Das Gespenst der AfD geht um

Es wird Zeit, den Dampf aus dem Kessel zu nehmen, zur Sachlichkeit zurückzukehren. Ein Versuch die Tür dazu, einen Spalt breit hier zu öffnen.

Sehr oft, fast täglich, bin ich in politischen Diskussionen, nutze dafür auch das Medium Facebook. Meine ausgewählte Filterblase macht es mir da auch leicht. Ich wähle nicht nach politischer Meinung aus, sondern danach, wie wertschätzend der Umgang mit mir und untereinander ist. Natürlich sind keine Rassisten und Antisemiten dort vertreten, meines Wissens nach auch keine AfD-Anhänger. Das ist eine Selbstverständlichkeit für mich. Aber die Vielfalt ist entscheidend für mich. Denn aus der Vielfalt ziehe ich Erkenntnisse, die mir die Einfalt nie bringen könnte.

Derzeit treibt uns alle etwas um – und ich denke, dass das auch in anderen Gesprächsräumen so ist. Die AfD und ihre Wähler. Was hat so viele Menschen im Osten dazu bewogen die AfD zu wählen? Sind das alles Rassisten? Sind das Nazis? Was denken die sich? Das sind die gängigsten Fragen. Aber auch mit Schuldzuweisungen ist Mann und Frau wieder schnell bei der Hand. Das sind Nazis. Das sind Rassisten. Das ist kein Protest, denn protestieren kann man auch anders. Die sind dumm, denn das meint es wirklich wenn man von mangelnder Bildung spricht. Oft wird sogar intendiert, dass sie undankbar wären, denn „wir haben doch so viel für sie getan“. Meist vom Westler kommt diese Ansicht, oft ignorierend, dass die AfD längst kein Ostphänomen mehr ist, sondern fest im gesamtdeutschen gesellschaftlichen Spektrum verankert. Der Neoliberalismus hat eine weitere Partei gefunden, um sich artikulieren zu können!

Die Nichtwähler sind die eigentlichen Schuldigen

Schuld wird auch den Nichtwählern gegeben, denen, die nicht zur Urne liefen, die nicht die anderen Parteien wählten. Die damit die nominalen Stimmen der AfD relativ aufwerteten. Das gerade die AfD sich dieser ehemaligen Nichtwähler versichern konnte, wie keine andere Partei, bleibt dabei unbeachtet. Dabei hätte man sich, angesichts der Wahlergebnisse für die AfD, durchaus wünschen können, dass diese Wähler lieber weiterhin Nichtwähler geblieben wären.

Prinzipiell muss man aber sagen, dass nicht zu wählen nicht per se eine Entscheidung ist, wie oft behauptet wird. Es wirkt nur so, als wäre dem immer eine Entscheidung vorausgegangen. Denn nicht zu wählen, kann Resultat sein von Entscheidungen, die oft längst getroffen waren. Es bedarf keiner neuerlichen Entscheidung, ob man wählen geht oder nicht. Diese Entscheidung war längst getroffen und es wirkt nur die Verweigerung eine neuerliche treffen zu wollen.

Demokratie braucht Demokraten, aber nicht jeder Mensch fühlt sich auch dazu berufen Demokrat zu sein. D.h. nicht, das er gleich damit Anti-Demokrat sein müsste, was hier allerdings indirekt unterstellt wird, wenn man die Nichtwähler quasi ans Kreuz nagelt. Er ist einfach nur desinteressiert, anderen Dingen zugewandt, vielleicht auch nur bequem, oder er vertraut einfach nur den Entscheidungen der Mehrheit. Gesellschaft besteht aus Menschen und die Menschen sich zu erklären braucht mehr als eine rein politologische Logik, weshalb auch die Gesellschaft zu erklären mehr braucht.

Sind das alles Rassisten? Sind das Nazis? 

