Wissen ist eine Form der Vergangenheit

Das Internet ist ein Multiplikator für so viele Dinge, denn es hat unseren Ereignishorizont mal eben ins Globale verschoben (was vorher nur in Ausschnitten über das Fernsehen und die Zeitungen der Fall war). So ist es auch mit der Meinung: Sie wird auf vielen Kanälen kundgetan, und die (un)sozialen Medien bieten neben Blogs und Foren reichlich Raum und entsprechende Vielfalt. Was aber scheinbar immer wieder in Vergessenheit gerät, ist die einfache Tatsache, dass „Wissen“ sich auf die Vergangenheit bezieht. Es ist eigentlich einfach, denn wissen kann man nur, was bereits passiert ist, alles andere ist und bleibt spekulativ. Das wird aus meiner Sicht nicht wirklich so gelebt, wenn ich sehe, wie viele Expert:innen es auf den verschiedenen Plattformen (inkl. TV und Radio) so gibt. Sämtliche Meinungen, die heute noch richtige Prognosen sein könnten, werden morgen von der Realität eingeholt, egal wie logisch oder emotional sie zustande gekommen sind.

Das zeigt sich auch gerade mal wieder in Bezug auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine! Gerade scheiden sich die Gemüter z. B. an der Frage, ob man Waffen liefern sollte oder nicht (nachdem wir uns ja ausreichend am Thema „Impfen oder nicht?“ aufgerieben haben). Aber „wissen“, was das Richtige ist, wird man erst im Nachhinein, denn alles andere ist und bleibt Spekulation. Was haben wir nicht alles gelesen und gehört, dass man sich einen Angriff nicht vorstellen könne. Und immer wieder verweise ich auf diesem Blog auf den „Dunning-Kruger-Effekt“, wenn jemand so genau meint zu „wissen“, was geschehen wird. Wer also nicht auf seine frisch polierte Kristallkugel verzichten mag, der sei sich gern weiterhin sicher und presche mit ihrer/seiner Meinung voran!

Und weil das Thema gerade aktuell ist und auch ich eine Meinung dazu habe, gebe ich die hier und jetzt mal zum Besten! Sie hegt absolut nicht den Anspruch auf Vollständigkeit und vor allem werde ich diese Meinung weiterhin den geänderten Umständen anpassen und versuchen zu reflektieren, denn nichts liegt mir ferner, als aus meiner (derzeitigen) Vorstellung einen (blinden) Dogmatismus werden zu lassen. Es ist nicht mehr oder weniger als eine Meinung und deshalb auch kein Grund, sich daran abzuarbeiten. Wer also mehr möchte, als sich eine Meinung durchzulesen (um seine eigene ggf. zu erweitern), der möge hier aufhören zu lesen, denn ich habe nicht vor, einen Diskurs zu starten (weshalb ich nicht auf Facebook und Co. in den [un]sozialen Median schreibe).

Russland hat eine „Angriffshandlung“ gestartet, und das ist ein Verstoß gegen das „Allgemeines Gewaltverbot“ der UN-Charta der Vereinten Nationen. Ich habe im Laufe der Zeit viele Gründe gehört, womit dieser Angriffskrieg gerechtfertigt wird, aber keiner dieser Gründe ist aus meiner Sicht gerechtfertigt, einen Angriffskrieg zu führen, der ist und bleibt illegal und aufs Schärfste zu verurteilen. Die beiden häufigsten Gründe führe ich hier nun mal an (Gründe sind fett dargestellt und mein Einwand entsprechend darunter).

