Marktwirtschaft

Noch vor zwei Jahren war ich u. a. mit John Kenneth Galbraith einig, was den Begriff „Marktwirtschaft“ anbelangt, dass es nämlich um Kapitalismus ginge, „Marktwirtschaft“ nur ein PR-Begriff wäre, um dies zu verschleiern. Ich schrieb sogar einen Blog-Beitrag „Man nenne es Kapitalismus und nicht Marktwirtschaft“, um auf diese Verharmlosung des Systems hinzuweisen. Nur, wie sagte Keynes: „Sir, if the facts are changing, I change my mind.“ Und die Fakten haben sich für mich in ihrer Bedeutung geändert.

Immer noch sehe ich es allerdings, wie Galbraith, dass der Begriff Marktwirtschaft, insbesondere hier bei uns sogar mit dem Adjektiv „sozial“ versehen, eine Verharmlosung darstellt. Nicht eine Verharmlosung des Kapitalismus stellt dieser Begriff dar, sondern eine der Wirklichkeit, also, wie Gailbraith es sah, ist sie immer noch auch ein PR-Begriff, aber seine Analyse teile ich nicht mehr, wenn er meint, dass damit der Kapitalismus verharmlost werden soll.

Im Gegenteil, ich sehe in der Marktwirtschaft das wirkliche Übel. Sie ist und bleibt so lange das Übel,  solange sie nicht eingehegt wird, und das könnte man, wenn man wollte, wenn man sie verstehen würde, wollte man das auch tun. Einhegen, nicht abschaffen, darum müsste es gehen, denn abschaffen können wir sie nicht mehr, weil sie längst weltweite Blaupause ist und auch Grundlage jeglicher existierender Gegenbewegungen. John Maynard Keynes hatte uns dazu die Mittel gegeben. Wir haben ihn vergessen, ignorieren ihn, lassen sogar zu, dass er diffamiert wird, und zwar genau von denen, die ihr Heil im politischen Anspruch und damit im ungehinderten Wirken der Märkte, der Marktwirtschaft sehen. Ihr Heil, nicht unser Heil, denn wer nicht zur größtmöglichen Masse der Glücklichen gehört, der steht eben außen vor, ganz so, wie der Utilitarismus eines Benthams, so, wie der Naturalismus eines Malthus es für gesellschaftlich notwendig hielten, wir es anscheinend wieder halten, immer noch der protestantischen Ethik folgend, die Weber eindrücklich beschrieb.

Mehr noch, ich sehe den Kapitalismus nicht einmal als so großes Übel an, wie viele andere Denker, weil ich zu dem Schluss gekommen bin, dass das, was hier dem Kapitalismus zugeschrieben wird, von Anfang an der Marktwirtschaft hätte zugeschrieben werden müssen.

Die Marktwirtschaft brauchte die industrielle Revolution, die Mobilität der Energie und in Folge die des Menschen

Ich halte es für falsch, von der Entstehung des Kapitalismus zu sprechen in Zeiten der industriellen Revolution. Die Marktwirtschaft ist in den gleichen Zeiträumen entstanden, nicht der Kapitalismus. Die Marktwirtschaft ist entstanden mit den Bodengesetzen in England und dann der Arbeitswerttheorie durch Ricardo, nicht der Kapitalismus. Denn den Kapitalismus gab es schon lange vorher und weit unblutiger als das, was wir in den letzten 200 Jahren erleben mussten. Erst durch die Marktwirtschaft war es möglich, den Fortschritt, den die mobile Energieversorgung ermöglichte, auch zu nutzen. Allerdings nur dann, wenn der Boden zur Handelsware gemacht werden konnte und die menschliche Arbeitskraft ebenso. Es ist der Preis, die Preisbildung durch Handel allein, die der Marktwirtschaft die Macht dazu gab, die ungeahnte Kapitalkräfte damit entfesseln konnte. Der Kapitalismus war nie in gleichem Ausmaße dazu fähig gewesen.

Schon Marx‘ Theorie sehe ich deshalb auch nicht als Theorie des Kapitalismus an, sondern als Gegenbewegung zur Marktwirtschaft, was seine Analyse nicht grundsätzlich falsch macht, aber viele seiner Schlussfolgerungen sind sehr in Zweifel zu ziehen, wie auch die von anderen großen Denkern, eben weil sie den falschen Adressaten benennen und sich den wirklich wichtigen Motiven damit auch nicht nähern konnten.

Macht ist immer das zentrale gesellschaftliche Moment

Nicht die Gier, nicht den Egoismus sehe ich deshalb als Motive zuvorderst, um die Verwerfungen zu erklären. Es ist der Wunsch nach Macht, wie es immer dieser Wunsch nach Macht ist, welcher bedeutend ist, welcher hier zu den Verwerfungen führt. Der Kapitalismus ist nur Mittel zum Zweck für die Marktwirtschaft und die Marktwirtschaftsprofiteure, um Macht ausüben zu können, jenseits der demokratischen Entscheidungsprozesse Macht zu erhalten und zu behalten. Der Kapitalismus kann auch anders, auch das hat er in seiner langen Geschichte von nunmehr 5.000 Jahren gezeigt. Ungläubige wie Unwissende verweise ich hier, wie schon des Öfteren, auf Graeber Debt – The first 5,000 years.

Ich war deshalb die letzten zwei Jahre, als ich diese Spur nämlich aufnahm, oft genug in einer Situation, wo ich mehr Widersprüche als Erklärungen fand, wenn mir die beiden Begriffe „Marktwirtschaft“ und „Kapitalismus“ begegneten, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass das anderen Denkern noch nicht aufgefallen sein sollte, was mir immer mehr ins Auge sprang. Ich war deshalb froh, als ich auf Polanyi vor einigen Wochen stieß, dessen Wirtschaftsgeschichte mir all das bestätigte, was ich mir schon erarbeitet hatte, mir die notwendigen Begriffe gleich mitlieferte, wie Gegenbewegung, fiktive Preise, Marktgesellschaft.

