Vom korrupten Kleptokraten zum Liebling der Massen in wenigen Wochen

Kürzlich las ich in einem Artikel von Tom McTague in den Blättern für deutschen und internationale Politik eine Aussage über die Art und Weise, wie Wladimir Putin Staatsführung betreibt, die so wohl sehr zutreffend ist.

Hier das Zitat aus dem Text:

Putin scheint einer Art Mafiastaat zu präsidieren: korrupt, kleptokratisch und gewalttätig, zusammengehalten durch Loyalitätsnetzwerke und Gebietsansprüche, die nichts mit dem Volkswillen zu tun haben und bekämpft werden müssen.

Allerdings fragte ich mich darauf dann auch, ob das nicht vielleicht auf den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij in ziemlich gleicher Weise ebenfalls zutrifft. Klar, der wird uns zurzeit auf allen Kanälen als Streiter für Freiheit und Demokratie präsentiert, allerdings sah das vor nicht allzu langer Zeit in der deutschen Medienlandschaft noch ziemlich anders aus.

Insofern finde ich es interessant, hier mal auf einige Artikel der letzten drei Jahre zurückzublicken, die sich mit Selenskij beschäftigt haben.

Korruption und Seilschaften

Als der ehemalige Fernsehstar vor ziemlich genau drei Jahren zum Präsidenten der Ukraine gewählt wurde, titelte ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung nämlich: „Selenskys Sieg ist Ausdruck eines kranken politischen Systems“ – das klingt nun nicht eben nach einem demokratischen Hoffnungsträger, der dort gewählt wurde, oder?

Es wird dann auch begründet, wie man nun zu dieser Ansicht gekommen ist, und das zitiere ich hier nun mal:

Doch Wolodymyr Selenskys kometenhafter Aufstieg ist ebenfalls Ausdruck des kranken ukrainischen Systems: Er war nur möglich, weil ukrainische Medien von Oligarchen dominiert werden, die bestimmen, wer in ihre Fernsehsender kommt – und wer nicht. Ex-Verteidigungsminister Anatolij Grizenko zum Beispiel, der ebenfalls Präsidentschaftskandidat war und seit Jahren glaubwürdig für Korruptionsbekämpfung und gegen die Interessen der Oligarchen auftrat, kann ein Lied davon singen: Er kam jahrelang praktisch nicht ins Fernsehen und bekam in einem Land, in dem sich 85 Prozent der Bevölkerung ausschließlich über das Fernsehen informieren, nie eine nationale Bühne. Das Gleiche gilt für echte Reformparteien, die es in der Ukraine immer wieder gibt, über die aber in den Oligarchensendern kaum berichtet wird und die auch deshalb kaum je über den Rang von Kleinparteien hinauskommen.

Für den Fernseh- und Kabarettstar Selensky existierten diese Hindernisse nicht – erst recht nicht, weil der Oligarch Ihor Kolomoisky ihn mit seinem Fernsehsender 1+1, dem beliebtesten der Ukraine, ins Amt hievte. Dass Selenskys Ruhm, sein Schlüpfen in die Rolle eines guten, unbestechlichen Präsidenten ausreichten, um ihn trotz eines inhaltsfreien Wahlkampfes ins Präsidentenamt zu bringen, lag vor allem an der Abneigung der Ukrainer gegen Poroschenko: Auch andere Kandidaten hätten gegen den bisherigen Präsidenten gewonnen.

Danach werden dann noch Zweifel daran geäußert, dass Selenskij tatsächlich gegen die Korruption vorgehen wird, wie er es im Wahlkampf stets (allerdings laut dem Artikel wohl auf recht populistische und recht inhaltsarme Weise) versprochen hat.

Und diese Zweifel bestätigten sich dann auch. So bilanzierte Eugen Theise in einem Kommentar für die Deutsche Welle vom 20. Mai 2020 (ein Jahr nach Selenskijs Amtsantritt), dass dieser Präsident keinen Plan habe. Zitat hieraus:

Kein ukrainischer Präsident vor Selenskyj hatte solche Voraussetzungen für einen echten Neuanfang nach fast drei Jahrzehnten Korruption, Vetternwirtschaft, Ungerechtigkeit. In seiner Antrittsrede gab der Ex-Komiker den alten Eliten, den „Systempolitikern“, die Schuld an der Misere und versprach eine neue Ära, in der alle Ukrainer endlich gleich seien vor dem Gesetz. Als erste Amtshandlung löste Selenskyj das Parlament auf und wenige Monate später verfügte seine neugegründete Partei über die Mehrheit in der Werchowna Rada. Was für ein starkes Mandat für Veränderungen!

