Die EU ist krank, aber unverzichtbar – wider die Zerstörer aus allen Lagern

„Dumm ist der, der Dummes tut“, weist darauf hin, dass der Wert einer Handlung nach den Konsequenzen dieser Handlung bemessen wird. Diese Weisheit aus einem der größten Werke der Filmgeschichte, Forrest Gump – wie ich meine -, sollte uns leiten, gerade dann leiten, wenn es um Europa, um die EU insbesondere geht.

Geht es in Diskussionen und Beiträgen um Europa, um die EU besser gesagt, so höre und lese ich im Wesentlichen vier Positionen:

Die einen wollen die EU reformieren, wissen aber meist nicht, oder sagen es zumindest nicht, wie sie das anstellen wollen, und wenn doch, oft nicht, mit welchen Zielen sie dies verbinden, außer den Missstand zu beheben; mit anderen Zielen, grundsätzlicheren Zielen als die derzeitigen allerdings, davon lese ich dann selten. Sie machen sich selbst an einigen Missständen fest, Missständen natürlich auch nur dann, wenn sie davon betroffen sind oder scheinen, aber fast nie am Grundsätzlichen. Meist ist es mehr Willen zur Ablenkung von den anderen Problemen als wirklicher Wille zur Reform, meist in den sogenannten etablierten Parteien zu finden, die sich als Mitte bezeichnen.

Die anderen wollen die EU gar nicht verändern, sind mit der EU im Wesentlichen zufrieden, dient sie doch den eigenen Interessen derzeit am besten. Das sind dann meist die, die von dieser EU auch am meisten profitieren, sich gut eingerichtet haben und fast immer in einer anderen Wirklichkeit leben als ich. Oft nennen sie sich Kosmopoliten und meinen damit doch nur, dass sie auf lieb gewonnene Lebensumstände nicht verzichten wollen. Oft sind sie in journalistischen Kreisen zu finden, weit weg meist lebend von den wirklichen Brennpunkten des Lebens anderer, aber auch fast immer das Elend der Welt am Abend beklagend, in Talkshows, politischen Gesprächen oder während ihnen abends zu Hause der Rotwein den Kehlen herunterrinnt – man verzeihe mir meinen Sarkasmus an dieser Stelle.

Wieder andere wollen noch mehr EU, mehr von allem, aber wie sie die Menschen mitnehmen wollen, die genau das nicht wollen, können sie nicht sagen, scheint sie auch gar nicht zu interessieren, Hauptsache mehr davon, „noch mehr als bisher, das vertragen wir schon“. Auch hier in dieser Gruppe – Sarkasmus on – sind zumeist Rotweingenießer zu finden – Sarkasmus off -. Diese Elfenbeinturmbesitzer und deren Fußvolk, die weit weg sind von meiner Realität, weit weg von den vielen Realitäten der Bevölkerung, die aber dennoch sehr laut sind, mir derzeit zu laut, und damit sehr tonangebend und sehr profitierend von der Polarität der Debatte mit denen, die ich Zerstörer nenne, zu denen ich sie allerdings auch zähle, was hoffentlich gleich im Text deutlich wird. Oft sind hier die Grünen zu finden, die Liberalen mit Petersilie, wie ich sie gern – immer noch lieb gemeint – nenne.

Die vierte wesentliche Gruppe – nur oberflächlich gesehen die gefährlichste Gruppe für die EU von allen – sind die, die meinen, die EU ganz abschaffen zu können, die wieder zurück zur Kleinstaaterei wollen, maximal ein paar Abkommen à la EWG halten sie für sinnvoll. Souveränität, meinen sie, würde über allem stehen, Nationalismus als Heilslehre. Hatten wir schon mal, hat nicht funktioniert, hat uns ins Unglück gestürzt, würde nur wieder weiteres Unglück bringen. Eigentlich eine einst allgemein anerkannte Tatsache, aber wohl leider in Vergessenheit geraten. „Dumm ist, wer Dummes tut“, kann ich da nur sagen, und wer Dummes wiederholt, ist doof, möchte ich ergänzen.

Mich überzeugen alle nicht, aber wirklich erschrocken ob ihrer Armut im Denken bin ich von denen, die die EU für nicht reformierbar halten und sie gern abgeschafft sehen würden oder sie abschaffen wollen, weil sie überzeugte Nationalisten sind.