  • „Die NATO hat gegen ihre mündliche Zusage der Osterweiterung verstoßen und so Russland zum Handeln gedrängt.“
    Ich finde es nicht richtig, dass eine Zusage gemacht wird und man anschließend damit bricht. Das sollte man sich grundsätzlich überlegen, was man verspricht, denn die Umstände ändern sich, und vielleicht kann man das nicht einhalten, was man sich selbst fest vorgenommen hat. Ich verstehe weder, wie man so naiv sein kann, eine solche Zusage zu machen (es sei denn, sie war berechnend manipulativ und nicht naiv), noch wie man dieser Aussage in eine unbestimmte Zukunft Glauben schenken kann. Aber das ist sicherlich keine Rechtfertigung für einen Angriffskrieg (denn die gibt es nicht!), und die Infragestellung souveräner Staaten an ihre eigene politische Ausrichtung zur NATO ist am Ende weder Sache der NATO noch Sache Russlands. Souverän bedeutet Selbstbestimmt, sollte das jemand nicht verstanden haben. Und trotzdem ist das Argument richtig: Wenn die NATO zusagt, keine Staaten östlich der ehemaligen NATO-Grenze aufzunehmen, dann sollte man zu so einer Zusage stehen. Russland hat entsprechend viele Optionen, anderen Staaten Angebote zu machen, damit diese sich den BRICS-Staaten oder anderer Bündnisse anschließen.
  • „Die USA und mit ihnen die NATO führen auch illegale Angriffskriege.“
    Das sehe ich auch so und bin ebenso dagegen wie gegen jeden anderen Angriffskrieg. Also das ist kein Argument „für“ einen russischen Angriffskrieg, sondern „gegen jeden“ Angriffskrieg! Wenn die USA einen „Krieg gegen den Terror“ als Vorwand für einen Angriffskrieg gegen den Irak, Afghanistan oder sonst ein Land auf dieser Erde nutzen, dann ist das ebenso illegal und gehört vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag angeklagt. Jeder Angriffskrieg sollte unmittelbar angeklagt und durch entsprechende Embargos schnellstmöglich beendet werden (denn eine Anklage macht noch keine Gerichtsverhandlung, siehe den Buchtipp „Illegale Kriege“). Damit gehört praktisch jeder US-amerikanische Präsident der letzten Jahrzehnte auf die Anklagebank! Aber auch die Mitglieder der NATO-Staaten (bzw. ihre Regierungen), die mit ihren „Aufklärungsflügen“ die Ziele für Bombardements der amerikanischen Streitkräfte geliefert haben, gehören mit auf die Anklagebank, was auch immer der Internationale Gerichtshof dann entscheiden mag. Das Recht auf eine ergebnisoffene Gerichtsverhandlung hat jeder Mensch, auch ein Osama Bin Laden, Saddam Hussein oder Muammar al-Gaddafi.

 

Waffenlieferungen an die Ukraine

Und nun komme ich auch noch mal auf die Waffenlieferungen, um ein anderes, heikles Thema mit anzufassen. Ich bin überzeugter Pazifist, habe selbst Zivildienst geleistet und bin in keiner Weise vorbestraft, weder für Gewalttaten noch für sonstige Vergehen oder Ordnungswidrigkeiten. Jede andere Lösung als Gewalt ist für mich grundsätzlich die attraktivere Lösung, egal welche Form von Gewalt und gegen wen. Deshalb ist es aus meiner Sicht auch richtig, dass sich abwechselnd zig Staatschefs (ich glaube eine Staatschefin war noch nicht dort) mit Putin an den runden Tisch setzen und versuchen eine diplomatische Lösung zu finden.

Wie bei so vielen Dinge sind Universalrezepte aus meiner Sicht aber meisten eher blinder Dogmatismus. Es ist anstrengend, aber jede Situation bedarf einer eigenen Einschätzung, wenn sich die Rahmenbedingungen nicht eins zu eins übertragen lassen (und das tun sie selten bei komplexen Geschehen). Auch hier noch einmal das gleiche Prinzip wie oben: Die häufigsten Gründe gegen die Waffenlieferungen (Gründe sind fett dargestellt und mein Einwand entsprechend darunter).