Allerdings mussten die Ukrainerinnen und Ukrainer schnell erkennen, dass „neue Eliten“ im Wesentlichen aus engen Freunden und bisherigen Geschäftspartnern des Präsidenten aus dem Showbusiness bestehen. Dutzende Parlamentsabgeordnete der Regierungspartei „Sluga Narodu“ („Diener des Volkes“), Top-Beamte in der Kanzlei des Präsidenten, im Sicherheitsrat und anderen Behörden, sogar der Leiter des Inlandsgeheimdienstes SBU – Selenskyjs TV-Produktionsfirma „Kvartal 95“ wurde plötzlich zur wichtigsten Kaderschmiede des Landes.

Personalkarussell à la Trump

Jenseits von Freundschaft und persönlicher Ergebenheit gibt es unter Selenskyj allerdings keine Kontinuität in der Personalpolitik. Minister und Gouverneure werden so oft ernannt und wieder gefeuert, dass man sich fragt, ob man sich ihr Namen überhaupt merken muss. Gleichzeitig wurden die Reformer im Team Selenskyj, deren Namen zumindest die Botschafter der westlichen Partnerländer kannten, inzwischen allesamt gefeuert.

Der Ex-Komiker hat es sogar in Bolsonaro-Manier geschafft, mitten in der Corona-Krise gleich zwei Mal den Gesundheitsminister auszutauschen. Und ähnlich schnell wie bei Donald Trump drehte sich zuletzt das Personalkarussell auch im Finanzministerium – mitten in den Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds über ein neues Hilfsprogramm. Und als wäre die Nervosität in der Wirtschaft nicht schon groß genug, feuerte der Präsident kürzlich auch noch renommierte Reformer, die an der Spitze des Zolls und der Steuerbehörde zuvor wichtige Signale in der Korruptionsbekämpfung gesetzt hatten.

Noch ein knappes Jahre später bestätige dann ein Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 25. Februar 2021 diese Entwicklung nochmals, denn dessen Titel lautet: „Ukraine: Korrupt wie eh und je“. Was dann auch Folgen für Selenskijs Popularität hat, denn diese war damals massiv im Keller:

Selten ist ein Präsident in der Gunst seiner Wähler so schnell und so steil abgestürzt wie Wolodimir Selenskij in der Ukraine. Weniger als zwei Jahre nach seinem triumphalen Sieg über Amtsinhaber Petro Poroschenko würde laut Umfragen gerade noch ein Fünftel der Ukrainer in einem ersten Wahlgang für Selenskij stimmen. Einem renommierten Institut zufolge sagt gar die Hälfte der Befragten, sie fordere Selenskijs sofortigen Rücktritt und vorzeitige Präsidentschaftswahlen.

Und dieser Absturz in der Wählergunst wird dann auch klar auf Selenskijs nicht vorhandene Bekämpfung von korrupten und oligarchischen Strukturen zurückgeführt. Noch ein Zitat dazu aus dem Artikel:

Der Hauptgrund für Selenskijs Absturz aber ist sein Unwille zu echten Reformen. Selenskij führt das postsowjetische Herrschaftssystem fort und akzeptiert Korruption und Rechtlosigkeit im Austausch dafür, dass er und sein Apparat weitgehend die Kontrolle behalten. Selenskij hat mit der Ausnahme seines Vorgehens gegen den kremlnahen Politiker und Medienmogul Wiktor Medwedtschuk nichts getan, um die Macht der Oligarchen über weite Teile der Politik, der Medien und der Wirtschaft aufzubrechen.

[…]

Ein funktionierender Staat braucht unabhängige Institutionen – die gibt es unter Selenskij weiterhin nicht. Im Gegenteil, 2020 unterstellte er sich faktisch die zuvor halbwegs unabhängige Zentralbank und die Generalstaatsanwaltschaft; so gut wie alle angesehenen Reformer wurden gefeuert. Der Geheimdienst SBU, die atemberaubend korrupten Gerichte, die Gremien zur Richterauswahl und -entlassung: Sie alle bleiben unangetastet.