Diese Zerstörer gibt es links wie rechts im politischen Spektrum, im rechten Spektrum derzeit spürbar mehr als im linken Spektrum, aber auch hier sind sie zu finden. Sie bilden eine Querfront mit den anderen beiden Gruppen, die einzige übrigens, die mir wirklich Sorgen bereitet, weil deren beider Wege letztendlich auch die Zerstörung zur Folge haben wird, wahrscheinlich durch das rechte Spektrum dann am ehesten.

Alle vier bilden eine Querfront, weil die einen wie die anderen sie zerstören wollen, ob von links oder rechts, und die Zweiten die EU, die sie reformieren wollen, aber ohne Zielveränderung dieses tun wollen, sie am Ende zerstören werden, weil sie an den derzeitigen Zielvorgaben scheitern wird, scheitern muss. Die Dritten, die noch mehr EU haben wollen, sie noch schneller zerstören könnten ob ihrer Forderungen, welche die Bevölkerungen längst nicht mehr mitzutragen bereit sind; wie die Vierten, die gar nichts ändern wollen, die EU am Ende gerade dadurch zerstören werden, weil ihre Zielvorgaben die falschen sind und die wachsende Ungleichheit die EU letztendlich dann zerreißen wird, wie Frankreich gerade zerrissen wird, gerade weil die Zielvorgaben Macrons denen der EU gleichen wie ein Ei dem anderen.

Eine EU, ohne die Menschen mitzunehmen, ohne Vorteile für alle Menschen, welche sie tragen sollen und müssen, wird scheitern. Das ist für mich so sicher wie das Amen in der Kirche, und keine der vier Gruppen nimmt die Menschen derzeit mit, auch wenn sie es behaupten. Sie tun es nicht und bilden damit eine für uns alle gefährliche Querfront!

Es gibt für mich viele Gründe, der EU in der derzeitigen Form und ihrer derzeitigen Verfasstheit kritisch gegenüberzustehen. Kritisch, aber nicht zerstörerisch stehe ich der EU und ihren Institutionen gegenüber. Auch ich bin mehr als nur echauffiert, wie wenig demokratisch diese EU in ihren Entscheidungen ist, wie national dort entschieden wird, weil die Regierungen, vorneweg die deutschen Regierungen, nicht erst seit Merkel, auch unter Schröder, sich fast ausschließlich noch national engagieren, die vermeintlichen Vorteile nur für ihre eigene Nation durchzusetzen wissen, eigentlich nur ihren eigenen Interessen gemäß, selten wirklich im Sinne ihrer Bevölkerung. Alles das ärgert mich schon lange. Aber noch mehr ärgere ich mich über die, die dies beklagen, wie ich, und dann ein im Großen und Ganzen funktionierendes System, ein System, welches uns jahrzehntelangen Frieden und Wohlstand beschert hatte, einfach so ad acta legen wollen, und dies meist, ohne zu sagen, wie sie den Frieden sichern wollen, den Wohlstand sichern wollen. Sie tun es einfach, weil es anscheinend schick ist dieser Tage, gegen alles zu sein, ohne zu sagen, wofür man eigentlich ist, und wenn doch, so versteigt man sich in Wünsche und Träume, negiert dabei aber die Realitäten. Ein sinnloses Tun, ein gefährliches Tun, ein höchst gefährliches Tun.

Wie dumm und gefährlich ihr Tun ist, kann man schon daran ablesen, wie wenig sie von Mathematik verstehen, denn würden sie etwas von Mathematik verstehen, ein wenig mehr als nur die Grundrechenarten beherrschen, so würden sie schnell erkennen können, wie dumm sie handeln wollen. Dumm ist dabei nicht doof, nein, dumm ist der, der nicht lernwillig ist, doof der, der nicht lernfähig ist. Mangelnde Lernfähigkeit unterstelle ich niemanden hier, auch denen nicht, die Dummes tun wollen. Doof sind sie nicht, im Gegenteil, sie versprechen sich durchaus Vorteile von ihrem Tun, eigene zumeist, denn wir hätten wenig Gutes, aber viel Schlechtes davon, würden ihnen Erfolg beschieden sein.

Weil sie die Mathematik nicht beherrschen und deshalb nicht sehen können – oder wollen, wenn sie sie beherrschen -, dass die EU mehr ist als nur ein Bürokratiemonster, dass die EU ein großer Vertrag ist, der sehr vieles regelt, nach außen wie nach innen, handeln sie dumm bzw. wollen sie dumm handeln. Dumm, weil man es ihnen ruhig sagen kann, vorrechnen kann, sie bleiben dabei: Die EU muss weg.

