiv-neoliberale Sozialdemokratie (in Anlehnung an Nancy Fraser), gar nicht mehr gebraucht, fällt sie täglich mehr in sich zusammen. – Denn progressiv-neoliberal geht bei Grünen besser, die „Neue Mitte“ ist dort besser aufgehoben, Verantwortung für die Schwachen zu übernehmen ist nicht Teil der grünen DNA, es sei denn, der Mensch ist unschuldig in ihren Augen.

Man muss schon nur zu den alten, standhaften, traditionsbewussten und leidgeprüften, leider aussterbenden „Überzeugungstätern“ der SPD gehören, um das so lange und immer noch mittragen zu können. Nur jung ist sie schon lange nicht mehr, die gute alte Tante, gerade an der Basis nicht. Die Folgen werden bald zu sehen sein, sind schon zu sehen, wenn man genauer hinschaut.

Die eigentlichen Potenziale werden liegen gelassen, ja, sogar vor den Kopf gestoßen, sanktioniert oft und noch öfter diffamiert. Sie gehören eben nicht dazu, zur „Neuen Mitte“, zur Mittelschicht, sie stören eher. Die „Neue Mitte“ grenzt aus. Die SPD grenzt aus. Die Partei, die eigentlich vereinen sollte, grenzt große Teile der Bevölkerung aus. Klug kann ich das nun wirklich nicht mehr nennen.

Klug wäre das Gegenteil von dem. Klug wäre es, das „Neue Mitte“-Postulat von Gerhard Schröder endlich aufzugeben und wieder eine Partei für die Menschen zu werden, die dem Kapitalismus allein gegenüber nicht standhalten können. Klug wäre es, diesen großen Irrtum der Sozialdemokratie – nicht nur der deutschen – zu korrigieren.

Die Folgen einer Öffnung der Partei über die „Neue Mitte“ hinaus wären gravierend. Sehr schnell würde die SPD dann erkennen, dass ihre rein auf das Angebot ausgerichtete Wirtschafts- und Finanzpolitik ebenso falsch gewesen ist wie eine Sozialpolitik, die auch dort den Homo sapiens durch den Homo oeconomicus ersetzt hatte und ersetzt. Mit einer reinen Angebotspolitik kann nie Verteilungsgerechtigkeit hergestellt werden, nur die Gerechtigkeit der Märkte setzt sich durch, die soziale Gerechtigkeit, die Menschen aber bleiben auf der Strecke, auch die, die sich zur „Neue Mitte“ oder einfach nur zur „Mitte“ zählen, sie merken es nur später als die anderen.

Die SPD würde nach Rückabwicklung des Kerns der „schröderschen Erneuerung“, der Aufgabe des „Neue Mitte“-Denkens, also nach der Öffnung der Partei für alle, von ganz allein umdenken, ihrer Aufgabe wieder gerecht werden können und gar nicht so lange brauchen, um wieder glaubwürdig zu sein als Sozialdemokratie. Sie wäre nicht weiterhin eine weitere, eigentlich überflüssige progressiv-neoliberale Partei. Sie würde dann wieder an Glaubwürdigkeit gewinnen können und nicht immer mehr an Glaubwürdigkeit verlieren. Ohne dies Tun allerdings keine Erneuerung und ohne Erneuerung …

… das zu beurteilen, überlasse ich dem Leser, der Leserin.

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