Jetzt will sich der Präsident auch das halbwegs unabhängige Anti-Korruptions-Büro Nabu unterstellen, weil es zu Recht gegen mehrere Mitarbeiter Selenskijs ermittelt. Würden in der Ukraine nicht Milliarden geklaut, bräuchte das Land keine Kreditmilliarden aus dem Westen. Der Internationale Währungsfonds immerhin hat sich nun geweigert, Selenskij weiteres Geld zu leihen, solange dieser nur wohlfeile Reformversprechen abgibt.

Nicht nur Journalisten, sondern auch der Europäische Rechnungshof ist sich dieses Missstandes in der Ukraine sehr bewusst und schreibt daher in einem Artikel auf seiner Website vom 23. September 2021:

Großkorruption und eine Vereinnahmung des Staates im Sinne privater Interessen sind in der Ukraine immer noch weit verbreitet.

[…]

Korruption auf höchster Ebene und sogenannte Staatsvereinnahmung sind in der Ukraine weit verbreitet. Sie behindern nicht nur Wettbewerb und Wachstum, sondern schaden auch dem Demokratisierungsprozess. Dutzende Milliarden Euro gehen jedes Jahr infolge von Korruption verloren.

So bleibt also festzuhalten, dass die Ukraine nicht nur ein massives Problem mit Korruption hat, was die Entwicklung von demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen dort erhebliche erschwert, sondern dass die Regierung von Wolodimir Selenskij entgegen ihren zuvor getätigten Ankündigungen bisher auch noch nichts gegen diese korrupten und oligarchischen Strukturen unternommen hat.

Kleptokratie

Zu den kleptokratischen Ambitionen Selenskijs hat ein Artikel der Berliner Zeitung vom 16. Oktober 2021 mit dem Titel „Wolodymyr Selenskyj: Der ukrainische Präsident und sein peinliches Netzwerk“ Interessantes zu berichten. Dabei wird darauf verwiesen, dass der ukrainische Präsident geschickt ein Image im Wahlkampf genutzt hat, das er in Form einer Fernsehserie den Menschen präsentierte. Dort mimte er nämlich einen Lehrer, der sich über die Korruption kleptokratischer Politiker echauffierte und daraufhin dann, nachdem seine Wutrede online viral gegangen ist, vollkommen unerwartet zum Präsidenten gewählt wurde.

Zu diesem Image passt es natürlich nun so gar nicht, dass Selenskijs Name in den Pandora Papers auftauchte, dem bisher weltweit größten Leak über Steueroasen und deren Nutzer, das im Oktober 2021 von investigativen Journalisten präsentiert wurde.

Dazu steht dann in dem oben genannten Artikel aus der Berliner Zeitung:

Denn das Datenleck der Pandora Papers deckte auf, dass Selenskyj zu den 38 ukrainischen Politikern gehört, die Geld auf Offshore-Konten versteckt haben. Dabei wurden aus keinem anderen Land mehr Politiker in den Papers genannt als der Ukraine, mit doppelt so vielen Amtsträgern wie das Land auf dem zweiten Platz – Russland.

41 Millionen Dollar, die nicht verschwinden wollen

Im Fall Selenskyj handelt es sich um ein Netzwerk von Offshore-Firmen in Belize, Zypern und den Britischen Jungferninseln, an denen nicht nur er vermutlich beteiligt ist (oder einst war), sondern auch einige wichtige Figuren in seinem Präsidialteam und Mitarbeiter seiner Produktionsfirma Kvartal 95. Selenskyj hatte seine Beteiligung an nur einigen dieser Unternehmen während seiner Kandidatur erklärt.

Auch dabei ist der berüchtigte Oligarch Ihor Kolomojskj, in dessen Fernsehkanal die Sendungen von Kvartal 95 ausgestrahlt wurden. Die ukrainischen Aufsichtsbehörden glauben, dass Kolomojskj Milliarden von Dollar aus der PrivatBank abgezweigt haben könnte. Er selbst hatte diese inzwischen  größte Bank der Ukraine in den 90er-Jahren mitgegründet. Er verließ das Land, nachdem eine Lücke von 5,5 Milliarden Dollar in den Büchern der Bank entdeckt und mit Steuergeldern gestopft worden war, und kehrte erst zurück, als Selenskyj Präsident geworden war.

