Geißelt euch doch lieber selbst, aber lasst mich damit in Ruhe

„Mea culpa! Mea culpa! Mea culpa! Schuld bin ich immer zuerst selbst und dann vielleicht auch mal die anderen.“ Mir geht dieses Denken, dieser Zwang, denken zu sollen, gewaltig gegen den Strich seit einiger Zeit.

Ich schrieb über Individualismus, sehr ausführlich, vielleicht sogar viel zu ausführlich. Ich schrieb dieser Tage über Solidarität, beklagte den Missbrauch dieses hehren Tuns. Leon schrieb über die Mitschuld der Hetzer und Hater an der Gewalt, deren „Solidarität“ mit den Gewalttätern, nicht mit den Opfern, wies zurecht auf die Zusammenhänge und Tendenzen zu noch mehr Gewalt hin, auch weil wir uns schuldig machen, wenn wir es hinnehmen und nicht dagegen aufstehen. Tina schrieb einen wichtigen und richtigen, wieder einmal sehr bemerkenswerten Beitrag über die Bequemlichkeit, der wir ihrer Meinung nach verfallen sind, weshalb wir die Hetzer und Hater anscheinend auch hinnehmen. Sie lobte die Jugend (besser gesagt die politisch aktiven Teile von dieser Jugend) und hielt uns zur Selbstreflexion an, um endlich in Aktion zu kommen. Sie fand viel Zustimmung, auch die meine, weil Selbstreflexion immer Sinn ergibt, wenn es darum geht, über sich selbst mehr Klarheit zu gewinnen. Allerdings war und ist meine Zustimmung eingeschränkt, wie ich zugeben muss. Denn Selbstreflexion, die bei dieser stehen bleibt, oft dann zur Selbstgeißelung wird, die dann Handlungen verhindert oder sie nur in die Richtung des eigenen Selbst ermöglicht, lehne ich ab, halte ich sogar für gefährlich.

Ich habe keine Lust mehr …

… als Individuum in die Pflicht genommen zu werden, solange jedenfalls nicht, wie die, die das verursacht haben, für das ich nun geradestehen soll, nicht in die Pflicht genommen werden. Schon gar nicht habe ich die Lust dazu, mich immer selbst in die Pflicht zu nehmen und andere damit aus der Pflicht zu entlassen. Ich habe nämlich keine Lust mehr, mein Verhalten permanent selbst zu reflektieren, wenn gleichzeitig das Verhalten derer sich nicht ändert, welches viel bedeutsamer für die Verwerfungen sind als mein kleines bisschen Ich.

Ich habe keine Lust mehr, mir Vorhaltungen machen zu lassen, schon gar nicht von denen, die selbst viel weniger bisher getan haben, um im Einklang mit Natur und Gesellschaft zu leben, als ich, als meine Lieben um mich herum. Schon gar keine Lust verspüre ich, denen zu „gehorchen“, die an anderen Stellen unreflektiert das Leben anderer immer schlimmer haben werden lassen, dies sogar als ökonomisch unausweichlich ansahen und ansehen, zur Reflexion selbst noch nie gegriffen haben.

Kurzum: Ich habe keine Lust mehr, ständig unter der Tätervermutung zu stehen, wenn gleichzeitig die wahren Täter anscheinend machen können, was sie wollen, dafür nicht zur Rechenschaft gezogen werden, oft sogar dafür, meist sogar dafür, belohnt werden.

Macht ihr, was ihr wollt, geißelt euch von mir aus

Ich werde weiterhin reflektieren, aber nicht ausschließlich und nicht ständig – und vor allem, ohne mich zu geißeln. Ich werde derweil weiterhin so leben wie bisher: bescheiden im Konsum und hilfreich dort, wo meine Hilfe erwünscht ist, nicht nur gebraucht wird. Auf keinen Fall lass ich mir ein schlechtes Gewissen einreden, von niemandem, von Politikern schon gar nicht. Auf das „mea culpa“ verzichte ich gern.

Ich werde nicht bequem, sondern tun …

… ganz so, wie es Tina eigentlich fordert, nämlich nicht im „mea culpa“. Ich werde weiterhin darauf hinweisen, dass der Individualismus als Ideologie „tödlich“ für die Gesellschaft sein könnte, dass der Materialismus, der uns alle fest im Griff zu haben scheint, kein Problem des Kapitalismus allein ist, ja dass der Kapitalismus nur wieder einmal missbraucht wird, so wie auch der Sozialismus missbraucht worden war, von immer wieder dem gleichen Typ Mensch nämlich. Von Menschen, die am Ende nur ihr eigenes Wohlergehen im Auge haben, denen Gesellschaft zu dienen hat, aber die der Gesellschaft nicht dienen wollen, die unter Gesellschaft nur eine Summe von Menschen sieht, die man benutzen, ausnutzen kann, dieses Mal durch den Individualismus teilen und immer über materielle und immatierielle Güter beherrschen kann.

Also bitte, geißelt euch, geht euren Selbstzweifeln nach, suhlt euch von mir aus in diesen, aber bitte lasst mich da raus. Ich habe Besseres zu tun!

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Heinz

Jahrgang 1958, am Leben interessiert, auch an dem anderer Menschen, von Rückschlägen geprägt. Nach diversen Tätigkeiten im Außendienst für mehrere Finanzdienstleister und zuletzt als Lehrkraft auf der Suche nach einer neuen Herausforderung. Ökonomie und Gesellschaft, den Kapitalismus in all seinen Formen zu verstehen und seit Jahren zu erklären ist meine Motivation. Denn ich glaube, nur wer versteht, wird auch Mittel finden, die Welt zu einer besseren Welt zu machen. Leid und Elend haben ihre Ursache im Unverständnis.

Ein Gedanke zu „Geißelt euch doch lieber selbst, aber lasst mich damit in Ruhe“

  1. Ein sehr lesenswerter Artikel, Heinz, der auch auf anderes, hier geschriebenes, Bezug nimmt und inhaltlich gut einbindet. Vielen Dank dafür. Wie für viele andere Themen des Lebens, gilt wohl auch hier, das richtige Maß für sich zu finden. Vielleicht sollte auch ich mir öfter die Frage stellen „Suhlst du noch oder lebst du schon?“ ;-)

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