Was in Vietnam anders läuft als hier

Vorhin habe ich die Kolumne von Vanessa Vu auf Zeit Online gelesen, in der sie schildert, wie es zurzeit gerade in Vietnam in Bezug auf Corona aussieht. Und das dürfte für die meisten Menschen hierzulande dann schon recht überraschend sein: Seit über 80 Tagen hat sich im Land selbst niemand mehr mit dem Virus infiziert, einzig Einreisende, die anscheinend alle getestet und erst mal in Quarantäne gesteckt werden, haben ab und an noch Covid-19-positive Testergebnisse. Die Menschen treffen sich wieder ganz normal, das Nachtleben geht seinen Gang, und von Anfang an gab es in Vietnam deutlich weniger Infektionen als in Deutschland.

Dabei sind die Ländern zumindest von der Bevölkerungsgröße und Fläche her durchaus ähnlich, wobei Vietnam noch ein bisschen dichter besiedelt ist. Und so stellt sich auch Vanessa Vu die Frage, warum denn in unserem so technisierten, industrialisierten und hoch entwickelten Land die Pandemie wesentlich schwerer in den Griff zu bekommen ist als im Schwellenland Vietnam.

Als ich dann ihre Antwort auf diese Frage gelesen habe, fühlte ich mich schon ein bisschen in dem bestätigt, was ich seit Beginn der Corona-Pandemie immer wieder geschrieben habe: Wir leben hier in Deutschland zum einen in einer entsolidarisierten Gesellschaft, in der die Menschen zum Egoismus erzogen (oder indoktriniert) wurden und werden (s. hier und hier), zum anderen haben wir Politiker, die m. E. eben (was immer offensichtlicher zutage tritt) nicht in erster Linie die Gesundheit der Bevölkerung schützen, sondern ihre eigene Agenda verschärft durchsetzen wollen, von der sie selbst und diejenigen, die schon seit Jahren Nutznießer der neoliberalen Politik sind, profitieren (s. hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier und hier).

Gern hätte ich mich diesbezüglich übrigens geirrt, da ich ja eher zu einer pessimistischen Sichtweise neige …

In Vietnam jedenfalls (und auch in anderen ostasiatischen Ländern wie Japan, Taiwan und Südkorea) scheint das nun ein bisschen anders abzulaufen, wenn man sich durchliest, was Vanessa Vu nun dazu schreibt:

Demnach schafften es die Regierungen dort, mit schnellem Handeln und transparenter Kommunikation früh Vertrauen herzustellen und dadurch die Bevölkerung mitzuziehen. In Deutschland hingegen wirken Bund und Länder nach einem halben Jahr immer noch so zerstritten und zerstreut, dass es kurz vor dem nächsten Gipfel im besten Fall nur um Konsensfindung ging, im schlechtesten Fall um reine Selbstprofilierung – nicht aber um den effizientesten Schutz der eigenen Bevölkerung.

[…]

Bei allem Verständnis für Menschen, die nicht im Homeoffice arbeiten können oder nur außerhalb ihres Haushalts Bezugspersonen haben und brauchen: Es gibt darüber hinaus genug Menschen, die sich einfach nicht einschränken wollen, selbst wenn sie es könnten oder es ihnen erleichtert werden würde.

[…]

Deutschland, das kann man im Vergleich zu deutlich ärmeren Ländern sagen, hat sich einfach an den Wohlstand und eine damit einhergehende Bequemlichkeit gewöhnt. Die Nudelsuppen-Verkäuferin in Vietnam oder der Fabrikarbeiter in Taiwan haben es auch nicht leicht. Dennoch reißen sie sich zusammen und tragen ihren Teil dazu bei, die Gemeinschaft gesund und die Pandemie kurz zu halten.

