Es ist gut, dass über Hartz IV endlich wieder prominent diskutiert wird

Über Hartz IV wird schon lange diskutiert – auch hier haben wir dies oft getan. Nun ist die Diskussion aber wieder in den Fokus der Politik und damit auch der Medien geraten, nicht erst seit den Vorschlägen von Robert Habeck. Nein, bei der SPD dreht sich vieles, wenn nicht alles, um ihr einstiges Baby, um diesen Paradigmenwechsel im Sozialen, welchen sie gemeinsam mit den Grünen einst mit ihrer Agenda 2010 beschlossen hatten und damit viele Probleme erst Probleme haben werden lassen, die wir heutzutage haben.

Auch Andrea Nahles macht neuerdings überraschende Vorschläge – einst stärkste Verfechterin als Arbeits- und Sozialministerin der Agenda 2010 -, hat dieses Thema als unausweichlich erkannt. Reflexartig gingen sofort Union und FDP, einschließlich der Verbände der Wirtschaft – wie nicht anders zu erwarten war -, in Abwehrhaltung, beschwören – zu Unrecht – den Erfolg des Systems für die deutsche Wirtschaft, ignorieren weiterhin die fatalen, ja gefährlichen Auswirkungen auf die Gesellschaft, welche diese „Reform“ jetzt schon gezeitigt hat.

Ich begrüße die Diskussion, ausdrücklich begrüße ich, dass die Grünen und auch die SPD sich dieser Diskussion zu stellen bereit scheinen. Wie lange, wird die Zeit zeigen, werden die politischen Konstellationen nach erneuten Wahlen zeigen, wenn es darum geht, mit der Union und der FDP zu koalieren. Dennoch ist es gut, dass dieses Thema einmal erneut diskutiert wird, wieder einmal. Nur große Hoffnungen, Hartz IV kurzfristig zu überwinden, sollten wir uns nicht machen.

Schon jetzt zeigt sich, wie kompliziert es werden wird, den sozialen Ausgleich in Deutschland neu zu gestalten. Kritik an den Vorschlägen von Habeck und Nahles kommt von allen Seiten, mal zu Recht und mal zu Unrecht. Zu Unrecht, wenn sie nur, wie die von Union und FDP, auf vermeintliche Erfolge des Systems hinweist. Auch der „Boss“ des DGBs meinte nichts anderes tun zu müssen, als sofort die Vorschläge der Grünen in Bausch und Bogen abzulehen, um dann nur einige Tage später zurückzurudern und nicht nur seine Glaubwürdigkeit damit zu beschädigen. Als was er gehandelt hat, als Vertreter der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen oder als SPD-Mitglied, wird wohl immer sein eigenes Geheimnis bleiben. Der Sache war sein Verhalten jedenfalls nicht dienlich, auch dem Gewerkschaftsbund und der SPD hat sein Verhalten keinen Nutzen gebracht, den Menschen, den betroffenen Menschen schon gar nicht. Die SPD hat es schon schwer genug mit den Männern wie Weil, Heil und Scholz in dieser Frage, sodass er sich hätte zurückhalten sollen, erst hätte nachdenken sollen, ehe er sprach. Gleiches gilt übrigens für Bofinger, den Gewerkschaftsvertreter unter den sogenannten Wirtschaftsweisen, eigentlich ein Keynsianer, der es deshalb besser hätte wissen müssen und anders hätte kritisieren können, fundierter dies hätte tun müssen, denn natürlich ist Kritik angesagt, dringend notwendig sogar.

