Am letzten Freitag hat Fridays for Future (FFF) zu weltweiten Demonstrationen für mehr Klimaschutz aufgerufen, und bei der Veranstaltung in Hannover sollte die Musikerin Ronja Maltzahn auftreten. Allerdings wurde sie kurzfristig wieder ausgeladen, da sie Dreadlocks trägt und dies als kulturelle Aneignung empfunden wurde, die man so nicht dabeihaben wollte (s. beispielsweise hier). Daraufhin setzte es dann, m. E. durchaus zu Recht, einen ziemlichen Shitstorm gegen die Veranstalter. Für mich zeigt das vor allem, dass diese oft auch als Woke bezeichnete Denkweise in erster Linie undifferenziert und vernagelt ist – und damit bestimmt nichts dazu beiträgt, diese Welt ein Stück weit offener und lebenswerter für alle Menschen zu machen.
Vor etwa einem Jahr habe ich ja schon mal meine Ansicht zur Identitätspolitik in einem Artikel niedergeschrieben, und das wird hier jetzt durch so eine Aktion echt noch mal auf die Spitze getrieben. Darüber kann ich mich nun auf verschiedenen Ebenen und unter mehreren Aspekten aufregen.
Zunächst ist da einmal die kleinkarierte Oberflächlichkeit, jemanden wegen äußerer Merkmale nicht bei einer Veranstaltung dabeihaben zu wollen. Es geht hier ja nicht um irgendwelche eindeutigen politischen Symbole, sondern um eine Frisur, und so was tragen Menschen eben zuweilen auch mal einfach so, weil es ihnen gefällt – und nicht weil sie damit eine konkrete Aussage treffen wollen. Da halte ich mich doch sehr ans Motto „Leben und leben lassen“. Insofern finde ich es dann schon sehr schräg, wenn eine progressive und von mir eigentlich sehr geschätzte Bewegung wie FFF nun eine Frisur zu einem Ausschlusskriterium macht …
Wobei das ja nun auch begründet wird, und zwar damit, dass Dreadlocks eben vor allem von dunkelhäutigen Menschen getragen würden. Mal abgesehen davon, dass wohl auch schon die Wikinger vor Hunderten von Jahren eine so ähnliche Haartracht kannten, wird hier also eine sogenannte kulturelle Aneignung behauptet.
Ich kann verstehen, dass man es kritisch sieht, wenn Menschen offensichtliche Merkmale aus einem anderen Kulturkreis verwenden, um sich dann darüber lustig zu machen, aber Ronja Maltzahn war ja nun vermutlich weit weg davon, irgendwas im Sinne einer Minstrel-Show oder ähnlichen Mumpitz aufzuführen. Es geht hier also nicht um Verspottung, Veralberung oder Herabwürdigung von Kultur, denn so was finde ich selbstredend auch reichlich eklig.
Vielmehr werden vonseiten solcher Woke-Leute dann kulturelle Abgrenzungen eingefordert, die mit Sicherheit der Entwicklung von kulturell Interessantem sehr entgegenstehen. Kultur hat ja schon immer davon gelebt, dass sich unterschiedliche Ausdrucksweisen und Stile gegenseitig beeinflusst haben und durch das Zusammenkommen dann etwas Neues entstanden ist. Rock ’n‘ Roll beispielsweise entstand durch das Vermischen von schwarzem städtischem Blues und weißer Country-Musik. Wie gut, dass damals noch keine woken Aufpasser vorhanden waren, um das zu unterbinden, die Musikwelt wäre doch um einiges ärmer gewesen.
Wenn man nun also auf so einen Cross-over in Musik oder anderen Kulturformen verzichten würde, wären kultureller Stillstand und eine Verarmung der Ausdrucksformen die Folge. Jeder würde in seinem Saft schmoren, und das wär’s dann. Tolle Aussichten …
Und nicht nur in puncto kultureller Rückschrittlichkeit ergeben sich bei so einer Sichtweise Anknüpfungspunkte nach ganz rechts außen. Die Hipster-Nazis von der Identitären Bewegung beispielsweise sehen das mit der kulturellen Separation ja nicht so ganz anders, wenn man sich dazu mal einen kleinen Abschnitt aus dem dazugehörigen Wikipedia-Eintrag anschaut:
Daher fordert die IB „ethnopluralistische Vielfalt“ statt „kulturellen (supra-nationalen) Einheitsbreis“, eine Position folglich, die eine ethnisch und kulturell homogene Gesellschaft statt einer multikulturellen Struktur auf nationaler Ebene anstrebt.