Natürlich nicht, nicht alle sind Rassisten. Es sind Menschen, die in ihrer Mehrzahl zuerst einmal Menschen sind, die auch Kinder haben, Eltern, Enkelkinder, einen Job oder auch nicht, die im Sportverein vielleicht aktiv sind oder nur den anderen zusehen. Es sind Menschen, die Ansichten haben und ja, darunter gibt es auch Menschen, die ein rassistisches Weltbild haben, ein anerzogenes wie ein nicht aberzogenes. Anerzogen von der sie umgebenden Umwelt, wie den Eltern und Freunden, aber auch – und hier mache ich die deutsche Politik durchaus verantwortlich – durch die Bilder, welche die deutsche Politik über die Welt vermittelte in den letzten Jahren. Keine Guten, wie ich oft feststellte, sondern den Deutschen immer öfter überhöhende Weltbilder. Wenn Schäuble beispielsweise von den besseren deutschen Autos sprach (lachhaft angesichts des Dieselskandals), anstatt von den Währungsvorteilen, wenn es um die Handelsbilanzdefizite ging, wenn er die Griechen als faul bezeichnete, wenn alle gemeinsam von Hausaufgaben sprechen, die die anderen zu machen hätten, so als ob sie der Lehrer und alle anderen ihre Schüler wären. Das musste ja Teilen zu Kopf steigen, sie zum Bessermenschen machen, denn als nichts anderes sehen sich dann auch die, die von Rassengedanken getrieben werden.

Natürlich sind es nicht alles Nazis, wenn überhaupt sind es Neonazis, was schon ein Unterschied ist, wenn man genau hinschaut. Die Vergleiche mit der NSDAP helfen sogar denen, die sich nun als solche bezeichnet sehen. Denn das können sie leicht entkräften. Es sind Neonazis, wenn überhaupt, aber auch nur zum Teil – deshalb ist immer die Unterscheidung zwischen Wählern und Funktionären zu treffen, die ich letztens traf. Es sind Menschen, die kein Problem damit haben, sich dem Faschismus zuzuwenden, einem aber weniger Deutschen, mehr einem dem Italienischen ähnlichen, deshalb aber noch nicht in ihrer Gesamtheit auch gleich Faschisten sind. Den Begriff des Mitläufers hätte ich deshalb auch gern mal gehört, denn er trifft auf sehr viele Menschen wohl eher zu, als der des Faschisten. Ich muss dieser Tage an Benito Mussolini denken:

„Faschismus sollte man besser Korporativismus nennen, weil es die Verschmelzung der Staatsmacht mit der Konzernmacht darstellt.“ Benito Mussolini, zitiert nach geboren am

Hier gelte es meines Erachtens Parallelen zu suchen, aber auch darüber hinaus zu forschen. Denn dass die Forschung gefragt ist, mehr als sie derzeit tut, das scheint mir offensichtlich zu sein. Alle geisteswissenschaftlichen Gebiete sind hier gefordert.

Was denken die sich?

Die Frage drückt die Enttäuschung aus, die die empfinden – ich habe sie in fast jedem Kommentar gespürt -, die nun diese Ergebnisse kommentieren. Was denken die sich, wo wir doch so vieles für sie getan haben? Was denken die sich, wo doch über die AfD alles bekannt ist, man alles hätte wissen müssen? Enttäuschung, Enttäuschung, Enttäuschung!

Enttäuschung dass keinerlei Dankbarkeit zu finden ist, bei denen jedenfalls, die so gewählt haben, die quasi hätten schon aus Dankbarkeit hätten anders wählen müssen. Meist sind es die politisch Aktiven, denen ich diese Enttäuschung ansehe, wenn sie mir analog begegnen, die ich fühle, wenn ich ihnen nur zuhöre oder sie lese, als Politiker, als Wirtschaftler, als Akademiker und auch als Journalist. „Wir haben doch geleistet und deshalb das Recht auf Gegenleistung“, so wird gedacht und weil die Gegenleistung nicht erfolgt, hat der Schuldner auch seine Schuld nicht beglichen, denn alles hat ja seinen Preis zu haben, auch die Hilfe. Ein Denken, welches ich nicht beurteilen will, welches nur nicht das Meinige ist, denn Hilfe ist immer selbstlos oder sie ist keine Hilfe. Seit Schröder und Bertelsmann leider nicht mehr Teil deutschen Denkens, insofern fühle ich mich schon lange als Fremder unter Freunden.

