Die Blindheit der finanziellen Macht

Der Wirecard-Skandal ist eine der größten Pleiten in der Geschichte, nicht nur finanziell. Das komplette Versagen der Aufsichtsbehören und der politischen Führung ging sogar so weit, dass sich Politiker:innen dazu hinreißen ließen, den dubiosen Konzern zu bewerben. Allein das schnelle Wachstum sollte jedem auch nur ansatzweise funktionierenden Verstand ein Warnsignal sein, denn die letzten Börsencrashes und Finanzblasen gingen stets von zu schnell wachsenden Märkten aus. Aber wenn übertriebene Gewinne versprochen werden, dann setzt scheinbar bei den meisten Menschen der Verstand aus.

Nun steht die Deutsche Vermögensberatung (kurz DVAG) im Fokus der medialen Aufmerksamkeit. So berichtet z. B. Frontal21 (ZDF) in einem 11-minütigen Beitrag über die fragwürdigen Methoden, die nach dem klassischen Pyramidensystem aufgebaut sind: An der Spitze stehen die langjährigen Versicherungsmakler mit enormen Gewinnen, und die Basis bilden Menschen, die ihr persönliches Umfeld abgrasen und auf Kosten ihrer Glaubwürdigkeit Familie und Freunden versuchen, Versicherungen anzudrehen. Das System ist so alt wie die Finanzwelt selbst, nach meinem Schulabschluss 1992 meldeten sich im folgenden Jahr zwei ehemalige Mitschüler, um mir schon damals Versicherungen andrehen zu wollen. Ich erinnere mich gut an die dubiose Masche: „Wir haben und doch immer gut verstanden.“ Und Floskeln wie: „Lass uns mal treffen, den Geschmack von Cola kann ich Dir auch nicht am Telefon erklären.“ Widerwärtig!

Der Satiriker Jan Böhmermann widmete jüngst der DVAG eine komplette 31-minütige Sendung des ZDF Magazin Royale. Wenn das „große Geld“ winkt, ist sich auch kaum ein Promi zu schade, dafür zu werben und seine Popularität in bare Münze zu wandeln, egal wie sehr der gute Ruf langfristig darunter leidet. Das hat mich schon bei der Kampagne der BILD erschüttert, wer sich da hat ablichten lassen. Wenn man selbst auf dem absteigenden Ast ist, dann verstehe ich das zumindest noch im Ansatz, aber zeitlose Idole wie Udo Lindenberg oder im aktuellen Fall Jürgen Klopp, da kann ich nur mit dem Kopf schütteln. Aber jeder ist seines eigenen Gewissens Schmied.

Das Anbiedern an vermeintliche „Leistungsträger“ (die sich bei näherem Hinsehen als parasitäre und gewissenlose Heuschrecken herausstellen) hat in der Politik ja Tradition, denken wir z. B. an das gewissenlose Geschäftstreiben der AWD, deren Gründer Carsten Maschmeyer bis heute trotz zahlloser Klagen als Leistungsträger gehandelt wird. Woran erkennt man gewissenlose Unternehmer in der öffentlichen Wahrnehmung sofort? Einfach mal schauen, wer in gehaltlosen Shows der Privatsender wie „Die Höhle der Löwen“ und „Start-Up!“ (Maschmeyer) oder „The Apprentice“ (Trump) auftritt. Eigentlich halte ich alle Arten von Castingshows für ähnlich menschenverachtenden Trash, der die Würde mit Füßen tritt und an dem sich nur Menschen erfreuen kann, die selbst ein zweifelhaftes Selbstwertgefühl haben und sich an solchen Shows und deren Opfern ergötzen können oder sogar müssen. Aber das steht auf einem anderen Blatt.

Was bleibt, ist die Gewissheit, dass sich auch in Zukunft unsere politischen und medialen „Eliten“ von schnellem Geld blenden lassen werden. Was bleibt, ist auch die Gewissheit, dass die oft maßlose und gewissenlose Bereicherung weit über persönlicher Reputation und Glaubwürdigkeit steht. Was bleibt, ist auch die Gewissheit, dass die Menschheit den kurzfristigen Gewinnen selten widerstehen kann, auch wenn es mit ziemlicher Sicherheit langfristig negative Folgen geben wird: Cum-Ex und anderer Steuerbetrug, Seitensprünge, ausufernder Drogenkonsum und Alkoholismus, fehlerhafte Ernährung, Kaufrausch und Schuldenfallen, Smartphone-Nacken oder Bewegungsmangel … eine endlose Liste. Wenigstens etwas, auf das man sich auch in unruhigen Zeiten verlassen kann: „Möge die Verblendung durch (finanzielle) Macht mit uns sein!“

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Dirk

Jahrgang 1974, in erster Linie Teil dieser Welt und bewusst nicht fragmentiert und kategorisiert in Hamburger, Deutscher, Mann oder gar Mensch. Als selbstständiger IT-Dienstleister (Rechen-Leistung) immer an dem Inhalt und der Struktur von Informationen interessiert und leidenschaftlich gerne Spiegel für sich selbst und andere (als Vater von drei Kindern kommt dies auch familiär häufig zum Einsatz). Seit vielen Jahren überzeugter Vegetarier und trotzdem der Meinung: „Alles hat zwei Seiten, auch die Wurst hat zwei!“

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