Schon während seines Wahlkampfs warfen Selenskyjs Gegner ihm vor, bloß eine Marionette Kolomojskjs zu sein, und verwiesen auf nicht näher erläuterte Zahlungen von insgesamt 41 Millionen Dollar von der PrivatBank an sein Offshore-Netzwerk. Die ukrainische Investigativseite Slidstvo.Info enthüllte, dass diese Firmen dazu benutzt wurden, Luxusimmobilien im Zentrum Londons zu kaufen.

Da taucht dann also schon wieder sehr prominent der Name Ihor Kolomojskj auf, von dem ja auch schon in dem weiter oben verlinkten Artikel der Süddeutschen Zeitung zur Wahl Selenskijs die Rede war – was mit Sicherheit kein Zufall ist, sondern eher auf ein tiefgreifendes Geflecht aus persönlichen Abhängigkeiten und Vorteilsnahmen hindeutet. Und genau so was ist ja eben das Kennzeichen von Kleptokraten. Zumindest dürfte Selenskij selbst mittlerweile auch reichlich monetäre Vorteile aus seiner Präsidentschaft gezogen haben, die über sein offizielles Salär hinausgehen.

Wow, was für ein lupenreiner Demokrat! Oder ist dieser ironisch gemeint Begriff nun nur vor Wladimir Putin reserviert?

Pressefreiheit

Dass es mit der Pressefreiheit in Russland nicht allzu gut bestellt ist, hat sich ja mittlerweile hinreichend herumgesprochen. Doch auch hierbei ist die Ukraine alles andere als ein Musterschüler nach demokratisch-rechtsstaatlichen Vorstellungen.

So befasst sich beispielsweise ein Artikel des enorm-Magazins vom 15. Dezember 2021 mit diesem Thema. Ein paar Zitate daraus:

Wer in der Ukraine unabhängigen Journalismus betreiben will, hat es selbst im Jahr 2021 nicht leicht.
Obwohl seit der „Revolution der Würde“ 2013/14 offiziell Pressefreiheit gilt, ist sie noch immer eingeschränkt: Platz 97 von 180 belegt die Ukraine im Ranking der Reporter ohne Grenzen. Die meisten überregionalen Printmedien und TV-Sender sind nach wie vor in den Händen mächtiger Oligarch:innen. Sie nehmen starken Einfluss auf die Berichterstattung.

[…]

„Viele Menschen in der Ukraine können nicht zwischen Fakten und Propaganda unterscheiden“, sagt Pravdaye-Journalistin Alena Mudra. Das ist auch nicht einfach, denn gezielte Desinformation ist in der Ukraine verbreitet. Mal werden die Falschinformationen von Politiker:innen lanciert, mal von Interessensverbänden, aber meist ist nicht klar, wer genau dahinter steckt.

[…]

Chefredakteurin Tatjana Sobonik verteilt Visitenkarten. Sie kennt den harschen Gegenwind, auch in der Westukraine. Immer wieder hat sie wütende Unternehmer:innen oder Politiker:innen am Telefon, die ihren Namen im Zusammenhang mit Investigativrecherchen auf keinen Fall in der Zeitung lesen wollen, gerade wenn es um Korrupution geht. Sie wurde schon mehrfach vor Gericht zitiert, weil sie trotzdem über Korruption schrieb und Namen nannte.

Auch interessant, dass dort quasi als Randnotiz erwähnt wird, dass Journalisten schon länger keinen Zugang mehr zum Kriegsgebiet in der Ostukraine haben. Was möchte die Kiewer Regierung also dort vor ihrer Bevölkerung verborgen wissen, dass nicht darüber berichtet werden darf?

Und ein Artikel der taz vom 30. Dezember 2021 schildert, wie immer wieder oppositionelle Fernsehsender in der Ukraine verboten werden. Das trifft dann nicht nur prorussisch eingestellte Medien, sondern auch solche von politischen Konkurrenten von Präsident Wolodimir Selenskij, wie zum Beispiel vom Ex-Präsidenten Petro Poroschenko. Klar, der ist auch kein toller Typ, aber dennoch ist das Verbot von Sendern schon etwas, was nicht mit meiner Vorstellung von Pressefreiheit zusammenpasst.

