Unser Leben als Objekt

Seit Tagen trage ich eine Satz in mir: „Konsum mach duum!“ Das ist einfach, das ist plakativ … das ist alles, was wir zu sein scheinen. Die Menschen rennen umher, haben Bilder von ihrer Umwelt und sich selbst im Kopf, die ihnen durch TV, Internet und Werbung vermittelt werden, und daran wird die Realität bemessen – leider. Wir orientieren uns an falschen Idolen, die sich als austauschbare und oberflächliche Projektionsfläche entpuppen, wenn wir nur einmal den Mut und die Offenheit haben, uns die Person hinter dem oberflächlichen Bild anzusehen (ja, auch Models und Schauspieler:innen haben Pickel und Probleme mit dem Selbstwertgefühl). Es ist so schön einfach, sich etwas zu kaufen und sich damit aufzuwerten! Wenn ich 100 kg zu viel wiege (um dem gesellschaftlichen Ideal zu entsprechen), dann lasse ich mir lieber die Nägel aufwendig machen, renne wöchentlich zum Hairstylisten und kaufe mir ein iPhone, um das Bild von mir aufzuwerten. Ein zweifelhafter Mehrwert.

Schaut mal her, ich bin so interessant, denn ich habe meine Oberfläche veredelt indem ich Dinge kopiert habe. (Danke Pexels)

Ich habe das romantische Bild im Kopf, dass wir in kleinen Gruppen von 50 bis 150 Menschen leben und jeder die Eigenarten und Persönlichkeit des anderen kennt, dessen Fähigkeiten, dessen Vorzüge und dessen Defizite. Du kannst dieser überschaubaren Anzahl an Menschen Eigenschaften zuordnen, die unmittelbar von Dir erfahren werden: Der eine kann besonders gut Zöpfe flechten, der andere baut die besten und stabilsten Strohdächer, und eine Dritte schafft es immer wieder, Streitigkeiten zu schlichten. Das alles hat in unserer Realität kaum noch eine Bedeutung, denn an erster Stelle steht das Bild, dass wir von Leuten im Kopf haben, nicht die Leute selbst. Wir haben Menschen zu Objekten gemacht, zu Objekten, die unserer Vorstellung von unserer konsumbestimmten Welt entsprechen: Der coole Typ mit den Dreadlocks und Tunnelohrringen ist „interessant“, mit dem kann ich mich sehen lassen, der wertet das Bild auf, das andere von mir haben. Unglaublich: Wir machen Menschen zu Dingen, die uns aufwerten sollen! Meine oberflächliche Vorstellung von Werten halte ich für das Maß, das andere wahrnehmen, und so ist es eben auch: Nicht die inneren Werte und komplexes Verhalten sind „wertvoll“, sondern nur Dinge, die oberflächlich einen Wert haben, sind wertvoll, voll von Werten im Sinne von Bewerten und einem monetären oder gesellschaftlichen Wert.

Und genau so scheint sich der absolute Großteil unserer Gesellschaft selbst zu bewerten: Wenn ich mit Starbucks Coffee to go, einer Wegwerf-E-Zigarette mit dem allerneuesten Lollypop-Geschmack und einem Prada-Täschchen oder Louis-Vuitton-Umhängetäschchen unterwegs bin, dann stelle ich einen Wert dar, mehr als ich als Mensch darstelle, denn davon gibt es ja so viele, und nur so kann ich einen höheren Wert darstellen. Krank. Oberflächlich. Den individuellen Wert des inneren Ichs auf das äußere Ich fokussieren oder sogar reduzieren. Wir glauben, das muss so sein, denn so sehen wir es jeden Tag um uns herum.

Verdammte Evolution, wo ist der dritte Arm, wenn man Smartphone und Coffee to go in der Hand hat und nicht weiß, wie man nun noch die E-Zigarette halten soll? (Danke Pexels)

