Sapperlot! Da wurde uns doch glatt nach etlichen Monaten dieser Tage präsentiert, wer denn nun schuld sei an der Sprengung der Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee: sechs pro-ukrainische Privatpersonen mit falschen Pässen auf einer Jacht, die von Rostock aus losfuhr (s. hier und hier). Na dann ist ja alles klar, oder?
Dass die Regierung die Bürger gern mal nicht eben wahrheitsgemäß informiert, wenn es um Terrorismus geht, ist ja leider nichts Neues. Als Schlagworte seien nur mal das Celler Loch, die angebliche Alleintäterschaft von Gundolf Köhler beim Oktoberfest-Attentat, die spontane Deradikalisierung mit nachfolgender Selbsttötung der beiden Uwes Mundlos und Böhnhardt vom NSU (empfehlenswert dazu das Buch „Die schützende Hand“ von Wolfgang Schorlau) oder auch die Merkwürdigkeiten beim Attentat von Anis Amri auf dem Berliner Weihnachtsmarkt (s. dazu hier – vor allem auch in den nachstehenden Anmerkungen) genannt.
Tja, und nachdem nun seit Monaten kaum Erkenntnisse ermittelt werden konnten, wer denn nun für die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines verantwortlich gewesen sein könnte – nachdem es am Anfang ja ganz eindeutig (und ohne jeden Beweis) hieß: „Der Russe war’s!“ -, taucht nun plötzlich eine Jacht auf, mit der sechs Personen mit falschen Pässen von Rostock aus in See gestochen sind und das Ding in die Luft gejagt haben.
Verräterischerweise gab es nämlich Spuren von Sprengstoff auf dem Tisch der offensichtlich nicht ganz gut geputzten Jacht. Warum das erst jetzt irgendjemandem auffällt – geschenkt!
In jedem Fall dementiert man vonseiten der Kiewer Regierung, dass man irgendwas damit zu tun haben könnte! Und eventuell sei das Ganze ja auch eine False-Flag-Operation der Russen gewesen – man weiß das nicht so genau. Wobei dann ja immer noch die Frage bliebe, warum die nun ihre eigene Pipeline in die Luft sprengen sollten, aber das hat ja vor einem halben Jahr auch kaum jemanden interessiert.
Wobei vor einem halben Jahr auch noch Konsens dahin gehend bestand, dass eine solche Aktion im Grunde nur von einem staatlichen Akteur durchgeführt werden könne. Ich zitiere mal eben aus der Frankfurter Rundschau zu dem Thema:
Die deutschen Sicherheitsbehörden gehen nach Informationen des Nachrichtenmagazins Spiegel davon aus, dass die Schäden an den Ostsee-Pipelines Nord Stream 1 und 2 nur durch Bomben mit gewaltiger Sprengkraft verursacht worden sein können. Die Berechnungen der Fachleute deuten darauf hin, dass Sprengsätze zum Einsatz kamen, deren Wirkung mit der von 500 Kilogramm TNT vergleichbar ist. Auch diese Schätzung deutet darauf hin, dass nur ein staatlicher Akteur dafür verantwortlich sein kann.
Hmmm … und wie passt das jetzt bitte mit der aktuellen Erzählung zusammen? Vor allem: Wie darf ich mir denn vorstellen, dass da ein paar Leutchen Hunderte von Kilo Sprengstoff mal eben auf einer Jacht durch die Gegend schippern (noch dazu auf der Ostsee, einem der am stärksten überwachten Meere der Welt) und dann fachgerecht auf dem Meeresgrund in 70 Meter Tiefe (kein wirklicher Pappenstiel) an den Pipelines anbringen? Zumal man ja so ein paar Hundert Kilo Sprengstoff zum einen nicht einfach so im nächsten Baumarkt bekommt und zum anderen auch nicht mit einer Sporttasche durch die Gegend transportiert. Ach ja, und so ganz günstig dürfte das Zeug auch nicht sein, stell ich mir zumindest vor (meine Erfahrungen im Erwerb von Sprengstoffen sind halt gleich null).
Klingt irgendwie reichlich abenteuerlich und nach einem abstrusen Verschwörungsmythos, oder?
Aber ich vergaß: Verschwörungstheorien verbreiten ja immer nur „die anderen“ …
Das Timing ist zudem auch recht passend, denn gerade vor Kurzem hat ja der international bekannte Investigativjournalist Seymour Hersh in einer Recherche dargelegt, dass die USA und Norwegen (die beide auch zufälligerweise die größten Profiteure von der Nord-Stream-Sprengung sind) für diesen Anschlag verantwortlich seien. Das sorgt für Aufregung, und Hershs Reputation ist nun mal auch nicht so einfach damit zur Seite zu wischen, dass er ein Putin-Knecht oder Verschwörungsschwurbler sei – auch wenn dies natürlich immer wieder in vielen Medien versucht wurde. Wobei dabei dann durchaus von Faktencheckern nicht sauber gearbeitet wurde und Übersetzungsfehler bemüht wurden, um die Aussagen von Hersh zu widerlegen (s. hier).
Was also tun, um solchen Anschuldigungen zu begegnen? Genau: Man zaubert einen anderen Schuldigen aus dem Hut hervor. Und zwar einen, der nichts mit den USA, nichts mit der ukrainischen Regierung und ganz vielleicht ja doch (man weiß das nicht so genau) mit Putin zu tun hat.
Vorhang auf für die sechs Typen auf ihrer Jacht!
Da ich nun vermutlich nicht der Einzige bin, dem diese Ungereimtheiten auffallen, kann ich mir vorstellen, dass in zahlreichen „Qualitätsmedien“ schon bald Fachleute zu Wort kommen werden, die uns erklären, warum es eigentlich für Privatpersonen kein Problem ist, solche Sprengungen unter Wasser vorzunehmen. Dabei kann man sich dann natürlich fragen, warum dann nicht schon längst immer wieder mal derartige terroristische Anschläge vorgekommen wären, aber mit solchen Details dürfte man sich kaum aufhalten wollen im Legitimationsrausch für diese groteske Story.
Zudem kann ich mir vorstellen, dass die selbst ernannten Faktenchecker, die bei Hershs Bericht jedes Haar in der Suppe gesucht haben, das nun bei diesem Narrativ nicht so machen und das geschilderte Geschehen in seiner Absurdität einfach als Tatsache schlucken werden.
Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst – diese zutreffende Aussage wird so und in leicht abgewandelter Formulierung einigen Personen zugeschrieben. Dass nun allerdings die Menschen auf so dreiste Art und Weise für komplett blöd verkauft werden sollen, finde ich dann doch schon ein starkes Stück. Hier werden keine Erklärungen für in der Realität Geschehenes gesucht und präsentiert, sondern die Erklärungen werden an eine gewünschte Realität angepasst. Wie oben schon gesagt: nicht ganz neu, aber in diesem Fall eben auch besonders hanebüchen.
Wie soll man so einen Vorgang, an dem viel zu viele aus Politik und Medien mittun, sonst bezeichnen, wenn nicht als Verarsche pur?
Auch Norbert Häring zeigt sich in einem Artikel seines Blogs reichlich verwundert ob dieser abstrusen Geschichte, die uns da nun als Tathergang für die Nord-Stream-Sprengung aufgetischt wird. Lesenswert!