Demokratie verlangt aber vom Wähler keine Dankbarkeit. Sie verlangt Zustimmung oder Ablehnung. Zustimmung dann, wenn die Politik den Wähler erreicht, Ablehnung, wenn nicht. Zustimmung aufgrund Dankbarkeit zu fordern, ist deshalb auch kein demokratisches Tun. Es kann verständlich sein, aber es ist nicht dadurch schon ein Argument gegen die, die nicht zustimmen, weil sie nicht zustimmen können oder wollen. Wer mehr verlangt, zerstört die Demokratie, denn er macht dem feudalen Denken Tür und Tor auf, lädt den gutmütigen Despoten gerade zu ein, wieder die Bühne der Gesellschaft zu betreten. Ein kurzsichtiges Tun und Handeln!

War es Protest?

Ja und nein. Sicher ist die AfD eine Protestpartei und derzeit wird auch damit Protest ausgedrückt, diese Partei zu wählen. Ich glaube aber nicht, dass der Protest die Wahlentscheidung allein trägt beim einzelnen Wähler. Er mag ein mal stärkeres mal weniger stärkeres Momentum sein, aber er ist nicht tragend. Protest wäre auch anders gegangen, die demokratische Opposition zu wählen beispielsweise oder gar nicht zu wählen, wirklich die Entscheidung zum Nichtwählen zu treffen. Die AfD zu wählen ist deshalb immer mehr als nur Protest.

Die Wahl drückt den Wunsch nach Veränderung aus, einer Veränderung, die man durch Protest nicht erreichte – weshalb auch das Potential der PdL schrumpfte, weshalb so viele Nichtwähler plötzlich wählten. Eine Veränderung, die substanziell ist, die die Gesellschaft verändern soll und zwar grundlegend für die Einen und etwas weniger grundlegender für die Anderen. Genaueres wäre hier wirklich zu eruieren, die Wissenschaft ist gefragt, um die Qualitäten und Quantitäten auch zu erfassen. Auf der Inhaltsebene scheint dies im Gange zu sein, auf der Beziehungsebene sehe ich da nicht viel derzeit. Und die Beziehungsebene ist die entscheidende Ebene, wie mir meine Aktivitäten nahe legen, die vielen Gespräche, die ich führe, nahelegen.

Sind sie nur dumm, weil ungebildet?

Was für eine Anmaßung, andere für dumm zu halten, weil man selbst anderer Ansicht ist. Diese Menschen hatte ich schon 2015 nicht verstanden, als wir die Grenzen öffnen mussten, um die menschliche Katastrophe zu verhindern. Nein, niemand ist dumm, weil er anderer Meinung ist als ich. Auch er kann seine Meinung meist begründen. Ich habe nur andere Gründe, werte sie anders als er und akzeptiere viele seiner Gründe nicht. Aber ihm Dummheit zu unterstellen, zeigt nur die Arroganz derer, die das tun.

Im Gegenteil sogar, muss man mit Erschrecken feststellen, wie viele sich dort tummeln, die über höhere Bildung verfügen, die in der Wirtschaft etwas darstellen, die Macht und Einfluss besitzen in der Gesellschaft, anerkannt auf ihrem Gebiet sogar. Vom Polizisten bis zum Hochschulprofessor, vom Facharbeiter bis zum Unternehmer, ist doch alles dort vertreten. Hier Dummheit zu behaupten kann nicht richtig sein. Andere Gründe müssen eine Rolle spielen. Gründe, die man nicht allein politologisch erfassen kann, die man nicht am Ideal festmachen darf.

Das Ideal hindert auch hier an der Erkenntnis

Die Politologie kann nur die Inhaltsebene betrachten, analog der Ökonomie, sie wirkt aber auch auf der Beziehungsebene und hier, auf der Beziehungsebene, entscheidet der Mensch mindestens mit, oft sogar ausschließlich. Denn, der Mensch entscheidet zuerst, ob er dir zuhören will, ob deine Argumente überhaupt einer Würdigung fähig sein werden, bevor er sie überhaupt würdigt. Habermas gelte es immer zu beachten, wenn man über Kommunikation redet und Kommunikation ist auch hier wieder zentral, denn der Entscheidung geht immer die Kommunikation voraus, die Innere wie die Äußere. Politologie und Ökonomie scheinen dies immer noch zu ignorieren, in ihrer Logik allemal.