Deshalb hier ein kleiner Exkurs in die Mathematik, Nachhilfe sozusagen für die, die hier hauptsächlich gemeint sind, die Zerstörer nämlich.

Die Formel Summe aller n von 1 bis i = 1/2 x n (n+1) wurde vom großen Gauß erfunden, der Legende nach schon als Schuljunge, als er zur Stillbeschäftigung vom Lehrer die Aufgabe bekam, die Zahlen von 1 bis 100 zu addieren. Aus dieser Aufgabe ist dann die sogenannte Gauß’sche Summenformel entstanden, eigentlich Grundlage einer guten Bildung, aber wohl oft verschüttet worden im Laufe der Zeit; sie erleichtert es, große Reihen natürlicher Zahlen zu summieren. So ergeben alle natürlichen Zahlen von 1 bis 5 die Summe 1/2 x 5(5+1) = 1/2 x 5(6) = 1/2 x 30 = 15. Rechnet ruhig nach, rechnet mit anderen Reihen, sie stimmt immer.

Was bedeutet das für die EU, für die Auflösung der EU, für meine Kritik an den Zerstörern?

Nun, die EU hat 28 Mitglieder (GB noch mitgerechnet) und, setzen wir voraus, wir beenden sie, würden wir 1/2 x 28(28+1), also 406 gegenseitige Verträge benötigen, um nur einen Sachverhalt zu regeln, welcher derzeit durch die EU geregelt ist für alle, nur durch einen gemeinsamen Vertrag. Jede gewünschte Änderung unsererseits würde die gleichen Änderungen nach sich ziehen, sofern dies von den anderen überhaupt gewünscht und/oder mitgetragen werden würde. Nur im Inneren, im Äußeren würde dies ungleich mehr Abkommen bedeuten. Bleiben wir also im Folgenden nur beim Innenverhältnis.

Gehen wir dann einmal davon aus, dass nicht in jedem Vertrag dasselbe geregelt werden würde, die Bedingungen gemäß der bilateralen Wünsche und Anforderungen geregelt werden müssten, so stelle man sich nur einmal die Bürokratie vor, die jedes Land zu betreiben hätte, wollten wir den Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr aufrechterhalten, welche die EU derzeit für die Wirtschaft und die Menschen in den Mitgliedsländern regelt.

Nehmen wir also an, wir würden – und wir müssten angesichts der Vernetzung der Produktionsketten innerhalb der EU – mit allen anderen 27 Staaten ein Zollabkommen schließen, Frankreich anschließend mit den restlichen 26 (mit uns hat es ja eines), Österreich dann mit 25, Dänemark mit 24 usw usw. Ein Unding, eine unmöglich hohe Zahl an Abkommen, welche zu schließen wären, nur um den Warenverkehr weiterhin aufrecht zu erhalten, 406 Zollabkommen, nur um den Status quo zu erhalten. Was für eine Verschwendung von Ressourcen, von Geld, Zeit und Personal, zumal dann, wenn die Abkommen sich im Detail dann unterscheiden, was wohl eher der Realität entsprechen würde.

Gleiches müsste geschehen, um den Personenverkehr – so noch gewünscht – aufrechtzuerhalten. Gleiches, um den Kapitalverkehr – mit Sicherheit gewünscht – aufrechtzuerhalten. Und so weiter und so weiter und so weiter

Und warum das alles?

Weil die zentralen Institutionen fehlen, die uns diese Verträge untereinander abgenommen haben. Weil wir berechtigte Kritik haben an den Verträgen, den Institutionen, an denen, die die Bürokratie dort leiten – zugegeben meist zum eigenen Nutzen und zum Nutzen der Bürokratie. Weil viele nun meinen, dies alles nicht mehr reformieren zu können oder nur davor zurückschrecken, sich überfordert fühlen oder die Notwendigkeit dazu einfach nicht einsehen wollen, sich gut darin eingerichtet haben.

Wäre es dann nicht doch besser, an der EU festzuhalten, sie lieber doch zu reformieren, sie auf andere Füße zu stellen, die fünfte Option zu ziehen und sie auf das Allgemeinwohl zu verpflichten und nicht auf den Neoliberalismus, wie die bestehenden Verträge es verlangen?