  • „Mehr Waffen bedeuten mehr Tote.“Oder „Kapitulation als Zweckmittel zu Verhandlungen.“
    Das sehe ich im Prinzip auch so, und gerade wenn ich mir die USA so anschaue, dann sterben da wirklich viele Menschen durch Schusswaffen (und die Idee von Donald Trump, den Lehrer:innen an Schulen auch Waffen zu geben, um Amokläufe schnell zu beenden, teile ich in keiner Weise). Allerdings gibt es berechtigte Zweifel, dass eine (waffenlose) Kapitulation der Ukraine das Sterben dort beenden wird. Die Liste der russischen/sowietischen Kriege ist lang, und wer sich den Verlauf der Tschetschenienkriege anschaut, der hat auch eine Vorstellung, was nach einer Kapitulation ansteht: Deportation, Masseninhaftierung oder gar Genozid/Völkermord. Was dafür spricht, entspringt der russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti (Presse in Russland ist dieser Tage mit Staatsmedien gleichzusetzen), die praktisch von einer kompletten Ausrottung der ukrainischen Bevölkerung schreibt (Originaltextenglische Übersetzung und Auszüge übersetzt von Gert Scobel).
  • „Durch Waffenlieferungen könnten wir in den Krieg hineingezogen werden.“
    Auszuschließen ist das sicherlich nicht, denn wer kann schon in den Kopf von Putin schauen? Allerdings ist die Liste der liefernden Länder lang, und da hat Russland doch einiges zu tun (z. B. die USA oder Großbritannien). Wenn er einen Grund sieht, ein Land anzugreifen, dann sollte man derzeit eines klar sehen können: Einen Vorwand schüttelt Putin aus der Hüfte!
  • „Angst vor einem Atomkrieg.“
    Wer keine Angst vor einem Atomkrieg hat, der sollte vielleicht mal einen Arzt konsolidieren, da sind wir uns wohl alle einig. Dieses Argument kann ich nicht entkräften, denn wie oben geschrieben: „Wer kann schon in den Kopf von Putin schauen?“ Allerdings kann ich für mich sagen, dass ich lieber mit wehenden Fahnen untergehen würde, als einem Aggressor aus Angst erlaube, auf vermeintlich Schwächeren herumzutrampeln, bis ich irgendwann an der Reihe bin. Das gilt im Kleinen wie im Großen: Wenn in der S-Bahn ein Halbstarker auf Obdachlose losgeht, dann stehe ich auf und fordere andere auf es mir gleichzutun. Ich pflege zu sagen: Der fette Junge in der Sandkiste ist nur so lange der Boss, wie andere diese Rolle zulassen und mitspielen.

Deshalb würde ich die vorhandenen Waffen liefern, denn ich glaube nicht daran, dass Putin zu Verhandlungen bereit ist, wenn er keinen Grund dazu hat. Und scheinbar konnte ihm bisher kein Verhandlungspartner auch nur eine Waffenruhe oder auch nur das kleinste Eingeständnis abringen. Auch wenn das zu einem befürchtete „Gesichtsverlust“ auf Seiten Putins führen könnte, so denke ich, nur so wird er einen Grund für Verhandlungen haben. Was sein Gesichtsverlust angeht, so kann er alles in Russland als „was auch immer“ verkaufen (wie dieser Krieg dort zu großen Teilen erfolgreich als „Spezialoperation“ verkauft wird), und vor dem Rest der Welt (abgesehen von China und Eritrea) ist es für diesen Gesichtsverlust längst zu spät.

Übrigens ist Deutschland noch immer viertgrößter Waffenexporteur der Welt. Und auch wenn es Auflagen gibt, diese Waffen nicht in Kriegsgebiete zu liefern, so landen diese Waffen immer wieder über Umwege genau dort. Wer davon ausgeht, dass wir als viertgrößter Waffenexpoteur der Welt nicht für Tod und das Verderben vielerorts verantwortlich sind, der sollte vielleicht noch einmal innehalten und über Waffenlieferungen im Ganzen nachdenken. Das kann generell kaum schaden …

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Dirk

Jahrgang 1974, in erster Linie Teil dieser Welt und bewusst nicht fragmentiert und kategorisiert in Hamburger, Deutscher, Mann oder gar Mensch. Als selbstständiger IT-Dienstleister (Rechen-Leistung) immer an dem Inhalt und der Struktur von Informationen interessiert und leidenschaftlich gerne Spiegel für sich selbst und andere (als Vater von drei Kindern kommt dies auch familiär häufig zum Einsatz). Seit vielen Jahren überzeugter Vegetarier und trotzdem der Meinung: „Alles hat zwei Seiten, auch die Wurst hat zwei!“

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