Schönreden

Vieles läuft zurzeit reichlich schlecht in dieser Welt und in diesem Land, und die Unzufriedenheit damit äußert sich auch immer wieder. Doch anstatt Änderungen zu fordern oder herbeizuführen, kann ich immer mehr beobachten, dass viele Menschen dazu neigen, sich Dinge schönzureden – auch ohne Rücksicht auf dabei entstehende Differenzen mit der Realität.

Eine besonders weit verbreitete Methode des Schönredens ist dabei der Verweis auf andere, wenn etwas kritisiert wird. Auf die Aussage, dass die AfD eine Menge unsaubere Parteispenden erhalten hat, heißt es dann beispielsweise sehr oft: „Ja, aber das gibt es doch in allen Parteien!“ Das mag ja vielleicht auch zumindest zum Teil angehen, aber dann kann man das bei anderen Parteien genauso konkret kritisieren – und wird dann vielleicht feststellen, dass es das nicht überall in dem Maße gibt wie bei den Blaubraunen. Zumal diese ja auch immer gern herausposaunen, dass sie angeblich alles anders machen wollten als die „Altparteien“.

Nun kann man nicht ganz zu Unrecht einwenden, dass AfD-Jünger ja ohnehin jenseits von Gut und Böse sind, was die Wahrnehmung der Realität angeht, und liegt damit auch nicht gerade falsch. Allerdings lässt sich dieses Phänomen eben auch bei anderen Sachverhalten beobachten.

Beliebt ist es zum Beispiel auch, auf Kritik an Amazon so zu reagieren, dass dann der stationäre Einzelhandel schlechtgemacht oder das Geschäftsgebaren des Versandriesen damit gerechtfertigt wird, dass der ja schließlich damit großen Erfolg hätte. Und außerdem ist das ja auch so schön bequem, und wenn man will, kann man alles wieder zurückschicken, denn die sind ja so superkulant von Amazon. Ach ja, und schließlich würden ja sowieso andere auch keine Steuern zahlen, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten.

Letzteres halte ich allerdings für eine steile These, denn nicht alle Händler haben nun mal automatisch eine Tendenz zur Schäbigkeit. Und wenn auch mit Sicherheit nicht alles bestens ist im Einzelhandel vor Ort, bei dem es schließlich auch schwarze Schafe geben kann, so dienen solche Aussagen doch vor allem dazu, die eigene Bequemlichkeit zu rechtfertigen, indem man schlichtweg die Augen davor verschließt, dass man als Amazon-Kunde ein Unternehmen unterstützt, das nicht nur fiese Ausbeutung betreibt, sondern auch Steuern vermeidet, wo es nur geht, und darüber hinaus auch noch irre viel Müll produziert wegen der ganzen Verpackungen und der oft einfach verschrotteten retournierten Ware.

Und da gibt es dann eben auch Kollisionen mit der Realität bei der Schönrednerei: Die Steuervermeidungsmöglichkeiten eines transnationalen Konzerns sind nämlich beispielsweise komplett andere als die vom inhabergeführten Geschäft um die Ecke. Das kann seinen Kunden schließlich keine Rechnungen aus Luxemburg schicken, um von den dortigen niedrigen Steuersätzen zu profitieren. Und hat in der Regel auch nicht haufenweise Geld übrig, um damit Lobbyismus zu betreiben (s. hier).

Zudem wird auch immer „übersehen“ bei dem Hinweis darauf, dass man kaum noch Einzelhandel vor Ort hätte, sodass man bei Amazon bestellen müsse, dass es ja auch andere Online-Händler gibt, die vielleicht nicht ganz so schäbig drauf sind wie Bezos‘ Ekelbude. Tja, und wenn dann dort etwas vielleicht ein bisschen teurer ist und nicht schon am nächsten Tag geliefert wird, dann könnte das ja vielleicht auch daran liegen, dass dieses Unternehmen eben Steuern und vernünftige Gehälter zahlt sowie auch keinen enormen Druck auf die Zulieferer ausübt. Bevor man dann allerdings sagt: „Mir doch latte, Hauptsache ich – meine Bequemlichkeit und mein Geiz sind wichtiger als die Ausbeutung anderer Menschen!“, ist es dann doch etwas umgänglicher und besser fürs eigene Ego, sich Amazon ein bisschen schönzureden, indem man auf die Mankos von anderen Unternehmen verweist.

Ziemlich dasselbe Gebaren wie bei den AfD-Jüngern, oder?

Noch ein ganz anderer Bereich: Digitalisierung und künstliche Intelligenz (KI). Hier gibt es ja mittlerweile etliche Bedenken, angefangen von der Kritik am Digitalzwang über die ständig erweiterten Überwachungsmöglichkeiten (Stichwort EU-Chatkontrolle) bis hin zu KI-Entwicklern und Fachleuten, die fürchten, dass das alles ziemlich schnell und derbe komplett aus dem Ruder laufen könnte (s. beispielsweise hier und hier). Wenn man diese allerdings Leuten vorträgt, die nach wie vor total begeistert von ihren Smartphones sind und so ein bisschen wohl auch darauf hoffen, dass die Digitalisierung alle aktuellen Probleme inklusive der Klimakrise schon irgendwie lösen wird, dann bekommt man auch häufig Schönrednerei zu hören.