Deshalb sage ich auch, das man auf der Beziehungsebene gestalten muss, um die Inhaltsebene überhaupt zur Entfaltung zu bringen. Deshalb lehne ich das Ideal als Voraussetzung ab, denn es verhindert meist die notwendige Offenheit im Gespräch, es schränkt sie ein und wenn Ideale aufeinandertreffen, so kann nur Streit erfolgen, mit allen Folgen für die Beziehungsebene, mit der Folge, dass auf der Inhaltsebene wenig herauskommt, was wirklich Fortschritt bringt.

Schuld steht über Allem

Derzeit geschieht genau das Gegenteil: Es wird Schuld gesucht und die Schuldigen werden gesucht und auch schnell gefunden. Es wird moralisch bewertet, gemäß des Ideals. Man beackert sinnlos die Inhaltsebene, sucht dort nach Erklärungen und Lösungen. Die Beziehungsebene ist damit zur Schuld- und Sühne-Ebene geworden. Man sanktioniert den positiv, der dem Ideal entspricht und sanktioniert denjenigen negativ der dem Ideal nicht entspricht, oft schon dann, wenn er das Ideal in Zweifel zieht, nicht einmal andere Ideale hat, nur nicht dem Ideal allein zu folgen bereit ist. Pragmatismus ebenso Fehlanzeige, wie Kommunikation so nicht gedeihlich entstehen kann, zum Schlagabtausch degeneriert, wenn sie überhaupt noch stattfindet. Nur verletzte Gemüter kommen am Ende dabei heraus. Der Spaltpilz hat seine Pflicht getan. Die AfD und ihre Funktionäre können sich freuen.

Ich sehe das bei Facebook, bei Kommentatoren dort, aber auch in den Medien, selbst bei von mir geschätzten. Immer mehr verletzte Egos und Ratlosigkeit. Eine Bevölkerung sehe ich, die immer mehr die Orientierung verliert, offener wird, auch für Meinungen, die man in diesem Land früher nur hinter verschlossenen Türen, mit vorgehaltener Hand, aussprechen durfte, heute sogar in den Talkshows und damit in aller Öffentlichkeit. Gesucht ist die Schuld und der Schuldige, alles andere fällt unter den Tisch. Sprache verändert das Denken und das Denken dann das Handeln, ein fatal wirkender Zusammenhang, weshalb er auch mehr der Beachtung bedarf.

Das Warum kommt zu kurz damit

Wer nicht weiß warum etwas geschieht, wird nur im Dunkel rumstochern können, Lösungen werden Zufallsprodukt. Schlimmer noch, sie werden dann meist nicht einmal dem Lösenden zugewiesen, sondern denen, die vermeintlich zur Lösung getrieben haben. Letzteres sieht man deutlich bei der Flüchtlingsfrage.

Wer erinnert sich denn noch an den Innenminister, der von Anfang an die Grenzen wieder dicht machte, die Bedingungen der Menschen vor Ort möglichst unbequem hielt, die Kanzlerin, die sich in der Willkommenskultur sonnte und gleichzeitig ihren Innenminister machen ließ? Niemand mehr anscheinend, denn die vielen Lösungen auf diesem Gebiet – die Guten wie die vielen Schlechten – werden denen zugeschrieben, die sie nur gefordert hatten, noch mehr als das immer noch fordern und nicht denen, die die Lösungen herbei geführt hatten. Das Wahlergebnis in Bayern im letzten Jahr, das im Bund, sprechen doch hier eine eigene Sprache. Mehr noch, man kann doch fast schon den Eindruck gewinnen, dass die demokratischen Parteien heute näher an der AfD des Jahres 2015 sind, als sie sich gern eingestehen würden.

Es muss also darum gehen das Warum herauszufinden. Wir kommen nicht darum herum. Wir müssen es wissen, müssen wissen wie es dazu kommen konnte. Nur auf Nazi, Protest, Rassismus abzutun, reicht da nicht aus. Es muss tiefere Gründe haben, und diese Gründe sind zu finden und dann auch zu bearbeiten, zu beseitigen am besten.

Hypothese: Die vielen Entscheidungen auf der Inhaltsebene haben die Beziehungsebene zerstört

Eigentlich ist das gar keine Hypothese mehr, sondern leicht zu erkennen, dass das so ist. Der Umgang mit den Ostdeutschen nach der Wende, dieses immer noch in Ostdeutsch und Westdeutsch reden und damit denken, die vielen Regionen in Gesamtdeutschland, welche unter den Entscheidungen der Politik zu leiden haben, sich immer weniger wertgeschätzt fühlen, sprechen doch Bände.