Gleichzeitig kam mir Adornos Mimisik wieder ins Gedächtnis und wie recht er doch hatte mit seiner Kritik an der festen Begriffsbildung. Alles das und einiges mehr veranlassen mich, heute anders zu denken, auch wenn es denen nicht gefällt, die gern an festen Meinungen festhalten wollen. Ich aber bleibe bei Hannah Arendt „Ich will verstehen“ und nicht recht haben und schon gar nicht recht behalten, nur weil ich das Denken selbst einschränke, es einschränken lasse über allzu feste Begrifflichkeiten. Ich bleibe im denkenden Diskurs und nicht in der dogmatischen Debatte durch festgelegte Begriffe.

Marktwirtschaft ist mehr als nur eine Form des Kapitalismus

Meine Vernunft sagt mir, dass die Marktwirtschaft etwas anderes ist, als der Kapitalismus, dass sie mehr ist, als der Kapitalismus jemals war. Meine sinnliche Wahrnehmung ist nämlich so, und seit Kant wissen wir, dass nichts als wahr gelten kann, was wir nicht auch sinnlich wahrnehmen können.

Ich nehme die Jobcenter wahr, die mich an Benthams Panopticums immer mehr erinnern, wenn auch noch nicht so schrecklich wie damals. Ich nehme wahr, wie Boden knapp geworden ist, gerade in Ballungsräumen, weil er zur Handelsware wurde, wie auch dadurch Mieten steigen, gerade deshalb, weil Vermietung zum Spekulationsobjekt gemacht worden ist. Ich nehme vieles sinnlich wahr, weil von Wert in einer Marktwirtschaft nur das ist, was gehandelt werden kann, selbst der Mensch zum Handelsobjekt geworden ist, nur der Handel noch zentral ist in der Gesellschaft und bei den politisch Verantwortlichen aller Parteien.

Ich nehme wahr, dass die kapitalistische Produktionsweise zwar entfaltet worden ist durch die Bourgeoisie, dass Marx hier recht hatte, aber auch das nehme ich wahr, er irrte sich darin, gleich ein ganzes System „Kapitalismus“ zu benennen. Schon er hätte es „Marktwirtschaft“ nennen sollen, denn genau das war es, was schon zu seinen Lebzeiten in England den Ton angab – was ich vor einigen Wochen noch fälschlicherweise Manchester-Kapitalismus nannte, den Begriffen folgend, die uns hier prägen, am Denken auch hindern, wenn wir sie unhinterfragt übernehmen -, was die Kinderarbeit, die Pauperisierung, die Verrohung durch die Ökonomie und das Kapital ausmachte, gerade dieser Tage wieder zu beobachten ist. Es waren, damals wie heute, politische Entscheidungen, die maßgebend waren und es sind, damals wie heute, politische Entscheidungen, die maßgebend waren und sein werden.

Die Marktwirtschaft hat einen politischen und damit auch gesellschaftlichen Anspruch

Die Marktwirtschaft ist ein System mit politischem Anspruch, was der Kapitalismus niemals war, und sie und ihre Profiteure waren und sind es, die diesen Anspruch nutzen, um uns alle, nicht nur die Arbeiter, auszubeuten, im Sinne des Selbstzwecks der Märkte zu führen. Sie ist längst selbst Selbstzweck geworden und benutzt die kapitalistische Produktionsweise, um ihren Selbstzweck zu erfüllen. Sie macht uns marktkonform, wie Merkel es uns ja versprach. Sie geht tiefer denn je uns damit unter die Haut. Sie ist keine Verharmlosung des Kapitalismus. Sie ist eine Verbrämung von Kapitalismus und Gesellschaft in einem nur scheinbar harmlosen Gewand.

Von Kapitalismus zu sprechen heißt, die Marktwirtschaft zu verharmlosen

Im Gegenteil, wer immer noch von Kapitalismus spricht, der verharmlost die Marktwirtschaft und damit ihr Tun. Ich mache das nicht mehr, auch wenn ich weiß, dass ich auf mehr Widerspruch als Zustimmung treffen werde in nächster Zeit, auch auf Unverständnis. Unverständnis aber meistens von denen, die sich nicht über einmal Gedachtes hinausbewegen wollen.

Ich denke selbst und ständig! Ich benutze das Gedachte, aber ich hinterfrage es auch und denke weiter, bleibe nicht stehen, nicht bei einmal von mir Gedachtem, deshalb auch nicht bei Gedachtem von großen Männern und Frauen. Das überlasse ich anderen. Denen, die in der Marktwirtschaft den weißen Ritter sehen, ebenso wie denen, die im Kapitalismus das von Grund aus Böse erkennen wollen. Denen, die sich von festen Begriffen in ihrem eigenen Denken und damit Tun einschränken lassen wollen, Hannah Arendts „Denken ohne Geländer“ immer noch nicht für sich adaptiert haben.

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Heinz

Jahrgang 1958, am Leben interessiert, auch an dem anderer Menschen, von Rückschlägen geprägt. Nach diversen Tätigkeiten im Außendienst für mehrere Finanzdienstleister und zuletzt als Lehrkraft auf der Suche nach einer neuen Herausforderung. Ökonomie und Gesellschaft, den Kapitalismus in all seinen Formen zu verstehen und seit Jahren zu erklären ist meine Motivation. Denn ich glaube, nur wer versteht, wird auch Mittel finden, die Welt zu einer besseren Welt zu machen. Leid und Elend haben ihre Ursache im Unverständnis.

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