Einseitig verstandene Radikalität

Zurzeit wird ja viel getrommelt im Vorfeld der EU-Wahl, dass es gelte, die sogenannte Mitte und die gemäßigten Parteien zu stärken gegen die Nationalisten von Rechts, die stärker als je zuvor auf Europaebene zu werden drohen (z. B. hier). Das ist natürlich einerseits ein sinnvolles Ansinnen, geht aber andererseits auch ein Stück weit an der Realität vorbei bzw. verklärt die neoliberalen Parteien zu etwas, was sie nicht sind: zu gemäßigten politischen Akteuren.

Die Auswirkungen eines radikalen Systems

Vielmehr ist das System, in dem wir zurzeit leben, und das sowohl politisch als auch wirtschaftlich, ein radikales: nämlich Marktradikalismus. Und der ist auch alles andere als harmlos, und zwar auf jeder Ebene. Zum einen sorgt er durch ein zunehmend ungerechteres Welthandelssystem dafür, dass jedes Jahr um die 50 Millionen Menschen sterben, weil sie nicht genügend zu essen und kein sauberes Wasser haben, an Mangelerkrankungen leiden oder an eigentlich behandelbaren Epidemien erkranken. Und dann treibt diese Welthandelssystem zunehmend Menschen aus dem globalen Süden in die Flucht, von denen dann ein nicht unerheblicher Teil auf dem Weg in eine neue Heimat sterben – nicht nur im Mittelmeer, sondern in viel größerem Maße schon auf dem Weg dorthin.

Zudem sorgt der Marktradikalismus durch seine zunehmende Oligarchisierung für einen Abbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Ländern, in denen diese beiden Prinzipien eigentlich als gefestigt galten.

Tja, und als wenn das noch nicht genug wäre, ruiniert der Marktradikalismus auch noch unseren Planeten auf vielfältige Weise, zum einen durch den Klimawandel, zum anderen durch die zunehmende Umweltzerstörung, die zu Artensterben und Verödung ganzer Landstriche führt (s. dazu auch hier). Die Zerstörung der unserer gesamten Biosphäre – darauf läuft es leider gerade hinaus, und der Marktradikalismus verhindert ein Umsteuern durch seine dogmatische Wachstums- und Profitfixiertheit. Wenn es noch Menschen geben sollte in einer nicht allzu fernen Zukunft, dann könnte das tatsächlich als das größte Verbrechen aller Zeiten in die Menschheitsgeschichte eingehen.

Woran man sieht: Marktradikalismus ist ganz gewiss nicht maßvoll. Und die Parteien, die sich dieser Ideologie verschrieben haben (als da in Deutschland wären CDU/CSU, SPD, FDP, Grüne und AfD), sind dann in meinen Augen auch alles andere als gemäßigt. Gut, bei der AfD wird das ja auch nicht gerade oft behauptet, da diese zudem auch noch offen rechtsextrem ist (im Gegensatz zur FDP, die das noch etwas besser kaschiert; s. dazu hier), aber alle anderen hier Aufgeführten sind ja immer damit gemeint, wenn von den „Parteien der Mitte“ oder den „gemäßigten politischen Kräften“ die Rede ist.

Die Instrumentalisierung der Rechten

Was dann zur eigenen Radikalität dieser angeblich Gemäßigten noch hinzukommt: Die sogenannten bürgerlichen Parteien und ihre Medien versuchen immer offensichtlicher (mal wieder, kann man nur sagen, hat schon am Ende der Weimarer Republik nicht so gut hingehauen), die Rechtsextremen in ihrem Sinne zu instrumentalisieren. Klar, schließlich ist die AfD ja eine Partie, die sich zunächst mal vor allem aus ehemaligen CDUlern und FDPlern rekrutierte, also aus dem angeblich gemäßigten Spektrum – und gemäßigt war an der AfD von Anfang an nichts, wie ich bereits Anfang 2014, als dort noch Bernd Lucke das Zepter schwang und die Partei vielen als eurokritische Professorentruppe galt, in einem Artikel feststellte.

Das wird nicht nur durch das immer penetrantere Ranwanzen der CDU an die AfD immer offensichtlicher (s. dazu hier), was ja nun gerade unter Annegret Kramp-Karrenbauer immer stärkere Ausmaße annimmt (s. dazu hier), sondern auch die klassischen bürgerlichen Medien übernehmen immer öfter Aussagen von der AfD und agieren in deren Sinne, zum Beispiel das Hamburger Abendblatt, die ARD, die WELT – na ja, und BILD mit ihrer permanenten Hetze ohnehin …

Aber klar: Marktradikalismus passt eben gut mit der AfD zusammen, da diese zum einen ohnehin selbst marktradikal ist, zum anderen eben auch als reaktionäre Partei mit Menschenrechten nichts am Hut hat, Ängste schürt und offen rassistisch rumpoltert. Da wirkt man dann selbst recht moderat, wenn man beispielsweise menschenverachtende Flüchtlingspolitik praktiziert, dies aber verbal ein bisschen netter verpackt, oder den Polizei- und Überwachungsstaat weiter ausbaut. Diesen Zusammenhang zwischen dem sich stetig radikalisierenden Neoliberalismus und dem Tolerieren, Hofieren und sogar Fördern der Rechtsextremen AfD habe ich schon mehrfach hier auf unterströmt ausgeführt, beispielsweise hier, hier und hier.

Insofern ist es schon ein bisschen absurd, dass nun ausgerechnet die neoliberalen Geburtshelfer der AfD, die zudem ihre eigene Politik immer weiter am rechtspopulistischen Gebölke der Blaubraunen ausrichten (sehr offensichtlich zu sehen an der zunehmend restriktiven und mörderischen Flüchtlingspolitik), oft genug deren Narrative übernehmen und so ihren eigenen Marktradikalismus immer weiter in Richtung offenem Totalitarismus vorantreiben (dazu braucht man sich nur die neuen geplanten und teilweise bereits umgesetzten Polizeigesetze anschauen; s. dazu hier, hier und hier), als „Bollwerk“ gegen die immer weiter erstarkenden rassistischen Nationalisten in der EU herhalten sollen.

Zumal ja in der EVP-Fraktion im EU-Parlament nicht nur die CDU, sondern beispielsweise auch die Fidesz-Partei des ungarischen Despoten Victor Orbán hockt, der auch noch allzu gern von der CSU hofiert wird. Und in Österreich hat die CDU-Schwesterpartei ÖVP unter Kanzler Sebastian Kurz bereits ein Regierungsbündnis mit der rechtsextremen FPÖ geschlossen.

Die zurzeit oft als gemäßigt bezeichneten neoliberal-marktradikalen Parteien sind also nicht im Geringsten geeignet, einen weiteren Rechtsruck in der EU zu verhindern, sondern selbst Teil dessen.

Also: Wählt bei der EU-Wahl am 26. Mai bitte keine radikalen Parteien – zumindest keine rechtsradikalen oder marktradikalen!

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Karl

Jahrgang 1969, ist nach einem Lehramtsstudium und diversen beruflichen Tätigkeiten seit 2002 freiberuflicher Lektor (Auf den Punkt). Nach vielen Jahren in Hamburg, lebt er nun seit November 2019 in Rendsburg. Neben dem Interesse für politische Themen ist er ein absoluter Musikfreak und hört den ganzen Tag Tonträger. An den Wochenenden ist er bevorzugt in Norgaardholz an der Ostsee und genießt dort die Natur.

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