Verständnis vs. Verstehen

Gerade nach einem Terroranschlag oder anderen Vorfällen, die einen mit Abscheu erfüllen, ist immer wieder zu beobachten, dass viele Menschen Verstehen und Verständnis gleichsetzen. Diese Unterscheidung vorzunehmen ist jedoch wichtig, wenn man die Ursachen solcher Gräueltaten diskutieren möchte. Etwas verstehen zu wollen bedeutet nämlich noch lange nicht, Verständnis dafür zu haben.

Das erste Mal ist mir die Vermischung und (so kam es mir zumindest vor) auch böswillige Missinterpretation dieser beiden Begriffe aufgefallen, als sich der Terminus „Putin-Versteher“ großer Beliebtheit erfreute. Damit wurden recht schnell in Diskussionen Menschen bedacht, welche die Gründe für das Verhalten des russischen Präsidenten im Zuge der Krim-Annexion hinterfragten. Verweise auf die besondere Situation Russlands in den chaotischen 90er-Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion und unter Präsident Jelzin oder auch das Erwähnen von nicht eingehaltenen Versprechungen westlicher Politiker, dass sich die NATO nicht weiter als bis Deutschland nach Osten ausdehnen würden, wurden so abzubügeln versucht, indem den Argumentierenden eine Nähe zu Putin vorgeworfen wurde, auch wenn diese überhaupt nicht bestand. Das Verstehenwollen von Beweggründen, also eine der Versuch einer rationalen Erklärung, wurde eben mit Verständnis für Putin gleichgesetzt.

Das ist nun kein ganz neues Verhalten. Schon Alice Miller sah sich mit ähnlichen Vorwürfen konfrontiert, nachdem ihr Buch „Am Anfang war Erziehung“ (1980) sich auch der Kindheit Adolf Hitlers widmete, die sie als grundlegend für dessen späteres monströses Verhalten ausmachte. Dies wurde nun von nicht wenigen so ausgelegt, als würde Miller um Verständnis für Hitler werben – dabei ging es ihr doch darum, die Ursachen aufzuzeigen, die den Menschen Adolf Hitler überhaupt erst ermöglicht hatten. Schließlich ist dieser ja nicht einfach so vom Himmel gefallen, sondern eben ein Produkt seiner Zeit und vor allem seiner Sozialisation.

Und genau solchen Vorwürfen sieht man sich nun auch schnell ausgesetzt, wenn man heute nach einem Anschlag nach dem Hintergrund der Täter fragt, die eben oft aus Milieus stammen, in denen Perspektivlosigkeit und ein wenig gefestigtes soziales Umfeld zum Alltag gehören. Auch hier geht es nicht darum, den Tätern in irgendeiner Form eine Art Ausrede auszustellen oder mangelnde Schuldfähigkeit zu attestieren, sondern sich zu überlegen, was man denn zukünftig vielleicht anders machen könnte, um derartige Terroristenbiografien gar nicht erst entstehen zu lassen.

Und damit sind wir dann aber auch schon bei einem entscheidenden Punkt, warum das Bemühen des Verstehens so oft mit dem Vorwurf des Verständnisses für eine brutale Tat oder einen verbrecherischen Menschen konfrontiert wird: Dämonisierung ist bequemer, als nach Ursachen und Hintergründen zu fragen, die dann vielleicht ja sogar auch noch einen selbst ein Stück weit betreffen könnten – oder zumindest Dinge infrage stellen, die in der Gesellschaft, in der man lebt, schieflaufen und deswegen vielleicht besser geändert werden sollten. Allein auf Irrationalität abzustellen („Der ist ja irre!“) ist zwar schön einfach, aber eben selten zielführend, wenn man es nicht gerade mit vollkommen psychotischen Menschen zu tun hat.

Von dem Bösen, das keinen Bezug zum eigenen Leben hat, kann man sich selbst besser abgrenzen – das ist ein Stück weit auch verständlich, da eine solche Abgrenzung eben auch das Gefühl von Sicherheit suggeriert. Andererseits ist es natürlich fatal, um tatsächlichen Prozessen auf den Grund zu gehen, die Menschen dazu führen, Anschläge zu verüben oder sonst irgendwelche scheußlichen Taten auszuführen. Es sei denn, man würde sich mit einer metaphysischen Erklärung begnügen, dass solche Leute vom Teufel besessen oder von Dämonen angestachelt worden seien – und das kann’s ja nun echt nicht sein, oder?

Insofern ist das Verstehen existenziell wichtig, denn nur so können wir dazu beitragen, dass sich Dinge ändern. Was wir nicht verstehen, darauf haben wir in der Regel auch keinen Einfluss. Dass dies nichts mit Verständnis für abscheuliche Verbrechen zu tun hat, sollte eigentlich klar sein – ist es aber gerade in aufgeheizten Stimmungen und bei komplexen Zusammenhängen dann doch oftmals nicht. Umso wichtiger, dann genau darauf hinzuweisen und auf diese Unterscheidung in Diskussionen und Gesprächen zu bestehen.

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Karl

Jahrgang 1969, ist nach einem Lehramtsstudium und diversen beruflichen Tätigkeiten seit 2002 freiberuflicher Lektor (Auf den Punkt). Nach vielen Jahren in Hamburg, lebt er nun seit November 2019 in Rendsburg. Neben dem Interesse für politische Themen ist er ein absoluter Musikfreak und hört den ganzen Tag Tonträger. An den Wochenenden ist er bevorzugt in Norgaardholz an der Ostsee und genießt dort die Natur.

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