Ein Sozialrecht, welches Hilfe nicht mehr aus Selbstlosigkeit begreift, sondern damit bei dem, dem geholfen wird eine gesellschaftliche Schuld einfordert, ist Ausdruck der Wertschätzung derer, die nützlich sind für die ökonomischen Prozesse und gleichzeitig Ausdruck geworden, dass die für diese Prozesse nicht mehr nützlichen Menschen, nicht der gleichen Wertschätzung bedürfen. Nichts spricht dafür die Sätze beispielsweise für ALG II-Empfänger so niedrig zu halten, wie sie gehalten werden, außer den Druck von den Löhnen zu nehmen, den Gewinnen damit den Vorrang zu geben. Nichts zeigt die mangelnde Wertschätzung, welche diesen Menschen entgegengebracht wird, deutlicher als dieses Verhalten der Politik. Ein Verhalten der Inhaltsebene, der kalten ökonomischen Logik folgend, aber nicht der gesellschaftlichen, diese sogar missachtend.

Nichts spricht dafür die Renten hier bei uns künstlich niedrig zu halten, als das man die privatwirtschaftlichen Geschäftsmodelle fördern will, diese mehr schätzt, als die betroffenen Menschen, die oft genug sich diese privaten Lösungen gar nicht leisten können.

Nichts spricht für die Verteilung des Volkseinkommens, die wir gerade anwenden, als die mehr wertzuschätzen, die jetzt schon mehr haben, als die, die man gleichzeitig immer weniger damit wertschätzt.

Mangelhafte Wertschätzung, immer wieder und immer deutlicher, durch Entscheidungen auf der Inhaltsebene, die Beziehungsebene damit ignorierend, sogar zerstörend. Mich wundern deshalb die nun auftretenden Verwerfungen, dieses anscheinend wieder der Demokratie den Rücken zudrehen, nicht so sehr. Im Gegenteil, ich hatte dies erwartet und warnte schon vor Jahren davor.

Das Ganze zu betrachten, überfordert

Ein interessantes Argument, welchem ich mich letztens in einer Diskussion gegenüber sah. Ja, richtig, das Ganze überfordert. Niemand wird das bestreiten. Dennoch wird es nicht ohne das Ganze gehen und mit Adorno sage ich, das Ganze muss auch nicht in Gänze erkannt werden, es muss nur im Fokus bleiben, es muss versucht werden, es zu beachten.

Die Überforderung liegt in der Natur des Chaos, welches auch endlich einmal Beachtung finden müsste, als Solches akzeptiert werden müsste. Nichts ist wie früher. Alles ist schneller geworden, für viele von uns viel zu schnell. Der Popperismus verstärkt deshalb nur das Chaos, ordnet es eben nicht, jedenfalls nicht dort, wo man das Ganze zu betrachten hat, in der Gesellschaft nämlich.

Der größte Schaden des Projektdenkens seit Popper manifestiert sich auf der Beziehungsebene

Popper mache ich mitverantwortlich dafür, dass fast ausschließlich noch in Projekten und damit auf der Inhaltsebene gedacht wird. Popper hat den Idealismus zum Sieg verholfen, behaupte ich, und damit dem Denken vom Ideal her. Nicht die Existenz, die Existenzen interessieren noch. Das Projekt und nur das Projekt sind der Aufmerksamkeit wert. Auch hier ist gut die Verschiebung der Wertschätzung zu beobachten.

Willy Brandt und Konrad Adenauer dachten die Existenz noch mit – ob es ihnen bewusst war, kann ich nicht sagen, entscheidend ist, sie taten es. Sie sind deshalb immer noch, zurecht, als gute Politiker im Gedächtnis der Deutschen. Welcher Politiker kann dies heute noch von sich sagen? Schröder? Wer wird es in Zukunft von sich sagen können? Merkel?

Dennoch ist Popper bedeutend, müsste er gerade jetzt mehr Beachtung finden, gerade im Projektdenken. Denn er hat recht, wenn er gute Vorbereitung einer jeglichen Entscheidung verlangt, die Entscheidung auch in den Folgen im Vorfeld zu bedenken verlangt. Da liegt nämlich das Versagen der Inhaltsebene, der Politologen, der Ökonomen und der ihnen folgenden Berufspolitiker und liegt es noch.

