Gesellschaft ohne Wertschätzung – Ein Unding

Die Welt ist absurd und täglich erneut heißt es, mit dieser Absurdität zu leben, sie zu ertragen, sie ein wenig zu organisieren. Camus ist aktueller denn je, denn das Chaos wird beständig größer, welches dann die Absurdität auch größer werden lässt, der wir uns täglich gegenübersehen.

Ich war 17 Jahre alt, als ich bei meinem ältesten Freund, mit einem Menschen zusammentraft, der in meiner Erinnerung zwar keinen Namen und kein Gesicht mehr hat, aber ich meine, irgendetwas mit Entwicklungshilfe zu tun hatte. Dieses Zusammentreffen war für mich ein Schlüsselerlebnis.

Seinen Ausführungen entnahm ich, dass man Entwicklungshilfe nicht ohne die Kultur vor Ort betreiben dürfe, dass man diese nicht „zertreten“ dürfe, dass man sie im Gegenteil benutzen sollte, um Lösungen zu finden, die vor allem von denen akzeptiert werden können, für die, diese Lösungen gemacht sein sollen. Seit dem, schaue ich genauer hin, wenn von Entwicklungsprojekten gesprochen wird, erkenne ich immer öfter, wie dumm es doch eigentlich ist, dass wir immer meinen unsere Lebensart auch für die anderen für richtig zu halten. Seit dem schwirrte der Begriff Wertschätzung immer wieder durch meine Gedanken. Ich brauchte aber noch Jahre, um wirklich hinter seine Substanz zu kommen.

Brecht kannte ich schon, seine Stücke hatte ich damals fast alle gelesen, teilweise auch auf der Bühne geschaut. Sodass es mir leicht viel, zu begreifen, worum es wirklich gehen muss bei der Entwicklungshilfe – auch die im übertragenen Sinne – und beim Leben: um die Existenz.

Mehr noch: ich bekam von dem Bekannten meines Freundes einen Hinweis, der mein ganzes Denken veränderte. Er empfahl mir Camus, versah die Empfehlung mit dem brachialen Hinweis „Ideologien sind scheiße“.

Ich folgte seiner Empfehlung und habe es nie bereut. Hier begann, was mir im Laufe des Lebens immer klarer geworden ist: niemand hat die Wahrheit für sich gepachtet, weil es die Wahrheit eigentlich gar nicht gibt. Wir halten für wahr, was unserer Existenz entspricht, unserem Sein und was wir für das Sein des anderen vermuten und das muss nicht das sein, was andere für wahr halten. Ja, richtig erkannt, auch Sartre kam in diesen Jahren dazu, aber er war kein Schlüsselereignis für mich. Es war Camus, der mir die Welt öffnete.

Seit dem ist mir auch immer klarer geworden, das mein zentrales Projekt den Kapitalismus verstehen zu wollen, kaum Erkenntnisse bringen würde, wenn ich dem allgemeinen Glauben weiter anhängen würde, das es nur den einen Kapitalismus geben würde, das alles zwangsläufig wäre, was sich geschichtlich ereignen würde. Seit dem sind mir alle Ideologien, aber auch Religionen, die den Menschen durch ihre Ideologie oder Religion befreien wollen, suspekt. Nie lief ich Gefahr einer Ideologie letztendlich anhängig zu werden und dennoch konnte ich aus dem Studium der Ideologien immer auch Nährwert für meine Bildung ziehen, Erkenntnisse, die ich auch den Ideologien zu verdanken habe, selten aber, eigentlich nie, den Ideologen dieser Ideologien, auch deshalb wohl nicht, weil Ideologen die nötige Wertschätzung meist vermissen lassen.

Ein weiteres Schlüsselereignis – derer gab es viele, aber viele auch viel zu private, um sie hier zu nennen – war ein Buch des Philosophen Sloterdijk. Er schrieb über den Zorn und brachte mich auf eine Erkenntnis, die ich eigentlich längst hatte, die ich versuchte sogar zu leben, die mich als Person sogar ausmachte und – hoffentlich – immer noch ausmacht, die ich aber bewusst philosophisch bis dahin nicht betrachtet hatte. Die Erkenntnis, dass die Wertschätzung zentral ist, es ohne Wertschätzung nicht gehen kann, dass man Zorn schafft, wenn man die Wertschätzung vermissen lässt. Bei mir wuchs schnell heran, was in meiner Philosophie seit dem zentral ist: die Wertschätzung.