Ich habe das Interesse an interessanten Dingen verloren, denn Dinge sind Dinge, und nur weil sie vermeintlich „neu“ sind, so bleiben die meisten Dinge doch Kopien von Dingen, die es auch vorher schon gab. Der Eiscoffee to go ist ein Kaffee, die Himbeere-E-Zigarette ist eine Zigarette und der neue SUV ist ein großes und schweres Auto, was als Ersatz für mein zu kleines Selbstwertgefühl gekauft wird. Nur jemand, der selbst eine Kopie von etwas oder jemandem sein möchte, interessiert sich dafür, sich mit Dingen aufzuwerten. Klar kann man Wünsche haben, eine tolle Reise in die Karibik zu machen, man kann sich wünschen, ein sportliches Auto zu besitzen und ein Uhr, die den Wert eines Kleinwagens darstellt. Aber wenn wir auf den Kern unseres Ichs schauen, sind das nur Dinge, die mein Leben weder nachhaltig schöner noch mich interessanter machen. Und wenn ich es noch weiter runterbreche: Interesse entspringt aus mir selbst, nicht aus dem, was andere vermeintlich „zu bieten“ haben. Wenn ich also Dinge suche, die ich für interessant halte, dann wahrscheinlich, weil es mir einfach an Interesse fehlt. Wenn einer meiner Söhne sagt, dieses oder jenes sei langweilig, dann kann ich immer nur das eine erwidern: Langweilig sind nicht die Dinge, sondern die Person, die daran nichts Interessantes finden kann.

 

Nein, ich werde diese Welt nicht ändern können, und ich bin auch nicht so unsäglich einfältig zu glauben, dass man „das System stützen“ müsste oder was auch immer die neuen Rechten und alten Linken für Umsturzfantasien haben, um ihr romantisches Weltbild allen anderen Menschen aufzuzwingen. Auch ich trage die Spuren vergangener Idole mit mir, meinen Nasenring, den ich mit annähernd 50 Jahren bereits 30 Jahre trage, kann man schon als einen dieser Aufwertungsversuche deuten, und ich werde wohl auch immer wieder mal in die Schieflage geraten, bestimmte Dinge besitzen zu wollen und bestimmte Eigenschaften vortäuschen zu wollen. Dem Irrtum, Markenklamotten wie eine austauschbare Werbefläche mit meinem Selbstbild zu verwechseln, unterlag ich „zum Glück“ nie, so zumindest meine Erinnerung. Obwohl: Musste es mit 14 nicht auch unbedingt eine Levis-Jeans sein?

„God give me the serenity to accept what can not be changed, the courage to change what can be changed, and the wisdom to know the difference.“
Karl Paul Reinhold Niebuhr

Niemand ist, was er oder sie ist, weil er oder sie so sich eines Morgens oder auch jeden Morgen dazu entschließt. Wir kommen auf die Welt, unser Gehirn passt sich den Gegebenheiten an, und wir werden aufgrund unserer Erfahrungen zu dem, was wir heute sind (worauf wir als Kleinkinder und Jugendliche noch keinen rechten Einfluss haben können!). Aber was wir morgen sein werden, dass können wir selbst aktiv bestimmen. Ja, nur wir können das, und nur wir können dem auch den entsprechenden Wert beimessen. Ich entscheide, ob ich lieber 600 Euro für ein neues Smartphone ausgebe oder das Geld lieber in ökologische Nahrungsmittel investiere und einen Teil an Menschen in Not spende, um die Umwelt zu entlasten und den Menschen in ärmeren Ländern ein ähnlich würdiges Leben zu ermöglichen, wie ich es mir selbst auch zugestehe oder es sogar für mein Recht halte (nur weil ich zufällig hier in einem reicheren Land geboren wurde, völlig ohne mein Zutun und ohne jegliche Leistung erbracht zu haben). Was macht mich und mein Leben wertvoll? Die Werte, die ich als Werbefläche umhertrage (und die unsäglich reiche Menschen zulasten der ärmsten Arbeiter:innen in der Dritten Welt noch reicher machen), oder die Werte, die ich den Menschen in meinem direkten und indirekten Umfeld zuschreibe und zukommen lassen? Den Wert, den andere Menschen dadurch mir und meinem Wirken zuschreiben? Kein Mensch ist von Haus aus mehr wert als der andere, es sei denn, ich bemesse ihn an dem, was er hat, und nicht an dem, was er ist. Der Wert meines Lebens wird nicht durch TV, Internet oder Werbung bestimmt, nicht durch Dinge (die meist auf dem genauen Gegenteil beruhen, der Ausbeutung), sondern durch den Wert, den ich für alle anderen Lebewesen habe und leiste.

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Dirk

Jahrgang 1974, in erster Linie Teil dieser Welt und bewusst nicht fragmentiert und kategorisiert in Hamburger, Deutscher, Mann oder gar Mensch. Als selbstständiger IT-Dienstleister (Rechen-Leistung) immer an dem Inhalt und der Struktur von Informationen interessiert und leidenschaftlich gerne Spiegel für sich selbst und andere (als Vater von drei Kindern kommt dies auch familiär häufig zum Einsatz). Seit vielen Jahren überzeugter Vegetarier und trotzdem der Meinung: „Alles hat zwei Seiten, auch die Wurst hat zwei!“

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