Folgen, Nebenwirkungen über die eigentlich beabsichtigten Folgen hinaus spielten und spielen doch kaum mehr eine Rolle im projektbezogenen Denken der Politik, der Ökonomie, der Politologie. Ursache und Wirkung, der Physik entsprechend, aber mehr scheint nicht mehr zu gelten. Heisenberg und seine Unschärferelation, nicht einmal die, scheint noch im Wissensportfolio vorhanden zu sein. Aus A folgt B und C ist egal. Das C aber Bedeutung besitzt, Schäden anrichten kann, gerade auf der Beziehungsebene, mag man nicht mehr wahrhaben. „Die Menschen verstehen halt nicht, wie gut wir gehandelt haben.“ Enttäuschung. Enttäuschung. Enttäuschung! Und zwar auf allen Seiten.

Deshalb muss die Frage lauten: „Was will ich tun und welche Wirkungen hat es auf das Projektziel und – sehr wichtig – auch darüber hinaus? Das „darüber hinaus“ kam zu kurz oder gar nicht vor und kommt es immer noch nicht. Hier entscheidet sich aber letztendlich gesellschaftlich, was Politik leistet und wie sie empfunden wird. Hier liegt das Versagen begründet. Hier sehe ich auch deshalb die Ursache der Wertschätzungsdefizite, der dadurch verursachten Enttäuschungen, des daraus folgenden Zorns, der Wut, des Hasses und damit auch wesentlich der AfD.

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Einzelteile

Das Ganze muss in den Fokus, schnell und dringend! Es muss aus dem Kellerverlies wieder befreit werden, in das es verdammt worden ist seit Dekaden. So weiter im Kleinteiligen, reaktiv wenn der Bürger fordert, phlegmatisch solange er stillhält, nur dem Ökonomismus dienend, kann es nicht weitergehen.

Wenn das Ganze allerdings wieder Beachtung finden würde, so bin ich sicher, würden sich auch die Fragen bezüglich des AfD-Wählers anders stellen.

Sie hießen dann nämlich nicht mehr: „Warum hast du die AfD gewählt? Wie konntest du nur?“

Sie hieße: „Welche Gründe hielten dich davon ab, uns zu wählen?“

Eine wirklich interessante und selbstreflektive Fragestellung, der sich aber Demokraten zuvorderst zu stellen haben, der sie nicht weiterhin ausweichen dürfen. Der sich allerdings nicht oder kaum und wenn doch, nur oberflächlich, gestellt wird, weil Schuldzuweisungen, Moral, so verführerisch sind, von den eigenen Verfehlungen nämlich auch wieder ablenken.

„Warum werden wir nicht gewählt und die anderen werden gewählt?“ „Was haben wir falsch gemacht?“ Das sind die Fragen der Demokraten und nicht den anderen die Schuld am eigenen Versagen zuzuweisen, den Wählern zuzuweisen. Das derzeitige Verhalten sehe ich deshalb auch meist als wohlfeil an, wenn es sich nicht dieser Fragen stellt, selbst nur in Schuld und Ressentiments zu reden weiß.

Nehmen wir Dampf aus dem Kessel und kehren wir zur Sachlichkeit zurück, beackern wir die Beziehungsebene, das wäre mein Rat und so werde ich es auch selbst weiterhin halten, auch mit denen, die weit über das Ziel derzeit hinausschießen, wenn sie diese Wahl – und mehr war es nicht – beurteilen. Noch ist nämlich Zeit die Gesellschaft wieder zu gesunden, die Beziehungsebene wieder zu beachten, auch mit Taten auf der Inhaltsebene.

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Heinz

Jahrgang 1958, am Leben interessiert, auch an dem anderer Menschen, von Rückschlägen geprägt. Nach diversen Tätigkeiten im Außendienst für mehrere Finanzdienstleister und zuletzt als Lehrkraft auf der Suche nach einer neuen Herausforderung. Ökonomie und Gesellschaft, den Kapitalismus in all seinen Formen zu verstehen und seit Jahren zu erklären ist meine Motivation. Denn ich glaube, nur wer versteht, wird auch Mittel finden, die Welt zu einer besseren Welt zu machen. Leid und Elend haben ihre Ursache im Unverständnis.

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