Dabei ist Vanessa Vu weit davon entfernt, das politische System in Vietnam zu idealisieren, denn Demokratiedefizite gibt es dort auch einige. Allerdings ist es ja nun bei uns auch nicht so, dass das „Krisenmanagement“ mit dem Durchregieren der Exekutive unter Ausschluss von Parlamenten und Ignorieren von Gerichtsurteilen (und damit quasi dem Aufheben der Gewaltenteilung) ein Muster an Vorzeigedemokratie ist. Genauso wie der Ausbau von Überwachungsmaßnahmen sowohl auf nationaler als auch EU-Ebene, der nun u. a. im Zuge der Corona-Pandemie erfolgt, eher Parallelen zu China aufweist, als einen besonders demokratischen und rechtsstaatlichen Geist zu atmen.

Ein Virus zeigt die Untauglichkeit des neoliberalen Systems auf – auch das schrieb ich schon im März dieses Jahres, und wenn man sieht, wie anderswo die Pandemie deutlich besser in den Griff bekommen wird, dann bewahrheitet sich auch dies.

Dabei – und darauf kann man gar nicht oft genug hinweisen – hat unsere Bundesregierung ja eine „Bedienungsanleitung“ für dieses Pandemieszenario zur Hand gehabt, und das auch noch im eigenen Archiv, nämlich die Risikoanalyse „Pandemie durch Virus Modi-SARS“ von Ende 2012/Anfang 2013, die seitdem als Drucksache auf der Website des Bundestages zu finden ist. Hätte man nur mal reinschauen müssen – oder (was ich für wahrscheinlicher halte) man hat dort reingeschaut und dann trotzdem so gehandelt, als hätte man von Tuten und Blasen keine Ahnung und wäre vollkommen überrascht von dieser Viruspandemie.

Vanessa Vu spricht auch die Arroganz an, die vielen Hiesigen bei einem Blick auf Länder wie Vietnam zu eigen ist. Und das steht dann natürlich einem Lernprozess im Wege, wenn man meint, dass man sowieso alles besser weiß, und gern den Lehrmeister für andere gibt (leider eine sehr verbreitete deutsche Tugend). Wobei ich hier eher die Untertanen meine (zumeist alte weiße Männer, zumindest im Geiste), die zurzeit überall Laut geben und jede Kritik am Regierungshandeln zu diffamieren versuchen, denn denen ist ja eine Überheblichkeit anderen gegenüber ohnehin sehr zu eigen. Das politisch administrative Personal hingegen dürfte teilweise auch von derartiger Arroganz geleitet sein, teilweise aber eben auch von einem streng ideologischen Denken, das diese Pandemie vor allem als Gelegenheit zur Umsetzung der eigenen Agenda und Klientelpolitik sieht.

Denn wozu soll man auch etwas vom vietnamesischen Weg der Pandemieeindämmung lernen wollen, wenn es gerade für einen selbst und seine „Buddies“ so exzellent läuft?

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Karl

Jahrgang 1969, ist nach einem Lehramtsstudium und diversen beruflichen Tätigkeiten seit 2002 freiberuflicher Lektor (Auf den Punkt). Nach vielen Jahren in Hamburg, lebt er nun seit November 2019 in Rendsburg. Neben dem Interesse für politische Themen ist er ein absoluter Musikfreak und hört den ganzen Tag Tonträger. An den Wochenenden ist er bevorzugt in Norgaardholz an der Ostsee und genießt dort die Natur.

Ein Gedanke zu „Was in Vietnam anders läuft als hier“

  1. Aus einer ganz anderen Ecke, nämlich aus der eines Unternehmensberaters, wird ebenfalls die Ignoranz des Westens gegenüber Ostasien kritisiert, nämlich in eine Gastartikel von Björn Ognibeni für das Handelsblatt.

    Was mir dabei dann allerdings schon ein bisschen aufstößt, ist seine Fixiertheit auf China und auf deren digitale „Innovationen“. Diese dienen ja immer offensichtlicher dazu, den vollkommen gläsernen Bürger zu schaffen, sodass ich finde, dass man gerade in dem Bereich doch lieber etwas sorgfältiger als zu unkritisch hinschauen sollte.

    Aber klar: Was gerade in China passiert, ist natürlich der feuchte Traum aller Markt-Junkies. Also: Augen auf beim Eierkauf.

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