Und Pressefreiheit ist nun mal ein wesentlicher Bestandteil einer Demokratie – oder andersrum ist deren Fehlen ein deutliches Zeichen dafür, dass es reichlich demokratische (und oft auch rechtsstaatliche) Defizite gibt. Damit bestätigt sich dann auch die Aussage aus dem oben erwähnten Artikel aus der Süddeutschen Zeitung von 2019, direkt nach der Wahl von Selenskij:

Auch im Verhältnis zu EU und Nato wird sich wenig ändern; zudem ist die Ukraine von den dort geforderten Standards in Politik, Gesellschaft und Armee so weit entfernt, dass die Frage der Aufnahme in EU oder Nato in der fünfjährigen Präsidentschaft Selensky ohnehin keine praktische Rolle spielen wird.

Schließlich haben sich die dort angesprochenen geforderte Standards offensichtlich nicht verbessert, um so eine Aufnahme in die EU oder Nato zu rechtfertigen. Dass nun aufgrund des russischen Angriffskrieges beides wieder im Gespräch und von vielen Politikern und Medien positiv beurteilt wird, dürfte für Selenskij ein nicht unangenehmer Nebeneffekt sein.

Gewalt

Der Einmarsch der russischen Armee in der Ukraine traf ja nun nicht auf eine komplett friedliche Gegend, sondern im Osten der Ukraine herrschte ja schon seit Jahren Bürgerkrieg, in dem die Kiewer Regierung nicht eben zimperlich mit ihrer eigenen Bevölkerung umsprang, wie Lutz Herden in einem Artikel für den Freitag feststellt:

Sehr selten, fast nie rang man sich in Deutschland zu der Frage durch, weshalb Menschen, die nach Kiewer Lesart ukrainische Staatsbürger sind, mit schwerer Artillerie beschossen, um ihre soziale Existenz gebracht, getötet oder in die Flucht getrieben werden. Bestenfalls in Nebensätzen, wenn überhaupt, räumten deutsche Politiker ein, wie ukrainische Regierungen den im Februar 2015 geschlossenen Minsk-II-Vertrag blockierten. Allgemeiner Amnesie verfielen die Gründe für die Sezession der Regionen Donezk und Lugansk, ein mehrheitlich russisch besiedeltes Terrain. Um einen zu nennen: Die nach dem Sturz der Regierung Janukowitsch Ende Februar 2014 in Kiew mächtigen Autoritäten hoben umgehend Gesetze auf, die den Status russischer Bürger (ein Viertel der Gesamtbevölkerung) sowie der russischen Sprache im Osten und Süden des Landes garantierten.

Auch das soll nun keineswegs einer Rechtfertigung der russischen Invasion dienen, sondern nur aufzeigen, dass die ukrainische Regierung und damit auch seit 2019 Präsident Wolodimir Selenskij durchaus mit rabiaten militärischen Mitteln vorgehen und wenig Interesse daran zu haben scheinen, diesen Zustand ohne Gewalt zu beenden, indem die Zusagen des Minsk-II-Abkommens nicht eingehalten wurden. Dazu führt Lutz Herden weiter aus:

Seit sieben Jahren hat Kiew dieses Abkommen mehr als lästige Zumutung denn bindende Verpflichtung behandelt. Dies galt vorrangig für die unter Punkt 11 verankerte Verfassungsreform, die bis Ende 2015 (!) hätte stattfinden sollen, aber unterblieb. Wörtlich heißt es im „Minsker Protokoll“: „Diese Verfassung muss als Schlüsselelement eine Dezentralisierung (unter Berücksichtigung der Besonderheiten einzelner Gebiete der Oblaste Donezk und Lugansk) aufweisen, die mit den Vertretern dieser Gebiete abgestimmt ist, ebenso die Verabschiedung eines ständigen Gesetzes über den besonderen Status einzelner Gebiete der Oblaste Donezk und Lugansk …“ Der Auftrag zur konstitutionellen Neuordnung blieb ebenso liegen wie andere Minsk-II-Vorgaben, etwa die Rückkehr zu einer „vollständige(n) Kontrolle über die Staatsgrenze von Seiten der ukrainischen Regierung“ (Punkt 9) oder „regionale Wahlen“ (Punkt 12). Beides konditionierte Sequenzen, waren sie doch gleichfalls an eine Verfassungsreform gebunden. Kiew weigerte sich zudem beharrlich, mit Gesandten aus den beiden abtrünnigen „Oblasten“ zu verhandeln, obwohl die im Protokolltext als potenzielle Unterhändler genannt sind. Unter Punkt 12 ist von „Vertretern der einzelnen Gebiete der Oblaste Donezk und Lugansk“ die Rede, mit denen „im Rahmen der Dreiseitigen Kontaktgruppe“ zu sprechen sei. Wer sollte sonst gemeint sein als die politischen Vertreter dieser Gebiete?