Tja, wenn man meint, betonköpfig sein zu müssen, dann ergeben sich da halt einige Parallelen zu anderen Betonköpfen, die man vielleicht so nicht beabsichtigt hat oder sonderlich gern sieht …
Allerdings sind solche woken Sichtweisen mittlerweile recht weit verbreitet, wie man daran sehen kann, dass Amazon vor gut einem halben Jahr eine neue Richtlinie für die eigenen Film- und Serienproduktionen herausgegeben hat, die besagt, dass Menschen in Filmen nur noch das spielen dürfen, was sie selbst sind bzw. was mit ihrer eigenen geschlechtlichen Identität, Behinderung Ethnie, Nationalität, sexueller Orientierung usw. übereinstimmt (s. treffend kritisch dazu hier).
Nun ist es ja gerade ein Merkmal der Schauspielkunst, dass Menschen dabei etwas darstellen, was sie nicht ihrem eigenen Ich entspricht, aber dieser Grundsatz scheint bei Amazon nicht so wichtig zu sein. Und dann frage ich mich ja, wie denn eine Figur dargestellt werden soll, die erst im Laufe der Handlung, beispielsweise durch einen Unfall, eine Behinderung erfährt. Wird dann dem Schauspieler das Rückgrat gebrochen, damit er auch die Szenen als Querschnittsgelähmter im Rollstuhl spielen darf?
Zudem sei ja dann auch die Frage erlaubt, was denn von so einer Denkweise zu halten sein mag, wenn sie derart offensiv von einem fiesen Konzern wie Amazon, der sich ansonsten ja einen feuchten Kehricht um soziale Verantwortung und Menschenwürde schert, propagiert wird …
Aber noch mal zurück zur eingangs geschilderten Situation mit den Dreadlocks, die mich ja überhaupt erst dazu gebracht hat, diesen Artikel zu schreiben. Da stellt sich mir dann nämlich die Frage: Wenn Hellhäutige keine Dreadlocks haben dürfen, dürfen Dunkelhäutige dann auch keine blondierten Haare oder Afrikaner keine geglätteten Haare haben?
Klar, hellhäutige Menschen aus Europa und Nordamerika sind grundsätzlich nicht von People of Color unterdrückt worden, wie das umgekehrt der Fall war in Zeiten des Kolonialismus und leider allzu oft immer noch ist. Dennoch soll es hier ja um kulturelle Aneignung gehen, und da fände ich das Ansinnen, Menschen mit dunkler Haut vorzuschreiben, wie sie ihre Haare zu tragen haben, genauso absurd, wie ich es bei hellhäutigen Menschen finde.
Und nun kommt noch ein anderer Aspekt hinzu: Dreadlocks kennt man ja auch unter dem eingedeutschten Begriff „Rastalocken“, und das leitet sich dann wiederum von den Rastafari ab. Dazu findet man dann im Wikipedia-Beitrag Folgendes:
Einige Rastafaris tragen Dreadlocks und ungestutzte Bärte als Ausdruck ihrer Verbundenheit mit Gott. Die Dreadlocks sind außerdem ein Symbol für Naturverbundenheit und erinnern an die Mähne des Löwen von Juda. Sie wurden ebenfalls als Symbol der Abgrenzung zu der westlichen Ästhetik der „weißen Unterdrücker“ und somit als Zeichen des Widerstands verstanden.
Das ist ja auch das, was bei FFF anklang, als man Ronja Maltzahn auslud, dass nämlich diese Art der Frisur auch Widerstand gegen weiße Unterdrücker zu Ausdruck bringen soll und daher nicht von Weißen getragen werden sollte.
Nun sind die Rastafaris allerdings in anderer Hinsicht nicht so richtig cool drauf, wie ich finde, und auch das steht bei Wikipedia:
Das Rastafaritum ist geprägt durch eine patriarchiale, heteronormative Weltsicht und Schwulen- und Lesben-Feindlichkeit.