Deshalb entwickelte ich, für mich allein, als quasi Blickender, meine eigene Philosophie, auch in der Überzeugung, dass Philosophie nichts ist, was man den Akademikern allein überlassen darf, soll Philosophie nicht allein zur Sprachkunst verkommen und damit letztendlich in Begriffen steckenbleiben. Adorno half mir dabei zu erkennen, dass ich umkreisen, umschreiben muss, aber auf keinen Fall mit Begriffen Gewalt dem Denken antun darf.

Visionen traten deshalb schnell an die Stelle von Religion und Ideologie, Camus geschuldet, und ich erdachte mir, was ich als Anspruch an die Vision habe, was auf keinen Fall für mich zur Vision gehört: das Ideal und die Ideologie.

Schnell war mir klar, dass auch Visionen nicht mehr tun dürfen, als zu umkreisen, zu umschreiben, sich, wenn sie definieren, nicht einem Ideal hingeben dürfen. Schnell aber auch war mir klar, dass nur das Leben zu leben, nur den Egoismus befördern würde, das damit Visionen immer auch das Leben der anderen, das Leben insgesamt im Blick behalten müssen, das sie, um wertschätzend zu bleiben, nie selbst zum Ideal, zur Ideologie werden dürfen.

Der Ausweg, der Kompromiss – politisch derzeit überstrapaziert -, war schnell gefunden, auch, das er nie endgültig sein durfte, immer neu gefunden werden muss. Denn die Welt ist absurd und sie ist absurd, weil sie ein Chaos ist und so lange ein Chaos bleiben wird, wie sie lebt. Nur der Tod beendet das Chaos und auch nur für den, der dann Tod ist. Immer wieder Camus. Für mich der aktuellste Philosoph in diesen chaotischen Tagen.

Wenn es aber darum geht, das Leben zu leben, der Selbstmord kein Ausweg darstellt, wie auch Camus zeigte, wenn die Ideologie keine wirkliche Befreiung darstellt, die Religion nur Trost spenden kann und nur dem, der sie als Trost auch anerkennt, was kann dann noch eine Gesellschaft aus dem Chaos führen?

Dieser Gedanken trieb mich, eben bis mir die Wertschätzung durch Sloterdijk bewusst geworden ist. Ich meine, nur die Wertschätzung kann hier die Lösung sein, die Wertschätzung des Lebens im Allgemein und auch die Wertschätzung der Dinge, wenn sie physisch sind, wenn wirklich Wert behalten sollen, und nicht nur im Preis enden sollen.

Eine Gesellschaft, welche die Wertschätzung verliert, kann deshalb für mich nie eine gute Gesellschaft sein. Und genau das ist geschehen, als wir allen Dingen und seit Jahren auch dem Menschen ein Preisschild umgehängt haben. Wertschätzung ist der Bewertung geopfert worden, Ideale haben dieses durchgesetzt. Ideale von einem rationalen Menschen, nur seinem Gewissen und damit der eigenen Schuld unterworfen, von einem auch in allen ökonomischen Dingen rationalen Menschen und auch damit wieder schuldigen Menschen. Befreit worden ist er nicht, der Mensch. Nur neue Ketten hat man ihm angelegt.

Die Ökonomie ist an die Stelle der Religionen getreten und seit dem ist der Streit der Ideologen auch wieder entbrannt. Schuldenbremse ja oder nein, Staat groß oder klein, Angebots- versus Nachfragepolitik in der Wirtschaftspolitik, Groß gegen Klein und alle gegen die Mitte. Die Liste ließe sich unschwer fortsetzen, die dahintersteckenden Ideologien auch schnell gefunden. Wertgeschätzt wird nur das Eigene, vor allem das eigene Denken, meist der eigenen Existenz, des eigen Seins auch geschuldet. Wertgeschätzt wird nichts, was dem eigenen Weltbild nicht entspricht. Die Gesellschaft teilte sich auf, hat sich den vielen faulen Kompromissen hingegeben, welche dieses „preisbewusste“ Verhalten im Popperschen zwangsläufig hervor bringen musste. Wut und Hass sind entstanden, immer auch aus der Verzweiflung heraus, selbst nicht mehr ausreichend wertgeschätzt zu werden und deshalb auch nicht mehr wertschätzen zu müssen.