Das geht los mit dem Klassiker „Ich hab ja nichts zu verbergen“, wenn es denn um das Thema Überwachung geht. Dazu hab ich vor sechs Jahren bereits einen Artikel geschrieben, indem ich aufzeigte, dass es sehr wohl gute Gründe gibt, etwas zu verbergen zu haben – und das Privatsphäre eben auch ein sehr hohes zivilisatorisches Gut ist. Weiter geht es dann mit dem Vorwurf, dass man ja nur technikfeindlich sei, wenn man sich kritisch zu einigen Auswüchsen der Digitalisierung äußert – auch wenn das nachweislich nicht stimmt, weil man selbst durchaus online aktiv ist, nur eben nicht alles einfach so hinnimmt.

Auch solche digitalen „Errungenschaften“ wie Streaming werden natürlich komplett unkritisch gesehen, indem deren offensichtliche negative Auswirkungen (beispielsweise Monopolisierung des kulturellen Angebots und schlechte Bezahlung von Künstlern; s. dazu hier und hier) einfach ausgeblendet werden und man sich stattdessen schönredet, was es doch alles für tolle Sachen, beispielsweise Serien auf Netflix, gibt, die es sonst nicht gegeben hätte. Wobei das ja nun niemand so richtig sicher sagen kann -schließlich gab es ja auch schon gute Filme, Serien und Musik vor dem Zeitalter des Streaming …

Und auch bei der wohl größten Herausforderung der Menschheit, der Klimakrise, üben sich leider viel zu viele im Schönreden. So ist beispielsweise immer wieder zu hören, dass es ja nicht so schlimm sein könnte mit der Erderwärmung, da wir nun ja einen ziemlich nasskalten Juli in weiten Teilen Deutschlands hatten.

Dass es anderswo auf der Welt dann komplett anders aussieht, sodass sich auch in diesem Jahr insgesamt globale Rekordwerte für Temperaturen ergeben, wird schlichtweg ausgeblendet. Das Thema hatte ich ja schon in meinem Artikel von letzter Woche angesprochen, inklusive der Unfähigkeit (oder dem Unwillen) vieler, überhaupt erst mal zwischen Klima und Wetter zu unterscheiden.

Besonders gut beim Thema Klima zu beobachten: das Verweisen auf andere. Die Kreuzfahrer zeigen mit dem Finger auf die Vielflieger, diese dann auf die SUV-Fahrer, diese wiederum auf diejenigen, die sehr viel Fleisch essen, die dann wiederum auf die Kreuzfahrer zeigen. Und wer in mehreren dieser Gruppen ist, der zetert dann über die „Letzte Generation“ und gibt sich so das gute Gefühl, doch irgendwie auf der richtigen Seite zu stehen. Zumal wenn von den Aktivsten dann auch noch welche dabei erwischt werden, selbst in den Urlaub zu fliegen (was natürlich genüsslich skandalisiert wird) – dann kann das ja alles so schlimm nicht sein! Dogmatismus von anderen einzufordern, die einen an die eigenen Verfehlungen erinnern, ist ja ohnehin eine schon länger bekannte Art und Weise des Schönredens.

Als wenn das nun alles noch nicht genug wäre, so ist das Phänomen des Schönredens mittlerweile auch in der Politik angekommen. Das konnte man gerade beobachten, als die Bundesregierung die EU-Asylreform, die eine deutliche Verschlechterung der Situation für viele Geflüchtete zur Folge haben wird, schönzureden versuchte (s. hier). Klar, wenn man sich selbst als progressiv und irgendwie auch noch zum linken Lager gehörig sieht und darstellen möchte, dann macht es eben keinen guten Eindruck, eine restriktive Asylpolitik zu unterstützen, die fieser eigentlich von der AfD auch nicht hätte bewerkstelligt werden können. Also hangelt man sich faktenfrei verbal durch einige schön klingende Allgemeinplätze, die nur leider mit der Realität nichts zu tun haben.

Womit wir dann wieder bei der oben bereits beschriebenen Diskrepanz zwischen der Schönrednerei und der Realität wären …

Ich kann sogar ein bisschen verstehen, dass in einer Welt, in der die Krisen immer heftiger, größer und damit auch die Vorstellung vieler übersteigend ausfallen, die Sehnsucht danach besteht, sich selbst da ein Stück weit rauszunehmen. Zudem hilft das ja auch dabei, die kognitive Dissonanz zu überbrücken, die man empfindet aufgrund des eigenen Handels im Kontrast zu dem, was man wissen kann, wenn nicht gar wissen muss ob dessen Folgen. Allerdings ist das meines Erachtens genau der verkehrte Weg, um diesen ganzen Krisen auch nur wenigstens ein bisschen adäquat begegnen zu können. Letzteres ist allerdings auch reichlich unbequem, und verängstigte oder verunsicherte Menschen neigen eben dazu, sich in ihre eigene Muckeligkeit zurückzuziehen. Insofern fürchte ich, dass das Schöngerede noch deutlich zunehmen wird in nächster Zeit …

Print Friendly, PDF & Email

Karl

Jahrgang 1969, ist nach einem Lehramtsstudium und diversen beruflichen Tätigkeiten seit 2002 freiberuflicher Lektor (Auf den Punkt). Nach vielen Jahren in Hamburg, lebt er nun seit November 2019 in Rendsburg. Neben dem Interesse für politische Themen ist er ein absoluter Musikfreak und hört den ganzen Tag Tonträger. An den Wochenenden ist er bevorzugt in Norgaardholz an der Ostsee und genießt dort die Natur.

Schreibe einen Kommentar