[…]
Prinzipiell wird der Mensch als Individuum verstanden und somit auch die freie Meinung akzeptiert. Andererseits berufen sich manche Gruppierungen auf die strengen Reinheitsvorschriften des Alten Testaments. Es finden sich auch patriarchalische Strukturen; so wird z. B. der Frau die Pflicht auferlegt, ihren Kopf zu bedecken, ihren Mann zu umsorgen und ihm treu zu sein – auch wenn er es selbst nicht ist.
Und jetzt zeigt sich, wie eindimensional die woke Sichtweise, die FFF an den Tag gelegt hat, ist. Denn schließlich ist Ronja Maltzahn ja eine Frau. Und wenn diese sich dann eine Frisur zu eigen macht, die aus einer in Teilen sehr patriarchalischen und frauenfeindlichen Kultur stammt, dann ist das für mich nicht nur sehr o. k., sondern auch ein treffendes Statement gegen derartig veraltete Denke. Zumindest sollte man das auch berücksichtigen, wenn man denn schon eine Frisur politisiert.
Wer also meint, den geschlechtspolitischen Aspekt bei diesem Thema einfach außen vor lassen zu können in einer Zeit, in der es bei uns nach wie vor den Gender Pay Gap gibt und Schwangerschaftsabbrüche immer noch stigmatisiert sind, der lebt zum einen reichlich hinterm Mond und ist zum anderen aufgrund seiner Eindimensionalität nicht in der Lage, indentitätspolitische Themen auch nur ansatzweise adäquat zu erfassen.
Und da sind wir dann wieder bei dem Problem, das ich momentan vor allem bei der Identitätspolitik sehe und schon im Fazit meines oben bereits erwähnten Artikels beschrieben habe:
So bleibt für mich als Fazit, dass Identitätspolitik, die spaltet statt zu vereinen, die sich vor allem auf Symbolisches konzentriert und nicht auf tatsächlich vorhandene Missstände, vor allem denen in die Hände spielt, die nichts ändern wollen am aktuellen System, das zunehmend mehr Ungerechtigkeiten produziert. Es gilt also, feministische, antirassistische, soziale, LGBT- und auch ökologische Bewegungen zusammenzubringen, indem aufgezeigt wird, dass die Ursache für ihre Diskriminierung und Missachtung ein und dieselbe ist, nämlich das neoliberal kapitalistische Wirtschaftssystem.
Davon sind diese Woke-Kleinkrämer leider sehr, sehr weit entfernt, denn durch ihre Verbohrtheit bringen sie nicht nur, wie man gerade am Dreadlock-Shitstorm sehen konnte, Menschen gegen sich und damit auch gegen emanzipatorische Themen auf, sondern liefern auch noch denjenigen argumentatives Futter, die das wichtige Engagement gegen Rassismus und Sexismus sowieso schon überflüssig finden. Was für ein Trauerspiel, wozu Engstirnigkeit und eindimensionale Vernageltheit doch so führen können …
Aktuell gab es gerade in Bern wieder einen Fall, in dem wokes Denken eine musikalische Aufführung unterbunden hat, wie ein Artikel in der Berliner Zeitung berichtet. Da haben einige weiße Musiker einer Reggae-Band doch tatsächlich Dreadlocks gehabt, sodass aufgrund des geäußerten Unwohlseins einiger woker Zuschauer dann das Konzert abgesagt wurde.
In meiner Jugend in den 80ern gab es das zumindest nicht mehr, dass Konzerte nicht durchgeführt wurden aufgrund der unliebsamen Frisuren der Musiker, das wäre damals schon als allzu rückständig und reaktionär aufgefasst worden …
Und weiter geht’s mit der Kulturverhinderung aufgrund von angeblicher „kultureller Aneignung“: In Zürich hat eine Bar das Konzert des Musiker Mario Parizek abgesagt, weil er als Weißer Dreadlocks hat. In einem Artikel der Berliner Zeitung wird der Musiker zitiert, der das als „mehr oder weniger faschistische Einstellung“ bezeichnet.