Fazit: Gesellschaft ohne Wertschätzung – ein Unding – für mich jedenfalls.

Was folgt daraus? Welche Konsequenzen gelte es zu ziehen? Eine Kultur der Wertschätzung, wie ich meine, sollten wir errichten. Dazu beim nächsten Mal mehr.

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Heinz

Jahrgang 1958, am Leben interessiert, auch an dem anderer Menschen, von Rückschlägen geprägt. Nach diversen Tätigkeiten im Außendienst für mehrere Finanzdienstleister und zuletzt als Lehrkraft auf der Suche nach einer neuen Herausforderung. Ökonomie und Gesellschaft, den Kapitalismus in all seinen Formen zu verstehen und seit Jahren zu erklären ist meine Motivation. Denn ich glaube, nur wer versteht, wird auch Mittel finden, die Welt zu einer besseren Welt zu machen. Leid und Elend haben ihre Ursache im Unverständnis.

2 Gedanken zu „Gesellschaft ohne Wertschätzung – Ein Unding“

  1. Das ist ein komplexes Thema und eine einfache Lösung („Die Flüchtlinge sind Schuld!“) wäre wünschenswert. In wie weit die Wertschätzung diese zentrale Rolle spielt, kann ich nur bedingt beurteilen. Ich behaupte nun aber einfach Mal, dass das Internet seinen ordentlichen Teil dazu beigetragen hat. Sowohl von Seiten des Konsums (die Einfachheit des Bestellens und Bezahlens, die ständige Berieselung mit Produktbildern und Trends), als auch von Seiten der Selbsteinschätzung (wie sehe ich mich selbst in Bezug zu all die perfekten Menschen auf YouTube, was haben andere alles an Produkten, wie kann ich ein besseres ICH „präsentieren/kreieren“). Segen und Fluch …

    UPDATE (07.09.2019): Und natürlich werden im Internet Dinge gesagt und getan, die man sich persönlich nie zutrauen würde. Ich denke der Mensch ist (noch) nicht dafür gemacht, so viele Reize und Möglichkeiten zu nutzen, wie uns nun geboten sind (Stress und Überforderung bringt Menschen zu so manchem Blödsinn). Aber wie ich oben schrieb: Eine einfache Lösung wird es nicht geben und eine solide Grundlage durch Wertschätzung wäre wünschenswert.

  2. Dirk, Wertschätzung als Lösungsansatz ist alles andere, als eine einfache Lösung. Sie ist auch eigentlich keine Lösung per se, sondern als Voraussetzung für eine Lösung anzusehen. Ich hatte dich allerdings auch so nicht verstanden, nur der Hinweis war mir wichtig. Denn alles deutet darauf hin, dass die Wertschätzung, besser die vielen gefühlten und tatsächlichen Wertschätzungsdefizite, hier eine zentrale Rolle annimmt, Lösungen deshalb ohne Beachtung dessen nicht zustande kommen werden, jedenfalls keine guten Lösungen.

    Das Internet, der „Teufel der Neuzeit“, ist sicherlich wirkungsmächtig und weil kommunikativ auch noch „Neuland“ gelte es hier durchaus anzusetzen. Aber nur im Internet den Schuldigen zu suchen und zu finden, würde von den wahren Schuldigen, deren Verantwortung ablenken. Wie und was man diesbezüglich bei Thema Internet verändern müsste, das überlasse ich denen, die sich besser damit auskennen als ich. Ich bin keine Eierlegende Wollmilchsau und finde jetzt schon, dass sich viele zu viele, ohne echte Kompetenz, dem Internet als Ursache allen Übels widmen. Ich weiß aber um deine diesbezügliche Kompetenz. Ich werde aber schauen, wie wertschätzend die Lösungsvorschläge sein werden. Ich werde auch schauen, inwieweit die Meinungsvielfalt erhalten bleiben wird. Eigene Betrachtungen dazu werde ich allerdings wohl kaum anstellen.

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