Aus Mensch wird Masse

Die Welt ist einfacher in ihrer Handhabung, wenn man die Dinge schnell und unkompliziert einordnen kann: Das schafft Struktur, Sicherheit und verbraucht weniger Energie zum Denken. Alles Dinge, die dem Menschen scheinbar entgegenkommen, aber leider nicht gerade einem reflektierten und sozialen Miteinander zuträglich sind.

So diente das sogenannten Othering bereits im Dezember 2016 hier für einen Beitrag, der einen Großteil dieses Beitrags vorweg erklärt hat: Gleichmachung und Entmenschlichung. Gerade in diesen Zeiten der Populisten und der Unterbringung von Flüchtlingen prägt dieses Verhalten unsere Medien. Flüchtlingshelfer werden attackiert, weil sie anderen Menschen helfen (die jedoch nur als entmenschlichte „Flüchtlingswelle“ wahrgenommen werden). Alle AfD-Wähler werden als Nazis diffamiert, weil man sich so nicht inhaltlich damit auseinandersetzen muss, dass etablierten Parteien nicht mehr als eine „politische Mitte“ zu bieten haben (wobei es ihnen eben nur um das Interesse des Kapitals geht, das kein links oder rechts kennen darf, sondern nur das unpolitische „mehr!“).

Ich möchte jedoch noch weiter herunterbrechen und den Finger an die eigene Nase legen! Bei mir sind es sogenannte Spitzenpolitiker … eigentlich so ziemlich alle Gruppen, die politisch oder wirtschaftlich „ganz oben mitspielen“. Das resultiert nicht aus dem Neid gegenüber „denen da oben“ (denn es betrifft nicht berühmte Spitzensportler, Schauspieler, Musiker oder Künstler), sondern aus der Tatsache, dass diese Leute es nur an diese „Spitzen“ schaffen, indem Sie aus meiner Sicht rücksichtslos und egoman handeln. Es geht um Macht und rein eigennützige Motive, und die eigentliche Funktion, Solidarität mit den Wählern, ist zur Nichtigkeit verkommen, gar zum lästigen Ärgernis. Oder wie ist es anders zu erklären, dass ein jahrelang lügender Helmut Kohl hier als Ehrenbürger unter die Erde geht? Oder ein „so ist er eben, der Schmidt“ nicht geteert und gefedert aus der Regierung fliegt? Wie kann ein politischer Komplett-Tiefflieger wie Alexander Dobrindt eine Lüge nach der anderen raushauen (z. B. dass der Kohleausstieg nicht machbar sein) und ein Projekt nach dem anderen nicht nur gegen die Wand, nein, in den Abgrund fahren und weiter politischer Akteur in diesem Land bleiben? Zumal seine Gesprächsbereitschaft gegen null tendiert, aber GENAU DAS sollte sein Job sein.

Ich bin also zu einem guten Stück politikverdrossen, und das müssen so ziemlich alle Spitzenpolitiker ausbaden. Immer wenn wir es uns einfach machen wollen und aus Personen eine Gruppe zusammenschustern, dann greift dieser Vereinfachungsreflex und gaukelt uns Gruppen vor, wo es tatsächlich um individuelle Personen geht. Die Sprache hilft jedem von uns, diese Mechanismen auch bei uns selbst zu enttarnen: „Der Russe“, „der AfD-Wähler“ oder „die Ausländer“ sind typische Beispiele. In meinem sozialen Umfeld auch gern „die Zombies“ für Leute, die permanent auf das Smartphone glotzen (was jeder mal tut, denn jeder schaut mal nach einer SMS oder einem verpassten Anruf und gehört so schnell ebenfalls zu den „Zombies“).

Vielleicht ist es ja doch gut, dass Smartphones immer mehr das Denken und Entscheiden für die offenkundig verblödete und überforderte Gesellschaft übernehmen? Vielleicht. Vielleicht sind wir aber auch haltlos von einer Realität überfordert, die uns dank der Digitalisierung, Globalisierung und Medialisierung durchweg mit Dingen berieselt oder befeuert, die nichts mit unserem direkten sozialen Umfeld zu tun haben? Vielleicht. Ich für meinen Teil kann bei mir erkennen, dass ich dieser Flut an Einflüssen und Informationen nicht mehr die Aufmerksamkeit angedeihen lassen kann, die alles verdient hätte (um Dinge eindeutig einordnen zu können und nicht mit einer Verallgemeinerung abzutun).

Je eingehender ich mich mit einer Person beschäftige (sei es der obdachlose Bettler, dem ich täglich bei mir vor der Tür begegne, oder auch der egomane Politiker), desto eher verstehe ich die Beweggründe und sehe, dass da in der Entwicklung oder Erziehung etwas grundlegend schiefgelaufen ist. Am Ende steht da ein Mensch, der selbstredend für seine Taten zur Rechenschaft gezogen werden sollte (schon um selbst zu verstehen, dass das eigene Handeln nicht solidarisch war), aber seine Verfehlungen liegen anderswo, als bei mir selbst die Verfehlungen liegen.

Einmal mehr möchte ich also – im eigensten Interesse, die Welt nicht in ein „die anderen“ und „ich“ einzuteilen -, dass die Achtsamkeit und der Fokus bei der eigenen Sprache verweilen (und daraus resultierend beim eigenen Handeln). Ich habe derzeit über sieben Milliarden Menschen, die ich kritisieren und verurteilen kann, aber nur einen, auf dessen Handeln ich direkten Einfluss nehmen kann: mich selbst. Und so wird aus der Masse wieder der Mensch, der so sein kann, wie ich ihn haben möchte: Selbsterkenntnis anstatt Selbstdarstellung, verstehen anstatt verurteilen, reflektiert anstatt reflexartig. Oder nach Christian Morgenstern: „Es gibt in Wahrheit kein letztes Verständnis ohne Liebe.“

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Dirk

Jahrgang 1974, in erster Linie Teil dieser Welt und bewusst nicht fragmentiert und kategorisiert in Hamburger, Deutscher, Mann oder gar Mensch. Als selbstständiger IT-Dienstleister (Rechen-Leistung) immer an dem Inhalt und der Struktur von Informationen interessiert und leidenschaftlich gerne Spiegel für sich selbst und andere (als Vater von drei Kindern kommt dies auch familiär häufig zum Einsatz). Seit vielen Jahren überzeugter Vegetarier und trotzdem der Meinung: „Alles hat zwei Seiten, auch die Wurst hat zwei!“

Ein Gedanke zu „Aus Mensch wird Masse“

  1. Auch wenn ich mich damit nicht sehr beliebt mache, aber die effektivste Möglichkeit sich qualitativ mit Dingen und Personen auseinander zu setzen ist, die Qualität an Dinge zu reduzieren. Eine App weniger auf dem Smartphone, eine Social-Media-Plattform weniger, ein YouTube-Kanal weniger, eine Fernsehsendung weniger oder ein Konsumgut-Schnäppchen weniger gekauft (und zuvor das Internet nach dem günstigsten Angebot durchflügt). Das spart Zeit bei der Menge des Konsums und erhöht so die gefühlte Qualität unseres täglichen Lebens. Kurz: Weniger ist mehr.

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