Auch aus den Reihen der Grünen kommt Kritik, konstrutive Kritik als Vorschlag formuliert, so wie hier in Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhns Vorschlag, die Bedürftigkeitsprüfung gleich ganz abzuschaffen, was nichts anderes wäre, als das bedingungslose Grundeinkommen über die Hintertür, über den Vorschlag von Robert Habeck, doch noch durchzusetzen. Getreu dem Motto: „Das macht doch nichts, das merkt doch keiner.“ Mir ist das allerdings sehr schnell, schon beim Lesen, klar geworden. Mir gefällt das gar nicht, und ich halte es sogar für unnötig, so, wie hier vorgeschlagen, gegen die Stigmatisierung vorgehen zu wollen. Dafür gibt es andere Mittel, bessere Mittel, als die Bedürftigkeitsprüfung, die eigentliche Rechtfertigung des Sozialen gegenüber der Mehrheit der Gesellschaft, aufgeben zu wollen. Beispielsweise indem man der Gesellschaft wieder klarmacht, dass sie nur so gut ist, wie sie mit den Bedürftigen umgeht, dass Zivilisation vor allem bedeutet, nicht mehr das Recht des Stärkeren allein verfolgen zu wollen. Gut, zugegeben, es kostet Arbeit und Zeit, den vor 20 Jahren mit den Steuerreformen eingeleiteten Zivilisationsrückschritt rückgängig zu machen, aber es würde sich lohnen, dies zu tun. Mit einer weiteren Monetarisierung der Gesellschaft jedoch, wie von Strengmann-Kuhn gefordert, wird dies nicht gelingen, nur neue Formen der Stigmatisierungen hervorbringen zu allerletzt.

Der prekären Beschäftigung würde dadurch ebenso Vorschub geleistet werden, wie die Verteilungsrichtung von unten nach oben weiterhin unverändert bleiben würde. Die Reichen würden weiterhin reicher, die Armen ärmer, wenn auch nur relativ zu den Reichen, weil satt, trocken, warm wäre bedingslos zumindest erreicht. Die Verteilungsgeschwindigkeit würde sogar noch zunehmen, viel mehr Menschen als heute schon würden für wenig Geld oft zeitaufwendige Projekte bearbeiten und nicht mehr darauf achten, auch nur annähernd einen guten Stundenlohn dafür zu bekommen, würden sich vielleicht sogar als Tagelöhner verdingen. Aber es würde auch die treffen, die noch in scheinbar guter Beschäftigung sind. Über zwei Milliarden Überstunden, eine Milliarde davon unbezahlte Überstunden, die heute schon geleistet werden – wahrscheinlich auch aus Angst, ansonsten den Job zu verlieren -, sollten hier hinreichen, um dies zu begründen. Ich kann deshalb nur davor warnen, diesen Weg beschreiten zu wollen, den Sozialstaat in eine reine Finanzquelle umwandeln zu wollen, das Prinzip der Bedürftigkeit aufgeben zu wollen. Am Ende könnten viel mehr Menschen „bedürftig“ werden, als wir sie heute schon haben, ohne dann einen wirklichen Schutz vor den Regeln und den Gesetzen des Kapitalismus, den (noch) der Sozialstaat unvollkommen, aber dennoch geben kann.

Aber es gibt auch fundierte Kritik, fundiert, weil sie durchaus bei Mitbeachtung am Ende aus Habecks Vorschlag, und auch aus Nahles Aufschlag, einen wirklich guten Vorschlag machen könnte. Fundiert, weil sie eben nicht auf dem liberalen neoklassischen ökonomischen Modellen allein beruht, nicht den kalten ökonomischen Anforderungen allein genügen muss wie die Vorschläge von Nahles, Habeck, Strengmann-Kuhns, sondern auch die Gesellschaft miteinbeziehen, eine bessere Gesellschaft zu schaffen versucht – wobei ich weder Habeck, noch Nahles, schon gar nicht Strengmann-Kuhn dies absprechen will, dies auch tun zu wollen, allerdings ihre Basis für zu unvollkommen halte, auf der sie denken.

So kommt Christoph Butterwegge zu einer ganz anderen Sicht auf den Vorschlag von Robert Habeck als der Grüne Strengmann-Kuhn.

