Prinzip des Gegenteils

Es gibt für uns Menschen doch nichts, was wir lieber tun, als das, was wir gut beherrschen. Ganz gleich worum es geht, je besser ich etwas kann, desto eher wähle ich diesen Weg, und zwar aus dem ewig gleichen Prinzip: Es verbraucht weniger Energie, wenn ich es so mache, wie ich es kenne und beherrsche. Daran ist nichts Verwerfliches, nichts Obszönes … aber eben auch nichts Ruhmreiches und erst recht nichts, woran ich und andere im gleichen Maße wachsen können wie vom genauen Gegenteil!

Einfaches Beispiel: zuzuhören, anstatt zu reden. Es gibt so viele Menschen, die erzählen lieber sechsmal das Gleiche oder Dinge, die sie eigentlich nicht erzählen sollten, anstatt einfach mal zu zu hören, was andere zu sagen haben. Und anders herum ebenso: Menschen, die passiv und introvertiert sind, haben sich nicht selten die Zeit genommen, über Dinge nachzudenken, und teilen ihre Gedanken dann leider nicht mit anderen Menschen. Ein chinesisches Sprichwort sagt: Wenn Du es eilig hast, gehe langsam.

Das bedeutet natürlich nicht, dass man unsinnige Dinge tut: Das Auto zum 500 Meter entfernten Laden nehmen, weil man eigentlich sonst immer mit dem Rad fährt. Oder, ganz im Sinne der Retroindianer, sich mit Sand waschen und mit Wasser abtrocknen (und rückwärts auf dem Pferd reiten). Es geht nicht um eine Ideologie, sondern um die Erweiterung des eigenen und anderer Leute Horizonts. Es geht darum, nicht immer den bequemen Weg zu gehen, sondern den steinigen oder unbekannten Weg. Nur durch den Wissens- und Forscherdrang sind wir in der Lage, unseren Geist zu erweitern und Dinge aus einer anderen als der gewohnten Perspektive zu sehen.

Im persönlichen Diskurs kann die Gegenposition ebenfalls sehr anregend sein, sofern es um die Erweiterung der Perspektive geht. Wenn ich also z. B. sage, dass Mr. X etwas nur tut, um mich zu nerven, dann kann es ganz sinnvoll sein, die Sache auch mal aus der Sichtweise von Mr. X zu sehen. Das ist ein (mehr oder weniger beliebtes) Spiel bei mir und meiner Frau: Wenn einer von uns die Intention einer anderen Person spekuliert, dann zählt der andere weitere Möglichkeiten auf, und so wird oft klarer, wie viel meines eigenen Denkens ich auf meine Umwelt projiziere.

Das Prinzip des Gegenteils findet leider im politischen Diskurs reflexartig statt: Es wird das genaue Gegenteil von dem behauptet, was die (regierende) Partei tut oder sagt. Die gegenteilige Meinung kann ja durchaus auch im Sinne des Betrachters sein, ist aber aus meiner Erfahrung bei eigentlich unpolitischen Parteien wie der AfD einfach nichts anderes als plumpes Gegenanstänkern (also deutlich mehr Opportunismus als Opposition). Das hat immer etwas Spalterisches, und das dahinterliegende Prinzip kennen wir bereits seit Jahrtausenden: „teile und herrsche“ („divide et impera“). Ein einfaches Mittel, die gesellschaftlichen Gruppen für sich zu gewinnen, die nicht opportun mit der Regierung sind.

Gerade während der Corona-Pandemie ist es sehr einfach geworden, die herrschenden Strukturen und Maßnahmen permanent als falsch darzustellen. Erstens kann man ja immer behaupten, dass ein anderer Umgang für den Verlauf der Pandemie besser gewesen wäre (entweder völlig ohne Grundlage oder mit einem beliebigen, oft nicht wirklich vergleichbaren Beispiel aus dem Ausland), und zweitens ist man „hinterher auch immer schlauer“, und da stellen sich natürlich auch Maßnahmen als unwirksam heraus. Das soll nun absolut nicht heißen, dass es nicht wirklich berechtigte Kritik an den Maßnahmen unserer Regierung gibt! Aber aus jeder Kritik gleich ein Kampfargument gegen die Regierung zu schmieden empfinde ich persönlich als spalterisch, oft nicht ausreichend reflektiert und selten konstruktiv. Wie z. B. beim Umgang mit der Bestellung des Impfstoffes: Entweder kritisiere ich, dass die Regierung von Anfang an zu wenig Impfstoff bestellt hat, oder ich schimpfe über zu große Bestellungen, weil ja die ärmeren Länder auch Impfstoff erhalten sollen. Man kann es nicht „richtig“ machen, und anstatt das klar zu verbalisieren, wird das jeweils passende Argument als Kampfargument angeführt (wobei ich denke, dass eine global gerechte Verteilung „richtiger“ ist, aber politisch unattraktiver).

Zum Schluss noch eine Frage: Ist das Gegenteil von „schwarz“ eher „weiß“ oder nicht doch „bunt“? Es ist oft auch eine Frage der Auslegung, was das Gegenteil ist. In politischer Sprache stellt sich dann z. B. die Frage, ob „Ausländerfeindlichkeit“ das Gegenteil von „Ausländerfreundlichkeit“ ist oder es nicht eher um eine generelle Angst vor Veränderungen geht, die aus Mangel an Bildung und Information resultiert und deshalb das Gegenteil von „Ausländerfeindlichkeit“ eher „Mut zur Veränderung“ ist. ;)

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Dirk

Jahrgang 1974, in erster Linie Teil dieser Welt und bewusst nicht fragmentiert und kategorisiert in Hamburger, Deutscher, Mann oder gar Mensch. Als selbstständiger IT-Dienstleister (Rechen-Leistung) immer an dem Inhalt und der Struktur von Informationen interessiert und leidenschaftlich gerne Spiegel für sich selbst und andere (als Vater von drei Kindern kommt dies auch familiär häufig zum Einsatz). Seit vielen Jahren überzeugter Vegetarier und trotzdem der Meinung: „Alles hat zwei Seiten, auch die Wurst hat zwei!“

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