Deeskalation geht irgendwie anders, oder? So drängt sich mir der Eindruck auf, dass die Kiewer Regierung gar nicht bereit war, hier eine diplomatische Lösung anzustreben, da man sich in der Sicherheit wähnte, die Nato würde einem schon beispringen und dann Russland in seine Schranken verweisen. Die Rhetorik von Selenskij und auch seines Botschafters in Deutschland Andrij Melnyk deuten zumindest sehr stark in diese Richtung – genauso wie deren ständige Wutausbrüche, wenn dann mal Zweifel an einer Strategie der weiteren militärischen Eskalation geäußert werden.

 

Das ist natürlich alles keine Rechtfertigung dafür, einen Angriffskrieg vonseiten Russlands gegen die Ukraine zu führen. Würde jeder korrupte Kleptokrat von seinen Nachbarländern attackiert würde, dann gäbe es wohl unzählige Kriege mehr auf dieser Welt. Allerdings wird so schon deutlich, dass es hier nicht um den Verteidigungskampf eines wackeren, aufrechten Vorzeigedemokraten geht, denn so einfach schwarzweiß ist das Ganze eben nicht.

Auch wenn uns dies zurzeit von Medien und Politikern so weisgemacht werden soll – ganz so, als würde der Selenskij von heute ein ganz anderer sein als der von vor zwei Monaten und als wäre sein bisheriges politisches Wirken nicht existent. Interessanterweise sind die oben verlinkten Artikel der Süddeutschen Zeitung und der Berliner Zeitung auch mit einem Hinweis, darauf versehen, dass sie vor dem Angriff Russlands erschienen sind. Fast so, als würde sich dadurch nun etwas am Inhalt ändern. So entsteht bei mir noch mehr der Eindruck, dass hier vor allem in schlichten Gut-böse-Kategorien gedacht werden soll, um entsprechend politisch auf diesen Krieg reagieren zu können. Dazu passt dann ja auch, dass ständig, gern auch mit großem Pathos, betont wird, die Ukraine würde für unser aller Freiheit kämpfen.

Denn ich würde diesen Krieg vielmehr eher so beschreiben: Zwei machtgierige, korrupte, egomane Kleptokraten spielen Pimmelfechten – zulasten ihrer Bevölkerung und der vielen jungen Männer in ihren Armeen, die dafür ihr Leben lassen müssen. Und zum Nutzen von Profiteueren, die man so wieder unter „die üblichen Verdächtigen“ zusammenfassen.kann. Wenn man diese Lesart anwendet, dann ergeben sich nur komplett andere Handlungsoptionen, als sie zurzeit von (nicht nur) unserer Regierung praktiziert werden.

Ach ja: Die von mir zitierten Quellen sind ja nun nicht eben RT oder Facebook-Kommentare von irgendwelchen Putin-Trollen, sondern dürften komplett unverdächtig sein, in irgendeiner Form unter russischer Einflussnahme zu stehen. Das muss man ja heute schon fast immer mit dazuschreiben …

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Karl

Jahrgang 1969, ist nach einem Lehramtsstudium und diversen beruflichen Tätigkeiten seit 2002 freiberuflicher Lektor (Auf den Punkt). Nach vielen Jahren in Hamburg, lebt er nun seit November 2019 in Rendsburg. Neben dem Interesse für politische Themen ist er ein absoluter Musikfreak und hört den ganzen Tag Tonträger. An den Wochenenden ist er bevorzugt in Norgaardholz an der Ostsee und genießt dort die Natur.

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