Damit sogenannte Aufstocker von ihrer Arbeit und Leistungsbezieher von einer Arbeitsaufnahme wirklich profitieren, schlägt Habeck vor, ihnen im ersten Schritt mindestens 30 Prozent ihres Lohns beziehungsweise Gehalts zu belassen – und später noch mehr. Hierbei ignoriert der Grünen-Vorsitzende jedoch die „Kombilohn“-Problematik, also die Tatsache, dass gezieltes Lohndumping den Unternehmen umso leichter fällt, je niedriger der Lohnanteil ist, welcher auf die Transferleistung angerechnet wird. Dies ist übrigens auch ein wesentlicher Einwand gegen das bedingungslose Grundeinkommen, bei dem sogar unbegrenzt hinzuverdient werden kann, weshalb Neoliberale es der Wirtschaft als probates Mittel empfehlen, um massenhaft billige und willige Arbeitskräfte zu rekrutieren. 

Um wie viel „vernichtender“ die Kritik von Butterwegge an Strengmann-Kuhn ausfallen würde, kann sich wohl jeder vorstellen. Aber Butterwegge hat mehr zu sagen; es lohnt sich immer, ihm Gehör zu schenken. So fordert er u. a. ein „im Extremfall bis zur Rente gezahltes Arbeitslosengeld (I)“ sowie eine Wiederherstellung des „Berufs- und Qualifikationsschutzes“ und ein Ende der „rigiden Zumutbarkeitsregelungen von Hartz IV“.

Niemand darf mehr genötigt werden, schlechtere Arbeitsbedingungen und einen niedrigeren Lohn zu akzeptieren.

Auch die „Bedarfsgemeinschaften“ sollten rückabgewickelt werden, ginge es nach Butterwegge, haben sie doch nur zu „Schnüffelorgien der Jobcenter verführt“ – was ich durchaus bestätigen kann aus eigenem Erleben, als ich mal um Hilfe dort nachsuchen musste und mich nackt, wie Gott (oder die Götter, egal) mich schuf, fühlte, demotiviert worden bin, kränker, als ich war, gemacht worden bin und viel Mühe hatte, meinen Kindern doch noch ein positives Bild von diesem Lande zu vermitteln, welches drohte, in dieser demütigenden Bürokratie verloren zu gehen. Ich weiß nicht, ob mir das gelungen wäre ohne meine Frau und ohne den einen oder anderen Mitarbeiter im Jobcenter, welche(r) hier doch anders zu handeln wusste als die, die über unsere Finanzen letztendlich „zu Gericht“ saßen. Es war eine Zeit, die ich nie wieder erleben möchte, weshalb auch das BGE für mich in dieser Zeit einen großen Charme hatte, diesen schnell aber verlor, als ich mich damit beschäftigte. Aber zurück zu Butterwegge, der noch mehr Treffliches zu sagen hat.

Die „rigide Sanktionspraxis“ hat sich nicht bewährt, sagt er zu Recht, wie auch die – meiner Meinung nach sogar unsinnigen – „Eingliederungsvereinbarungen“. Beide geben nicht Orientierung, fördern nicht, fordern nur, und beide schaffen nur Zwang und dienen einzig der Entlastung des Sachbearbeiters durch eine Verantwortungsdelegation des Systems an den Betroffenen, also an Menschen, die sowieso schon gebeutelt sind, oft völlig überfordert sind, gerade wenn sie jung sind und noch nicht über den Erfahrungsschatz verfügen, den ältere, gestandenere Menschen mitbringen können. In einer Zeit des Burn-outs, des Leistungsdruckes, der weit verbreiteten psychischen Beeinträchtigungen der Betroffenen (auch durch die Stigmatisierung des Systems) ein unwürdiges Verhalten der Politik und ihrer Bürokratie, wie ich finde. Eine wichtige Forderung von Butterwegge, wenn nicht gar die wichtigste, die schnellstens auch innerhalb des Systems, vor einer Neuordnung, deshalb umzusetzen wäre.