Ich denke schon.

Ich denke, die fünfte Option wäre die richtige, und ich hoffe inständig, dass sie irgendwann auch gezogen wird, so rechtzeitig gezogen wird, dass die Zerstörer der EU – zu denen ich alle vier anderen Genannten zähle – nicht ihr Werk vollenden können. Machen wir so weiter wie bisher, so kosmopolitisch naiv wie die Grünen oder so progressiv neoliberal wie die SPD, so rückwärtsgerichtet konservativ wie die Union oder gar so marktradikal wie die FDP, so uneindeutig und damit orientierungslos wie die Partei Die Linke, werden wir weder die EU reformieren noch erhalten können, jedenfalls nicht als Friedensprojekt und auch nicht als Wohlfahrtsprojekt für die Bevölkerungen. Sie wird diesen Anforderung schon heute nicht mehr vollends gerecht, wie die Russland-Phobie mir zeigt, wie die Nordstream-2-Debatte als ein Ausdruck auch dieser Russland-Phobie mir zeigt, wie die Gelbwesten in Frankreich, Belgien und neuerdings in Großbritannien mir zeigen, wie mir die Armut im Überfluss, die Keynes prognostizierte schon vor fast 1oo Jahren, mir in Deutschland zeigt. Aber nicht deshalb wird sie den Ansprüchen nicht mehr gerecht, die wir zu Recht an sie stellen, weil sie sich überholt hätte, nein, im Gegenteil, sondern weil sie von den falschen Menschen gelenkt wird, deren Armut an Einsichten in sozioökonomische Zusammenhänge überdeutlich geworden ist, deren Verstand allzu begrenzt scheint, die damit die Zerstörer erst auf den Plan gerufen hatten und weiterhin rufen, und weil uns deshalb anscheinend nichts Besseres einfällt, als sie zerstören zu wollen, auch dann, wenn wir vorgeben, sie erhalten zu wollen.

Die EU braucht eine andere Vision, mehr nicht, eine Vision der Menschlichkeit, keine der nackten Wirtschaftsinteressen, auf die die beiden letzten Generationen sie degeneriert haben. Dann würde uns schon gelingen zu vollenden, was die Nachkriegs- und Kriegsgenerationen für uns begonnen hatten. Ich bin da ganz optimistisch, dass uns noch rechtzeitig ein Licht aufgeht, der Brexit könnte den Funken dafür schenken.

Sie braucht Ratgeber und Handelnde, die wieder rechnen können, und zwar bevor unsägliche Entscheidungen getroffen werden und nicht erst hinterher, wenn das Kind im Brunnen liegt, die Verwerfungen nicht mehr zu ignorieren sind. Sie braucht intellektuelle Führer und Führerinnen, nicht allein nur intelligente. Sie braucht mehr Verstand als reine Ratio.

Und vor allem muss sie sich davon befreien, nur dem Schutz und der Mehrung des privaten Eigentums dienen zu wollen, zumeist dann nur dem ganz großen Eigentum; sie muss wieder dem Menschen dienen wollen, allen, ohne Ausnahme, ohne die derzeitige Sicht auf die Nützlichkeit des Individuums für die Wirtschaft. Dann wird das auch was mit der Akzeptanz, mit der Zukunft, aber nur dann.

Die EU ist krank, vielleicht sterbenskrank, aber nicht tot, und wir können sie heilen, wenn wir nur wollen.

Nachklapp: An dieser Stelle sei allen denen gedankt, die mit mir die letzten Wochen über dieses Thema diskutierten, deren Diskussionen ich verfolgen durfte, die mich oft inspirierten, auch hierzu, manchmal auch belehren wollten. Immer bin ich ein wenig klüger herausgegangen aus den Gesprächen, als ich hineinging.

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Heinz

Jahrgang 1958, am Leben interessiert, auch an dem anderer Menschen, von Rückschlägen geprägt. Nach diversen Tätigkeiten im Außendienst für mehrere Finanzdienstleister und zuletzt als Lehrkraft auf der Suche nach einer neuen Herausforderung. Ökonomie und Gesellschaft, den Kapitalismus in all seinen Formen zu verstehen und seit Jahren zu erklären ist meine Motivation. Denn ich glaube, nur wer versteht, wird auch Mittel finden, die Welt zu einer besseren Welt zu machen. Leid und Elend haben ihre Ursache im Unverständnis.

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