Michael Wendl bringt es in seiner Kritik auf einen anderen Punkt, warum man weder den Vorschlägen von Habeck noch denen von Nahles einfach so folgen sollte. Sie sind einfach ökonomisch wie dann in der Folge sozial falsch gedacht, weil das Modell falsch ist, gesellschaftlich ungeeignet ist, auf dem diese Gedanken beruhen.

Andrea Nahles und Robert Habeck wollen Hartz IV überwinden. Doch nach wie vor dominiert das Denken in mikroökonomischen Zusammenhängen. Der Tunnelblick auf den Arbeitsmarkt wird nur nach unten verlängert.

Das zentrale Defizit der aktuellen Debatte über die Überwindung von Hartz IV besteht darin, dass es bei allen hier diskutierten Maßnahmen nicht um einen Wechsel des Arbeitsmarktmodells, sondern um eine sozialere Ausgestaltung der Folgen dieses Modells für die davon Betroffenen geht.

Arbeit ist keine Ware, und nur weil sie im neoklassischen Modell als Ware behandelt wird, haben wir überhaupt diese Probleme mit den Hartz-Gesetzen geschaffen. Die Lösung mit dem gleichen Modell dann zu suchen kann nicht zu vernünftigen und richtigen Lösungen führen.

Es gibt nichts Richtiges im Falschen, in Anlehnung an Adorno, und das neoklassische Modell gibt hier die falschen Antworten. Arbeit ist immer das Ergebnis von Investitionen, der Preis ist zwar immer Verhandlungssache, muss sich jedoch an mehr dabei orientieren als am Angebot und an der Nachfrage oder nur an den Herstellungskosten, und es ist bei uns aus guten Gründen den Tarifpartnern allein überlassen worden – bis dann Hartz die Bühne der Politik betrat -, diesen Preis zu finden und nicht, wie im neoklassischen Modell, dem Markt allein und damit eine Verhandlung von Mensch und Unternehmen, wie sie vielleicht bei gut situierten bürgerlichen Kreisen üblich ist, für höhere Positionen, aber nicht dort sinnvoll, wo die eigentliche Arbeit geleistet wird, bei der Vielzahl von Lohn- und Gehaltsabhängigen nämlich, die i. d. R. allein zu schwach sind, um sich nicht ausbeuten zu lassen.

Es ist gut, dass wieder diskutiert wird, dass auch die, die gar nichts oder nur wenig zu ändern gedenken, zu Wort kommen. Aber es ist wichtig, dass diese Diskussion mehr umfasst, als nur die Folgen ein wenig zu heilen, wie es Habeck, Nahles und Strengmann-Kuhn meinen tun zu wollen. Sie müssen beseitigt werden, indem wir die Ursachen dafür beseitigen und das braucht Zeit und Gehirnschmalz, braucht Expertise, eine andere Wertung von Ökonomie in unserer Gesellschaft, wie ich sie seit Langem fordere, weniger übermächtig als die derzeitige und mehr an der Wirklichkeit orientiert als an idealtypischen Märkten, wie die neoklassische Theorie es propagiert. Es braucht eine neue Verteilung und damit auch Finanzierung dessen, was wir, oft recht oberflächlich, Staat nennen, eine, an der alle beteiligt wieder sind und nicht nur die, die sich nicht davor drücken können. Es muss mehr geschehen, als nur ein wenig am bestehenden System herumzudoktern; es muss insgesamt neu justiert werden.

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Heinz

Jahrgang 1958, am Leben interessiert, auch an dem anderer Menschen, von Rückschlägen geprägt. Nach diversen Tätigkeiten im Außendienst für mehrere Finanzdienstleister und zuletzt als Lehrkraft auf der Suche nach einer neuen Herausforderung. Ökonomie und Gesellschaft, den Kapitalismus in all seinen Formen zu verstehen und seit Jahren zu erklären ist meine Motivation. Denn ich glaube, nur wer versteht, wird auch Mittel finden, die Welt zu einer besseren Welt zu machen. Leid und Elend haben ihre Ursache im Unverständnis.

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